Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 5,49 €
  • Audio CD

Berlin - Auf der Suche nach dem Glück streifen die unterschiedlichsten Menschen durch die Stadt, begegnen sich, kommen einander nah und entfernen sich wieder voneinander.
Vincent ist Callboy, aber an Weihnachten sitzt er alleine in der Kneipe. Als die dichtmacht, lässt er sich zu Hause ein Bad ein. Beim Einsteigen wird er von einer Einbrecherin überrascht. Die beiden freunden sich an. Helmut Kraussers neuer Roman bringt zusammen, was nicht zusammengehört: Ein Kind wird entführt, eine mitternächtliche Hochzeit improvisiert, ein Gotchaschuss erkauft, der Prophet Jesaja predigt auf dem…mehr

Produktbeschreibung
Berlin - Auf der Suche nach dem Glück streifen die unterschiedlichsten Menschen durch die Stadt, begegnen sich, kommen einander nah und entfernen sich wieder voneinander.
Vincent ist Callboy, aber an Weihnachten sitzt er alleine in der Kneipe. Als die dichtmacht, lässt er sich zu Hause ein Bad ein. Beim Einsteigen wird er von einer Einbrecherin überrascht. Die beiden freunden sich an. Helmut Kraussers neuer Roman bringt zusammen, was nicht zusammengehört: Ein Kind wird entführt, eine mitternächtliche Hochzeit improvisiert, ein Gotchaschuss erkauft, der Prophet Jesaja predigt auf dem Kreuzberg - und alles ist auf ungeahnte Weise miteinander verknüpft. "Einsamkeit und Sex und Mitleid" spielt auf der Klaviatur des scheinbaren Zufalls, mischt Melodram, Ironie, Suspense und Lakonik zu einem bizarren Panorama zu einem überwältigenden Kaleidoskop des Lebens.
Autorenporträt
Helmut Krausser, geb. 1964 in Esslingen war u.a. Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist, Sänger in einer Rock`n`Roll-Band und Journalist. (Halb-)freiwillig verbrachte er ein Jahr als Berber. Nebenbei studierte er provinzialrömische Archäologie. Er schrieb Erzählungen, Theaterstücke und ein Opernlibretto. Sein Roman 'Fette Welt' wurde von Jan Schütte mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle verfilmt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2009

Ekki, mach mir den Caligula

Wo das Prekäre endet und der Trash beginnt: Helmut Kraussers wilder Berlin-Reigen ist ein Sittenbild der Verwahrlosung voller Hardcore-Komik.

Von Wolfgang Schneider

Wie hört es sich an, wenn Dr. Stern, unterwegs mit seiner Geliebten Carla, einen athletischen Jungtürken beim Warten auf die Trambahn provoziert? "Weiterhin will ich Ihnen mitteilen, dass es mir missfällt, wenn Sie hier vor die Bank, neben unsere Füße, ein Spuckpfützchen machen." Der Angesprochene reagiert wie erwartet: "Was willste, Alder? Willste Ärger? Oder was?" Der Wortwechsel eskaliert, bis Ümal Nurbekoglu zuschlägt. "Stern wich geschickt aus, den Rest erledigte Carla. Sie war amtierende Berliner Kickbox-Vize-Landesmeisterin." Solche Gefährtinnen mögen sich gestandene Akademiker erträumen, wenn in manchen Berliner Straßenzügen die Nacht beginnt (auch wenn diese Szene ausnahmsweise in Bielefeld spielt).

Helmut Kraussers neuer Roman ist eine Berliner Seifenoper. So wie in echten Seifenopern die Schauspieler immer lächerlich überdeutlich agieren und mit Ausrufezeichen grimassieren, arbeitet auch Krausser mit dem Überpointierten auf mehreren Ebenen: Sprache, Figurenzeichnung, Handlung - alles grimassiert hier ein bisschen zu sehr, um noch als Realismus durchzugehen. Gleich die erste Szene trägt ganz dick auf: Heiligabend, Callboy Vincent ist einsam. Das Lokal am Viktoriapark schließt um sieben, weil die Wirtin doch auch mal zu einem ruhigen Fernsehabend kommen will. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen schlurft Vincent heim durch den melancholischen Schneeregen. Zu Hause: schöne Bescherung. Als Vincent sich entkleidet, um ein tröstendes Wannenbad zu nehmen, merkt er: Es ist eine Einbrecherin in der Wohnung. Ganz ansehnliches Mädchen, wenn auch schmutzverkrustet. Mit bereits "halbsteif pendelndem" Geschlechtsteil als Tannenbaum-Ersatz bietet Vincent barmherzig sein Badewasser an. Er verspricht, "nicht die Bullen" zu holen und stellt schon mal den Aldi-Sekt kalt. Im Radio erklingt "Strangers in the Night".

Dem frühverrenteten Studienrat Eckehard "Ekki" Nölten setzt unterdessen die Weihnachtsdepression heftig zu: "Die Einsamkeit wühlte in seinem Körper, sie manifestierte sich als beinahe physischer Schmerz, als würden winzige Fische mit messerscharfen Zähnen an seinen Muskeln nagen und aus seinem Blut die rote Farbe trinken." Das liest sich dermaßen hyperbolisch, als hätte Krausser laut gelacht beim Schreiben. Am Tresen freundet sich Ekki mit der Kellnerin Minnie an, der er fortan immer "wilde Geschichten" über Caligula und die römischen Kaiser erzählt. Höhepunkt des Ekki-Handlungsstranges ist ein verbaler Showdown in der Feinkostabteilung bei Karstadt am Hermannplatz. "Die Filter der Zivilisation griffen nicht länger" - unzufrieden mit dem Kartoffelchips-Angebot, rastet der Ex-Lateinlehrer aus und hält dem Verkaufspersonal eine Scheltrede, die bei allem rhetorischen Schliff keinen Zweifel daran lässt, dass der Mann mit Recht zwangspensioniert wurde.

Der Filialleiter Uwe König, der ihn des Hauses verweist, hat aber selbst am Weihnachtsabend sein blaues Wunder erlebt. Seine Frau Julia, Managerin einer Unternehmensberatung, hat sich aus einer Laune von ihm getrennt, mitten in der festlichen Sushi-Zubereitung, mit einem "angsterregend scharfen japanischen Messer" in der Hand und einem Dialog, wie ihn das Berliner Leben schreibt: "Nimm dir ein Hotelzimmer, geh von mir aus in den Puff, es gibt in Berlin bestimmt Puffs, die an Heiligabend aufhaben, nicht? Mach dir eine schöne Zeit." Bei ihrem folgenden Auftritt nimmt Julia König schon die Dienste von Callboy Vincent in Anspruch (so verflechten sich die Handlungsstränge), während der düpierte Karstadt-Uwe in einschlägigen Internet-Kontaktforen unter dem Nicknamen "Brandbeschleuniger" unterwegs ist.

Damit wären einige der Figuren vorgestellt, denen der Roman in spannungstreibenden Abständen Episoden widmet - gekonnt verfugte Short Cuts aus der Infantilgesellschaft. Zusammengebunden wird der bunte Strauß von Biographien durch die Regie des Zufalls und einen Pseudo-Kriminalfall, eine Kindesentführung, die dann doch keine ist. Schließlich haben wir es mit einer Komödie zu tun, die zum halbwegs guten Ende verpflichtet ist. Für moralische Leitlinien sorgt Jesaja, ein verwirrter Mann, der auf dem Kreuzberg Verdammungspredigten hält und Sodom und Gomorrha beschwört.

"Einsamkeit und Sex und Mitleid" - in Rhythmus und Vokalmelodie wird die Nationalhymne persifliert - ist eine sexuelle Komödie, wie mehr oder weniger alle Bücher des Triebforschers Krausser. Eine Irritation besteht darin, dass man nicht so genau weiß, wo das Prekäre aufhört und der Trash beginnt. Und wo Krausser seinen Figuren das krasse Deutsch gekonnt ablauscht und wo er gelegentlich auf eigene Kosten schlechten Stil schreibt. Wo ein Autor aber so in die Vollen geht, fallen auch viele schön pointierte Formulierungen ab: "Ein Punk, der gegen Tetanus geimpft war, konnte doch kein echter Punk sein", grübelt Holger, eine der sympathischen Figuren dieses Reigens. Ein guter Comic schafft es, dass wir vollgültigen Anteil nehmen an oft sehr chargenhaften Gestalten. Das gelingt auch diesem Roman. Er verbindet das Pornographische mit dem Sentimentalen, das große Gefühl mit der Farce, das genau Beobachtete mit dem grotesk Verzeichneten. Es ist ein Sittenbild verwahrloster Gemüter aus Berlin-Sarrazin, unterhaltsam und voller Hardcore-Komik, ein Buch, das man nicht als großen Roman bezeichnen würde und trotzdem gern zur Lektüre empfiehlt.

Helmut Krausser: "Einsamkeit und Sex und Mitleid". Roman. Dumont Buchverlag, Köln 2009. 223 S., geb.,19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Wenn Sie keine Hemmungen davor haben, am Strand laut lachen zu müssen, dann ist dieses Buch die perfekte Sommerlektüre." JUDITH STARKE, BUCHHANDLUNG VOGEL FREIBURG