Das Hörspiel zum deutschen Kino-Ereignis im Herbst 2008 - mit Nina Hoss, August Diehl und vielen anderen "Auf den heutigen Leser wirkt das Tagebuch so, als habe gerade der Schutz der Anonymität der Autorin gestattet, derart schonungslos über das eigene Schicksal und das ihrer Zufallsgefährtinnen und - gefährten zu berichten. Ein menschlich berührendes und literarisch gewichtiges Dokument aus den letzten Tagen des Krieges."Joachim Kronsbein, Der Spiegel "Man möchte nicht aufhören, dieses Buch zu loben und für seine Lektüre zu werben."Hanna Leitgeb, Literaturen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2019Die Geschichte der Anonyma
Quellenkritik eines verspäteten Bestsellers: "Eine Frau in Berlin", Chronik der totalen Niederlage in Gestalt eines Tagebuchs, ist zu größeren Teilen erst nach 1945 verfasst worden.
Am 20. März 1960 schrieb Kurt W. Marek, unter dem Pseudonym C. W. Ceram Autor des Sachbuchbestsellers "Götter, Gräber und Gelehrte", einen Brief mit literarischen Ratschlägen an seine Freundin Marta Hillers. Marek lebte im Bundesstaat New York, Hillers mit ihrem Schweizer Ehemann, einem Goldschmied, in Basel. 1954 war auf Vermittlung Mareks und mit einem Vorwort aus seiner Feder in den Vereinigten Staaten das Buch "A Woman in Berlin" erschienen, ein Erlebnisbericht in Tagebuchform über die Wochen um den 8. Mai 1945. Außerhalb Deutschlands wurde das Buch ein Bestseller. Von der deutschen Erstausgabe, die in einem kleinen Genfer Verlag ohne Mareks Vorwort herauskam, wurden im Erscheinungsjahr 1959 nur 735 Exemplare verkauft. Die Tantiemen für die Autorschaft flossen an Marta Hillers, bei den ausländischen Ausgaben abzüglich eines Anteils von zehn Prozent für Marek. Im Buch blieb die Autorin namenlos, englisch "Anonymous" , deutsch "Anonyma".
1960 trug sich Hillers mit neuen literarischen Plänen. Marek forderte sie auf, sich von den Kritiken der deutschen Ausgabe nicht irritieren zu lassen. "Ein gutes Buch braucht schlechte Kritiken. Ein schlechtes Buch kriegt nicht einmal schlechte Kritiken." Paradoxerweise sah der Profi Marek ein Handicap darin, dass ihr das Schreiben "zu leicht" falle. "Du bist immer an der Grenze der Schnoddrigkeit." Aber in der modernen Literatur gab es Beispiele für die Nobilitierung der Vulgarität im Dienst der "schonungslosen Beschreibung". Marek griff so hoch wie möglich. "Lies noch einmal Stücke aus dem Ulysses von Joyce. Dort kannst Du ahnen, wie weit Du gehen kannst."
In einem Postskriptum berichtete Marek, dass er in New York einen "höchst angenehmen Mann" kennengelernt habe, den englischen Verleger von "A Woman in Berlin", Fredric Warburg. "Sonderbarerweise" habe er diesem "tatsächlich versichern" müssen, dass es sich "wirklich um ein authentisches Tagebuch handelt". Der Engländer "hatte Zweifel". Drei Punkte stehen am Schluss dieser Mitteilung. Mehr musste nicht gesagt werden. Autor und Empfängerin des Briefes wussten, was es wirklich mit dem Buch auf sich hatte. Sie teilten dieses Wissen miteinander und hielten es vor der Welt geheim.
Der Verlag Secker & Warburg hatte Karl Dietschy, dem Ehemann von Hillers, der für sie die Geschäftskorrespondenz führte, im Frühjahr 1959 mitgeteilt, dass "A Woman in Berlin" einer der erfolgreichsten Titel der Firmengeschichte sei. Bis dahin waren von der englischen Ausgabe 210 000 Stück abgesetzt worden. Fredric Warburg war der Verleger von George Orwell. Worauf bezogen sich seine Zweifel? In welchem Sinne könnte das Buch kein authentisches Tagebuch sein? Zweifelte Warburg daran, dass es auf Erlebtem beruhte? Oder bezweifelte er, dass es sich um ein Tagebuch im Sinne der mehr oder weniger gleichzeitigen Niederschrift des Erlebten handelt?
Die Authentizität wurde Thema einer heftigen Kontroverse, als "Eine Frau in Berlin" 2003, zwei Jahre nach dem Tod von Marta Hillers, in einer neuen deutschen Ausgabe erschien, in der "Anderen Bibliothek" von Hans Magnus Enzensberger. In dieser Gestalt wurde das Buch mit einem halben Jahrhundert Verspätung auch in Deutschland ein Bestseller. Hillers hatte die postume Neuausgabe autorisiert; die Erbin des Urheberrechts, Hannelore Marek, die Witwe des 1972 verstorbenen Kurt Marek, bestand darauf, dass der Eichborn Verlag die Anonymität wahrte. Jens Bisky, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", fand die Identität der Verfasserin heraus und machte sie publik. Zur Biographie von Hillers teilte Bisky mit, dass sie im Hitler-Reich als Journalistin gearbeitet und Kriegspropaganda produziert hatte. Er machte auf literarische Eigenheiten des Textes aufmerksam, die für eine spätere Entstehung oder Überarbeitung sprachen, insbesondere die filmhafte Erzählweise, und äußerte die Vermutung, dass Marek am Text mitgeschrieben habe oder sogar Ghostwriter gewesen sei.
Der Verlag bestellte ein Gutachten bei Walter Kempowski, der als Sammler, Herausgeber und Monteur von Tagebuchtexten aus dem Zweiten Weltkrieg als kompetent galt. Kempowski ließ sich die Urschrift des Tagebuchs, drei Schreibhefte, und eine mit Schreibmaschine erstellte Abschrift vorlegen und stellte durch Stichproben fest, dass diese Textzeugen sich so verhalten, wie es das (in absurder Konsequenz ebenfalls anonyme) Vorwort der Eichborn-Ausgabe darstellte: Die Notate waren in eine flüssigere Form gebracht worden. Auf Nachfrage gab Kempowski an, für seine Echtheitsbescheinigung kein Honorar erhalten zu haben. "Ich hatte die Hoffnung, man würde mir die Tagebücher für mein Archiv überlassen. Aber nicht einmal eine Fotokopie wollte man mir gönnen. Vielleicht kommt das ja noch."
Es kam nicht mehr. Hannelore Marek verfügte vor ihrem Tod, wohl eine Instruktion Marta Hillers' befolgend, dass deren auf "Eine Frau in Berlin" bezogener Teilnachlass in die Obhut des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München gelangen solle, dem ihr Sohn die Dokumente im Jahre 2016 übergeben hat. Yuliya von Saal, wissenschaftliche Mitarbeiterin im IfZ und Expertin für russische Geschichte, legt nun im Juliheft der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" eine quellenkritische Untersuchung vor. Das Ergebnis: Der Untertitel der 2015 im neuen Verlag der Anderen Bibliothek noch einmal aufgelegten Enzensberger-Ausgabe, "Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945", ist irreführend. Der größere Teil des Textes ist erst nach 1945 entstanden, steht jedenfalls nicht in dem angeblich im Sommer 1945 angefertigten Typoskript.
Der Gutachter Kempowski, dem Frau Marek und ein Eichborn-Lektor Manuskript und Typoskript zeigten, sieht nun ähnlich naiv aus wie der weltberühmte Historiker Hugh Trevor-Roper, der die Hitler-Tagebücher für echt erklärte, nachdem er sie in einer Zürcher Bank durchgeblättert hatte. Die offensichtliche Frage stellte Kempowski, Autor etlicher dickleibiger Bestseller, nicht: Wie konnte aus einem Konvolut von 121 Schreibmaschinenseiten ein Buch von 300 Druckseiten werden? Von Saal hat gezählt: Das Typoskript umfasst 49 610 Wörter, das Buch 91 120. "Vergleicht man Buch und Original, sind nur noch circa 35 Prozent des publizierten Texts als authentisch zu bewerten."
Eine Mitautorschaft Mareks hält von Saal für äußerst unwahrscheinlich. Diese Einschätzung ist gut begründet, steht allerdings unter dem Vorbehalt der Quellenlage. Es muss ein Typoskript für den amerikanischen Übersetzer gegeben haben. Eine Durchschrift enthält der Münchner Nachlass nicht. Hannelore Marek, deren Vermächtnis die Erforschung der Textgenese möglich macht, hat die Öffentlichkeit zu Lebzeiten über entscheidende Fakten getäuscht, insoweit die Arbeit ihres Mannes fortsetzend, dessen Beschreibung der Manuskripte im Nachwort voller Erfindungen (Geheimschrift) steckt. Auf Frau Mareks Angaben beruhte die auch in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 25. September 2003) wiedergegebene Auskunft des Verlags, das Typoskript von 1945 sei bis auf Kleinigkeiten mit dem Buch identisch.
Yuliya von Saal nimmt an, dass Hillers die spätere Buchfassung um 1950 fertigstellte. Ihre nach München gegebene Korrespondenz mit Marek setzt erst 1952 ein. Abwegig nannte der Herausgeber Enzensberger 2003 "die Idee, dass hinter einer solchen Publikation in den fünfziger Jahren eine verlegerische Spekulation stehen könnte". Das war nicht die einzige grotesk abwegige Einlassung Enzensbergers zur Sache. Im Briefwechsel von Marek und Hillers, aus dem in einer kleinen Ausstellung im IfZ jetzt mehrere Stücke gezeigt werden, geht es durchgehend um solche Spekulationen. Der abgebrühte Sound der Buchgeschäftsfreunde ist eine interessante Variante des neusachlichen, unheimlich ungerührten Tons, mit dem die Anonyma die Leser ihres Protokolls eines Alltags unter dem Gesetz der ständigen Vergewaltigung in den Bann schlug.
In München erörterte von Saal ihre Ergebnisse vorgestern im Gespräch mit der Zürcher Historikerin Svenja Goltermann, die 2017 das Buch "Opfer" veröffentlichte, und dem "Spiegel"-Redakteur Martin Doerry, dessen Edition der Briefe seiner Großmutter Lilli Jahn ein Bestseller wurde. Es bestand Einigkeit darüber, dass die historische Aussagekraft des Buches eher noch zunimmt, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt, dass der Text selbst eine Geschichte hat. Was den Kern des Berichts angeht, so hat die New Yorker Historikerin Atina Grossmann geltend gemacht, dass das offene, drastische Reden über erlittene sexuelle Gewalt durchaus typisch für die Berlinerinnen von 1945 war.
Die Leserinnen und Leser von 2003 bezauberte, dass die Tagebuchschreiberin diese Haltung in eine fertige Philosophie der souveränen Ergebenheit übersetzt. Nach dem Befund von Saals sind aber die "Reflexionen über das deutsche Leid, den Zusammenbruch der Zivilisation und die Sinnlosigkeit der Technik im zerbombten Berlin, über die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers" wie über Sexualität und Nationalsozialismus "nicht authentisch", sondern spätere Zusätze. Es war eine Selbsttäuschung, dass die Kritik dieses Buch für einen Text der Art der Tagebücher von Victor Klemperer hielt. Yuliya von Saal belegt "die dramaturgische Aufladung einzelner Szenen mit fiktiven Elementen, die zu filmskriptartig wirken".
Am Ende des Krieges stehe "auch die Niederlage der Männer als Geschlecht", mit der "männerbeherrschten Naziwelt" stürze "der Mythos ,Mann'": Warum wollte man unbedingt glauben, dass die Namenlose ihre Erfahrung schon auf diese allgemeine Formel gebracht hatte, als sie noch in der Gewalt der sowjetischen Männer war? Von der Niederschrift einer Selbsttherapie sprach eine Rezension - mit der Pointe, dass die Therapie gleichzeitig mit der Verletzung gewesen sein soll. So beglaubigte das Buch von 1959 im Jahre 2003 eine Phantasie von der heilenden, ermächtigenden Kraft weiblichen Schreibens.
Das Institut für Zeitgeschichte ist befugt, eine kritische Ausgabe von "Eine Frau in Berlin" zu veranstalten. Welcher Verlag wird als erster in München anrufen? Der nicht länger namenlosen Autorin steht ihre Karriere als Schriftstellerin vielleicht erst bevor.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Quellenkritik eines verspäteten Bestsellers: "Eine Frau in Berlin", Chronik der totalen Niederlage in Gestalt eines Tagebuchs, ist zu größeren Teilen erst nach 1945 verfasst worden.
Am 20. März 1960 schrieb Kurt W. Marek, unter dem Pseudonym C. W. Ceram Autor des Sachbuchbestsellers "Götter, Gräber und Gelehrte", einen Brief mit literarischen Ratschlägen an seine Freundin Marta Hillers. Marek lebte im Bundesstaat New York, Hillers mit ihrem Schweizer Ehemann, einem Goldschmied, in Basel. 1954 war auf Vermittlung Mareks und mit einem Vorwort aus seiner Feder in den Vereinigten Staaten das Buch "A Woman in Berlin" erschienen, ein Erlebnisbericht in Tagebuchform über die Wochen um den 8. Mai 1945. Außerhalb Deutschlands wurde das Buch ein Bestseller. Von der deutschen Erstausgabe, die in einem kleinen Genfer Verlag ohne Mareks Vorwort herauskam, wurden im Erscheinungsjahr 1959 nur 735 Exemplare verkauft. Die Tantiemen für die Autorschaft flossen an Marta Hillers, bei den ausländischen Ausgaben abzüglich eines Anteils von zehn Prozent für Marek. Im Buch blieb die Autorin namenlos, englisch "Anonymous" , deutsch "Anonyma".
1960 trug sich Hillers mit neuen literarischen Plänen. Marek forderte sie auf, sich von den Kritiken der deutschen Ausgabe nicht irritieren zu lassen. "Ein gutes Buch braucht schlechte Kritiken. Ein schlechtes Buch kriegt nicht einmal schlechte Kritiken." Paradoxerweise sah der Profi Marek ein Handicap darin, dass ihr das Schreiben "zu leicht" falle. "Du bist immer an der Grenze der Schnoddrigkeit." Aber in der modernen Literatur gab es Beispiele für die Nobilitierung der Vulgarität im Dienst der "schonungslosen Beschreibung". Marek griff so hoch wie möglich. "Lies noch einmal Stücke aus dem Ulysses von Joyce. Dort kannst Du ahnen, wie weit Du gehen kannst."
In einem Postskriptum berichtete Marek, dass er in New York einen "höchst angenehmen Mann" kennengelernt habe, den englischen Verleger von "A Woman in Berlin", Fredric Warburg. "Sonderbarerweise" habe er diesem "tatsächlich versichern" müssen, dass es sich "wirklich um ein authentisches Tagebuch handelt". Der Engländer "hatte Zweifel". Drei Punkte stehen am Schluss dieser Mitteilung. Mehr musste nicht gesagt werden. Autor und Empfängerin des Briefes wussten, was es wirklich mit dem Buch auf sich hatte. Sie teilten dieses Wissen miteinander und hielten es vor der Welt geheim.
Der Verlag Secker & Warburg hatte Karl Dietschy, dem Ehemann von Hillers, der für sie die Geschäftskorrespondenz führte, im Frühjahr 1959 mitgeteilt, dass "A Woman in Berlin" einer der erfolgreichsten Titel der Firmengeschichte sei. Bis dahin waren von der englischen Ausgabe 210 000 Stück abgesetzt worden. Fredric Warburg war der Verleger von George Orwell. Worauf bezogen sich seine Zweifel? In welchem Sinne könnte das Buch kein authentisches Tagebuch sein? Zweifelte Warburg daran, dass es auf Erlebtem beruhte? Oder bezweifelte er, dass es sich um ein Tagebuch im Sinne der mehr oder weniger gleichzeitigen Niederschrift des Erlebten handelt?
Die Authentizität wurde Thema einer heftigen Kontroverse, als "Eine Frau in Berlin" 2003, zwei Jahre nach dem Tod von Marta Hillers, in einer neuen deutschen Ausgabe erschien, in der "Anderen Bibliothek" von Hans Magnus Enzensberger. In dieser Gestalt wurde das Buch mit einem halben Jahrhundert Verspätung auch in Deutschland ein Bestseller. Hillers hatte die postume Neuausgabe autorisiert; die Erbin des Urheberrechts, Hannelore Marek, die Witwe des 1972 verstorbenen Kurt Marek, bestand darauf, dass der Eichborn Verlag die Anonymität wahrte. Jens Bisky, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", fand die Identität der Verfasserin heraus und machte sie publik. Zur Biographie von Hillers teilte Bisky mit, dass sie im Hitler-Reich als Journalistin gearbeitet und Kriegspropaganda produziert hatte. Er machte auf literarische Eigenheiten des Textes aufmerksam, die für eine spätere Entstehung oder Überarbeitung sprachen, insbesondere die filmhafte Erzählweise, und äußerte die Vermutung, dass Marek am Text mitgeschrieben habe oder sogar Ghostwriter gewesen sei.
Der Verlag bestellte ein Gutachten bei Walter Kempowski, der als Sammler, Herausgeber und Monteur von Tagebuchtexten aus dem Zweiten Weltkrieg als kompetent galt. Kempowski ließ sich die Urschrift des Tagebuchs, drei Schreibhefte, und eine mit Schreibmaschine erstellte Abschrift vorlegen und stellte durch Stichproben fest, dass diese Textzeugen sich so verhalten, wie es das (in absurder Konsequenz ebenfalls anonyme) Vorwort der Eichborn-Ausgabe darstellte: Die Notate waren in eine flüssigere Form gebracht worden. Auf Nachfrage gab Kempowski an, für seine Echtheitsbescheinigung kein Honorar erhalten zu haben. "Ich hatte die Hoffnung, man würde mir die Tagebücher für mein Archiv überlassen. Aber nicht einmal eine Fotokopie wollte man mir gönnen. Vielleicht kommt das ja noch."
Es kam nicht mehr. Hannelore Marek verfügte vor ihrem Tod, wohl eine Instruktion Marta Hillers' befolgend, dass deren auf "Eine Frau in Berlin" bezogener Teilnachlass in die Obhut des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München gelangen solle, dem ihr Sohn die Dokumente im Jahre 2016 übergeben hat. Yuliya von Saal, wissenschaftliche Mitarbeiterin im IfZ und Expertin für russische Geschichte, legt nun im Juliheft der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" eine quellenkritische Untersuchung vor. Das Ergebnis: Der Untertitel der 2015 im neuen Verlag der Anderen Bibliothek noch einmal aufgelegten Enzensberger-Ausgabe, "Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945", ist irreführend. Der größere Teil des Textes ist erst nach 1945 entstanden, steht jedenfalls nicht in dem angeblich im Sommer 1945 angefertigten Typoskript.
Der Gutachter Kempowski, dem Frau Marek und ein Eichborn-Lektor Manuskript und Typoskript zeigten, sieht nun ähnlich naiv aus wie der weltberühmte Historiker Hugh Trevor-Roper, der die Hitler-Tagebücher für echt erklärte, nachdem er sie in einer Zürcher Bank durchgeblättert hatte. Die offensichtliche Frage stellte Kempowski, Autor etlicher dickleibiger Bestseller, nicht: Wie konnte aus einem Konvolut von 121 Schreibmaschinenseiten ein Buch von 300 Druckseiten werden? Von Saal hat gezählt: Das Typoskript umfasst 49 610 Wörter, das Buch 91 120. "Vergleicht man Buch und Original, sind nur noch circa 35 Prozent des publizierten Texts als authentisch zu bewerten."
Eine Mitautorschaft Mareks hält von Saal für äußerst unwahrscheinlich. Diese Einschätzung ist gut begründet, steht allerdings unter dem Vorbehalt der Quellenlage. Es muss ein Typoskript für den amerikanischen Übersetzer gegeben haben. Eine Durchschrift enthält der Münchner Nachlass nicht. Hannelore Marek, deren Vermächtnis die Erforschung der Textgenese möglich macht, hat die Öffentlichkeit zu Lebzeiten über entscheidende Fakten getäuscht, insoweit die Arbeit ihres Mannes fortsetzend, dessen Beschreibung der Manuskripte im Nachwort voller Erfindungen (Geheimschrift) steckt. Auf Frau Mareks Angaben beruhte die auch in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 25. September 2003) wiedergegebene Auskunft des Verlags, das Typoskript von 1945 sei bis auf Kleinigkeiten mit dem Buch identisch.
Yuliya von Saal nimmt an, dass Hillers die spätere Buchfassung um 1950 fertigstellte. Ihre nach München gegebene Korrespondenz mit Marek setzt erst 1952 ein. Abwegig nannte der Herausgeber Enzensberger 2003 "die Idee, dass hinter einer solchen Publikation in den fünfziger Jahren eine verlegerische Spekulation stehen könnte". Das war nicht die einzige grotesk abwegige Einlassung Enzensbergers zur Sache. Im Briefwechsel von Marek und Hillers, aus dem in einer kleinen Ausstellung im IfZ jetzt mehrere Stücke gezeigt werden, geht es durchgehend um solche Spekulationen. Der abgebrühte Sound der Buchgeschäftsfreunde ist eine interessante Variante des neusachlichen, unheimlich ungerührten Tons, mit dem die Anonyma die Leser ihres Protokolls eines Alltags unter dem Gesetz der ständigen Vergewaltigung in den Bann schlug.
In München erörterte von Saal ihre Ergebnisse vorgestern im Gespräch mit der Zürcher Historikerin Svenja Goltermann, die 2017 das Buch "Opfer" veröffentlichte, und dem "Spiegel"-Redakteur Martin Doerry, dessen Edition der Briefe seiner Großmutter Lilli Jahn ein Bestseller wurde. Es bestand Einigkeit darüber, dass die historische Aussagekraft des Buches eher noch zunimmt, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt, dass der Text selbst eine Geschichte hat. Was den Kern des Berichts angeht, so hat die New Yorker Historikerin Atina Grossmann geltend gemacht, dass das offene, drastische Reden über erlittene sexuelle Gewalt durchaus typisch für die Berlinerinnen von 1945 war.
Die Leserinnen und Leser von 2003 bezauberte, dass die Tagebuchschreiberin diese Haltung in eine fertige Philosophie der souveränen Ergebenheit übersetzt. Nach dem Befund von Saals sind aber die "Reflexionen über das deutsche Leid, den Zusammenbruch der Zivilisation und die Sinnlosigkeit der Technik im zerbombten Berlin, über die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers" wie über Sexualität und Nationalsozialismus "nicht authentisch", sondern spätere Zusätze. Es war eine Selbsttäuschung, dass die Kritik dieses Buch für einen Text der Art der Tagebücher von Victor Klemperer hielt. Yuliya von Saal belegt "die dramaturgische Aufladung einzelner Szenen mit fiktiven Elementen, die zu filmskriptartig wirken".
Am Ende des Krieges stehe "auch die Niederlage der Männer als Geschlecht", mit der "männerbeherrschten Naziwelt" stürze "der Mythos ,Mann'": Warum wollte man unbedingt glauben, dass die Namenlose ihre Erfahrung schon auf diese allgemeine Formel gebracht hatte, als sie noch in der Gewalt der sowjetischen Männer war? Von der Niederschrift einer Selbsttherapie sprach eine Rezension - mit der Pointe, dass die Therapie gleichzeitig mit der Verletzung gewesen sein soll. So beglaubigte das Buch von 1959 im Jahre 2003 eine Phantasie von der heilenden, ermächtigenden Kraft weiblichen Schreibens.
Das Institut für Zeitgeschichte ist befugt, eine kritische Ausgabe von "Eine Frau in Berlin" zu veranstalten. Welcher Verlag wird als erster in München anrufen? Der nicht länger namenlosen Autorin steht ihre Karriere als Schriftstellerin vielleicht erst bevor.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main