Ein Mann, der die Gletscher so sehr liebt, dass er an ihrem Sterben verzweifelt: Zeno hat sein Leben als Glaziologe einem Alpengletscher gewidmet. Als das Sterben seines Gletschers nicht mehr aufzuhalten ist, heuert er auf einem Kreuzfahrtschiff an, um Touristen die Wunder der Antarktis zu erklären. Doch auf seiner Reise verzweifelt er an der Ignoranz der Urlauber, der mangelnden Achtung vor der fremden Welt und der fortschreitenden Schmelze des Eises.
Ilija Trojanows neuer Roman erzählt mit gewaltiger Wortkunst von einem Mann, der auszieht, um für die Gletscher zu kämpfen. Ein poetischer und leidenschaftlicher Roman über die Erhabenheit der Natur und die Gefährdung unserer Welt.
Inszenierte Lesung mit Ilija Trojanow und anderen Mitwirkenden, mit eigens komponierter Musik von Hans Huyssen
Ilija Trojanows neuer Roman erzählt mit gewaltiger Wortkunst von einem Mann, der auszieht, um für die Gletscher zu kämpfen. Ein poetischer und leidenschaftlicher Roman über die Erhabenheit der Natur und die Gefährdung unserer Welt.
Inszenierte Lesung mit Ilija Trojanow und anderen Mitwirkenden, mit eigens komponierter Musik von Hans Huyssen
CD 1 | |||
1 | Titel 1 | 00:06:58 | |
2 | Titel 2 | 00:06:50 | |
3 | Titel 3 | 00:04:37 | |
4 | Titel 4 | 00:05:11 | |
5 | Titel 5 | 00:01:51 | |
6 | Titel 6 | 00:02:31 | |
7 | Titel 7 | 00:05:15 | |
8 | Titel 8 | 00:07:48 | |
9 | Titel 9 | 00:02:02 | |
10 | Titel 10 | 00:04:13 | |
11 | Titel 11 | 00:05:29 | |
12 | Titel 12 | 00:05:25 | |
13 | Titel 13 | 00:04:46 | |
14 | Titel 14 | 00:03:46 | |
15 | Titel 15 | 00:06:19 | |
16 | Titel 16 | 00:02:07 | |
17 | Titel 17 | 00:02:36 | |
CD 2 | |||
1 | Titel 18 | 00:04:40 | |
2 | Titel 19 | 00:04:22 | |
3 | Titel 20 | 00:03:30 | |
4 | Titel 21 | 00:07:34 | |
5 | Titel 22 | 00:03:28 | |
6 | Titel 23 | 00:07:48 | |
7 | Titel 24 | 00:02:36 | |
8 | Titel 25 | 00:03:02 | |
9 | Titel 26 | 00:03:02 | |
10 | Titel 27 | 00:08:03 | |
11 | Titel 28 | 00:08:19 | |
12 | Titel 29 | 00:02:43 | |
13 | Titel 30 | 00:05:07 | |
14 | Titel 31 | 00:02:08 | |
15 | Titel 32 | 00:04:55 | |
16 | Titel 33 | 00:04:17 | |
17 | Titel 34 | 00:03:42 | |
CD 3 | |||
1 | Titel 35 | 00:02:40 | |
2 | Titel 36 | 00:03:13 | |
3 | Titel 37 | 00:04:55 | |
4 | Titel 38 | 00:02:09 | |
5 | Titel 39 | 00:03:31 | |
6 | Titel 40 | 00:04:52 | |
7 | Titel 41 | 00:04:09 | |
8 | Titel 42 | 00:08:05 | |
9 | Titel 43 | 00:04:16 | |
10 | Titel 44 | 00:06:36 | |
11 | Titel 45 | 00:02:25 | |
12 | Titel 46 | 00:04:43 | |
13 | Titel 47 | 00:04:04 | |
14 | Titel 48 | 00:06:15 | |
15 | Titel 49 | 00:04:13 | |
16 | Titel 50 | 00:03:28 | |
17 | Titel 51 | 00:02:48 | |
18 | Titel 52 | 00:06:21 | |
CD 4 | |||
1 | Titel 53 | 00:01:57 | |
2 | Titel 54 | 00:03:26 | |
3 | Titel 55 | 00:02:50 | |
4 | Titel 56 | 00:03:30 | |
5 | Titel 57 | 00:06:42 | |
6 | Titel 58 | 00:02:25 | |
7 | Titel 59 | 00:05:12 | |
8 | Titel 60 | 00:02:22 | |
9 | Titel 61 | 00:03:41 | |
10 | Titel 62 | 00:03:55 | |
11 | Titel 63 | 00:02:14 | |
12 | Titel 64 | 00:07:07 | |
13 | Titel 65 | 00:02:02 | |
14 | Titel 66 | 00:04:48 | |
15 | Titel 67 | 00:04:52 | |
16 | Titel 68 | 00:02:12 | |
17 | Titel 69 | 00:03:57 | |
18 | Titel 70 | 00:05:57 | |
19 | Titel 71 | 00:04:37 | |
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21 | Titel 73 | 00:02:17 |
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2011Der Weltbesserwisser
Schlechtes Gewissen macht noch keinen guten Lesestoff: Ilija Trojanows Roman „EisTau“ über den Klimawandel
Wofür ist ein Schriftsteller zuständig? Die Antwort könnte lauten: für die ganze Welt. Und auch deren Enden gehören dazu. Letztere bereist Ilija Trojanow seit Jahrzehnten – er ist der Nomade unter den Schriftstellern. Anfangs war diese Nomadenschaft erzwungen. Seine Eltern flohen 1971 aus Bulgarien und landeten zunächst in Italien, dann in Deutschland und schließlich in Kenia. Später aber wurde daraus für Trojanow, der mit seinem Roman „Der Weltensammler“ Bekanntheit erlangte, eine selbstbewusste Wahl der Daseinsform: Afrika, Indien und Asien sind für ihn stets eine Fremde, die man sich erobern, und eine Heimat, von der man sich entfernen muss. Mit Neugierde die ganze Welt als Schauplatz des eigenen Lebens zu betrachten, kann einen Intensitätsüberschuss erzeugen, der sich in Erzählung verwandeln lässt. Trojanow schreibt ganz aus seinen Reiseerfahrungen heraus. Das tut er auch in seinem neuesten Buch, das in der Antarktis spielt, der letzten Terra Nullius – ein fast unberührtes Land, unbewohnbar und keinem Staat zugehörig.
Man darf sich gewiss sein, dass Trojanow gegen die Stürme, von denen er berichtet, seinen eigenen Körper gestemmt hat; dass er auf dem Schiff, das den Forschern und Bildungsreisenden für einige Zeit als Unterkunft dient, tatsächlich in die Kälte hinein gesegelt ist; und auch die Pinguine hat er nicht im Zoo, sondern auf einer Eisscholle gesehen. Daraus könnte eine schöne Reportage werden, und genau so eine hat Trojanow vor drei Jahren geschrieben. Es ist darin schon all das Material zusammengetragen, aus dem er nun seinen neuen Roman „EisTau“ gebaut hat. Vielleicht kann ein Schriftsteller, wenn er dieses Reise- als Schreibprogramm versteht, nicht umhin, sich auch für das Wohl der Welt zuständig zu fühlen. In seiner Reportage schrieb er damals: „Am Ende unserer Reise verspürt manch ein Passagier das Bedürfnis, diese Unberührtheit zu schützen.“ In Trojanows Fall also mit den Mitteln der Literatur.
Jener Mann, dem die Rolle des Beschützers zufällt, heißt Zeno, ein philosophisch und literaturgeschichtlich einschlägiger Name. Zeno ist Lektor und Expeditionsleiter auf der MS Hansen , einem Kreuzfahrtschiff, das Bildungshungrige in die eisige Wunderwelt der Antarktis einführen und zugleich ein Bewusstsein für die Gefahren schaffen soll, die der Natur dort drohen. Eigentlich war Zeno Glaziologe, aber als ihm das Objekt seiner Forschung – ein Alpengletscher – wegzuschmelzen drohte, wurde er zusehends melancholisch. Also heuert er auf einem Schiff an, das ihn weit aus der Welt der Menschen in seine Sehnsuchtslandschaft, ins ewige Eis, bringen soll. So ganz gelingt das nicht: Auf engstem Raum mit ahnungslosen Touristen entwickelt Zeno eine immer größere Abwehr gegen seine Umwelt. Mr. Iceberger, wie er von Kollegen liebevoll und auch ein wenig spöttisch genannt wird, steuert auf seinen ganz persönlichen Eisberg zu, das wird mit dem ersten Satz des Buches klar: „Es gibt keinen schlimmeren Albtraum, als sich nicht mehr ins Wachsein retten zu können.“ Schon naive Fragen seiner Schützlinge an Bord können ihn aufbringen. Was der Natur angetan wird, versteht er als Verbrechen. Hilflos sieht er diesem Unrecht zu.
Lange Zeit ist er ein Zauderer wie sein Namensvetter Zeno Cosini, die berühmte Romanfigur von Italo Svevo, dem Trojanow, der einst, aus Bulgarien kommend, in Svevos Heimatstadt Triest landete, damit eine kleine Reverenz erweist. „La Coscienza di Zeno“ – so könnte auch Trojanows Roman heißen. Denn das Gewissen nagt so sehr am Glaziologen wie die warme Meeresströmung am Eis, und in einer Art Logbuch beschreibt er nicht nur seine Erlebnisse an Bord, sondern legt auch Rechenschaft über seine Vergangenheit ab. Statt mit dem Datum werden die Eintragungen durch Längen- und Breitengrade gegliedert. Die Zeit, die vergeht, wird verräumlicht. Es ist eine Reise ins Herz der Finsternis, ins Innere des Unglücks dieser Figur, die die Last der Klimakatastrophe auf den Schultern tragen muss. Als dann auch noch ein berühmter Künstler den Antarktis-Ausflug für eine imageträchtige Umweltkampagne nutzen möchte, wird es Zeno zu viel.
„EisTau“ ist der Monolog eines ins Schmelzwasser Gefallenen und langsam Ertrinkenden. Neben den Gletschern ist ihm auch sein Privatleben unter dem Hintern weggeschmolzen, und das Liebesarrangement, das er auf dem Schiff jedes Jahr mit der dort ebenfalls angestellten Paulina trifft, ist eben die Übereinkunft eines Verlorenen mit einem als zukunftslos wahrgenommenen Leben. Dieser Held ist eine ungetröstete Gestalt, die sich ihre Leidenschaft noch nicht ganz austreiben konnte. Was man zunächst sieht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter aber wird es auch bei Zeno gefährlich. Einmal legt er sich mit einem chilenischen Soldaten an, der mitten in einer Pinguinkolonie eine Zigarette raucht, seine Kippe wegwirft und den fast jungfräulichen Ort mit Zivilisationsmüll verschmutzt. Zenos Rage ist verständlich und folgenlos zugleich. Der Rächer der Eisberge macht keine gute Figur, wie überhaupt Zenos Melancholie gepaart mit seinem Zynismus unweigerlich etwas Tragikomisches annehmen muss. Zeno ist ein Misanthrop aus Enttäuschung. Er will die Welt vor den Menschen retten. Weshalb die Mitreisenden – außer vielleicht Paulina – in seinem Bericht auch nur als Stichwortgeber oder Karikaturen vorkommen. Zärtliche Worte hat er für das übrig, was im Verschwinden begriffen ist, die Gletscher. „Wir waren wie ein altes Liebespaar, einer von uns beiden war schwer erkrankt, und der andere konnte nichts dagegen unternehmen.“
Doch bleibt dieser Zeno in seinem aus der Trauer heraus geborenen Furor merkwürdig blass und trotz seines bekenntnisreichen Tagebuchs für sich. Den Leser hält er sich durch seine manierierte, zum Kunsthandwerklichen tendierende Sprache vom Leib. Es scheint so, als müsste die direkt angreifende Sprache, die Trojanow in seiner Antarktis-Reportage gefunden hat, nun, weil es sich um Literatur handelt, veredelt werden. Solche Veredelungsprozesse können unangenehmes Pathos erzeugen. Zumindest aber eine seltsam selbstgefällige Bemühtheit um Poesie. Am gelungensten sind jene Passagen, die nahe an der Reportage etwa das innere Leben der Gletscher beschreiben.
Die eingestreuten Zwischenkapitel mit ihren absurd anmutenden Zitatfetzen stören den Erzählfluss. In einer Art Cut-up-Technik wird die Dummheit des alltäglichen Gequassels ausgestellt, gleichzeitig werden auch noch ein paar Funkmeldungen eingestreut, die eine Fährte zur Verzweiflungstat Zenos am Ende legen. Das könnte einen Zweck haben, wirkt hier aber eher redundant. Denn wir lernen nur etwas, das wir schon wissen: Auch gedankenlose Kommunikation und das weiße Rauschen der Medien können Umweltverschmutzung sein.
Trojanow ist ähnlich wie Ian McEwan mit seinem Buch „Solar“ (2010), das als erster Klimawandel-Roman gehandelt wurde, ein Risiko eingegangen: eine drängende Zukunftsfrage in ein aufrüttelndes Buch verwandeln zu wollen. McEwan wählte dafür die Form der satirischen Kolportage; Trojanow schreibt eine Art Epitaph auf die Gletscher – und auf seinen Helden. Beiden Büchern fehlt nicht der gute Wille, aber die notwendige Wucht, um Wirkung zu erzeugen. Vielleicht aber sollte man das gerade von Romanen nicht verlangen, die diesen Anspruch selbst ein bisschen eitel vor sich hertragen. ULRICH RÜDENAUER
ILIJA TROJANOW: EisTau. Roman. Hanser Verlag, München 2011. 172 Seiten. 18,90 Euro.
Das Buch ist der Monolog
eines Ertrinkenden im
Schmelzwasser der Gletscher
Reisen als Schreibprogramm: Ilija Trojanow ist der globale Nomade der Literatur. Foto: Thomas Dorn
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schlechtes Gewissen macht noch keinen guten Lesestoff: Ilija Trojanows Roman „EisTau“ über den Klimawandel
Wofür ist ein Schriftsteller zuständig? Die Antwort könnte lauten: für die ganze Welt. Und auch deren Enden gehören dazu. Letztere bereist Ilija Trojanow seit Jahrzehnten – er ist der Nomade unter den Schriftstellern. Anfangs war diese Nomadenschaft erzwungen. Seine Eltern flohen 1971 aus Bulgarien und landeten zunächst in Italien, dann in Deutschland und schließlich in Kenia. Später aber wurde daraus für Trojanow, der mit seinem Roman „Der Weltensammler“ Bekanntheit erlangte, eine selbstbewusste Wahl der Daseinsform: Afrika, Indien und Asien sind für ihn stets eine Fremde, die man sich erobern, und eine Heimat, von der man sich entfernen muss. Mit Neugierde die ganze Welt als Schauplatz des eigenen Lebens zu betrachten, kann einen Intensitätsüberschuss erzeugen, der sich in Erzählung verwandeln lässt. Trojanow schreibt ganz aus seinen Reiseerfahrungen heraus. Das tut er auch in seinem neuesten Buch, das in der Antarktis spielt, der letzten Terra Nullius – ein fast unberührtes Land, unbewohnbar und keinem Staat zugehörig.
Man darf sich gewiss sein, dass Trojanow gegen die Stürme, von denen er berichtet, seinen eigenen Körper gestemmt hat; dass er auf dem Schiff, das den Forschern und Bildungsreisenden für einige Zeit als Unterkunft dient, tatsächlich in die Kälte hinein gesegelt ist; und auch die Pinguine hat er nicht im Zoo, sondern auf einer Eisscholle gesehen. Daraus könnte eine schöne Reportage werden, und genau so eine hat Trojanow vor drei Jahren geschrieben. Es ist darin schon all das Material zusammengetragen, aus dem er nun seinen neuen Roman „EisTau“ gebaut hat. Vielleicht kann ein Schriftsteller, wenn er dieses Reise- als Schreibprogramm versteht, nicht umhin, sich auch für das Wohl der Welt zuständig zu fühlen. In seiner Reportage schrieb er damals: „Am Ende unserer Reise verspürt manch ein Passagier das Bedürfnis, diese Unberührtheit zu schützen.“ In Trojanows Fall also mit den Mitteln der Literatur.
Jener Mann, dem die Rolle des Beschützers zufällt, heißt Zeno, ein philosophisch und literaturgeschichtlich einschlägiger Name. Zeno ist Lektor und Expeditionsleiter auf der MS Hansen , einem Kreuzfahrtschiff, das Bildungshungrige in die eisige Wunderwelt der Antarktis einführen und zugleich ein Bewusstsein für die Gefahren schaffen soll, die der Natur dort drohen. Eigentlich war Zeno Glaziologe, aber als ihm das Objekt seiner Forschung – ein Alpengletscher – wegzuschmelzen drohte, wurde er zusehends melancholisch. Also heuert er auf einem Schiff an, das ihn weit aus der Welt der Menschen in seine Sehnsuchtslandschaft, ins ewige Eis, bringen soll. So ganz gelingt das nicht: Auf engstem Raum mit ahnungslosen Touristen entwickelt Zeno eine immer größere Abwehr gegen seine Umwelt. Mr. Iceberger, wie er von Kollegen liebevoll und auch ein wenig spöttisch genannt wird, steuert auf seinen ganz persönlichen Eisberg zu, das wird mit dem ersten Satz des Buches klar: „Es gibt keinen schlimmeren Albtraum, als sich nicht mehr ins Wachsein retten zu können.“ Schon naive Fragen seiner Schützlinge an Bord können ihn aufbringen. Was der Natur angetan wird, versteht er als Verbrechen. Hilflos sieht er diesem Unrecht zu.
Lange Zeit ist er ein Zauderer wie sein Namensvetter Zeno Cosini, die berühmte Romanfigur von Italo Svevo, dem Trojanow, der einst, aus Bulgarien kommend, in Svevos Heimatstadt Triest landete, damit eine kleine Reverenz erweist. „La Coscienza di Zeno“ – so könnte auch Trojanows Roman heißen. Denn das Gewissen nagt so sehr am Glaziologen wie die warme Meeresströmung am Eis, und in einer Art Logbuch beschreibt er nicht nur seine Erlebnisse an Bord, sondern legt auch Rechenschaft über seine Vergangenheit ab. Statt mit dem Datum werden die Eintragungen durch Längen- und Breitengrade gegliedert. Die Zeit, die vergeht, wird verräumlicht. Es ist eine Reise ins Herz der Finsternis, ins Innere des Unglücks dieser Figur, die die Last der Klimakatastrophe auf den Schultern tragen muss. Als dann auch noch ein berühmter Künstler den Antarktis-Ausflug für eine imageträchtige Umweltkampagne nutzen möchte, wird es Zeno zu viel.
„EisTau“ ist der Monolog eines ins Schmelzwasser Gefallenen und langsam Ertrinkenden. Neben den Gletschern ist ihm auch sein Privatleben unter dem Hintern weggeschmolzen, und das Liebesarrangement, das er auf dem Schiff jedes Jahr mit der dort ebenfalls angestellten Paulina trifft, ist eben die Übereinkunft eines Verlorenen mit einem als zukunftslos wahrgenommenen Leben. Dieser Held ist eine ungetröstete Gestalt, die sich ihre Leidenschaft noch nicht ganz austreiben konnte. Was man zunächst sieht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter aber wird es auch bei Zeno gefährlich. Einmal legt er sich mit einem chilenischen Soldaten an, der mitten in einer Pinguinkolonie eine Zigarette raucht, seine Kippe wegwirft und den fast jungfräulichen Ort mit Zivilisationsmüll verschmutzt. Zenos Rage ist verständlich und folgenlos zugleich. Der Rächer der Eisberge macht keine gute Figur, wie überhaupt Zenos Melancholie gepaart mit seinem Zynismus unweigerlich etwas Tragikomisches annehmen muss. Zeno ist ein Misanthrop aus Enttäuschung. Er will die Welt vor den Menschen retten. Weshalb die Mitreisenden – außer vielleicht Paulina – in seinem Bericht auch nur als Stichwortgeber oder Karikaturen vorkommen. Zärtliche Worte hat er für das übrig, was im Verschwinden begriffen ist, die Gletscher. „Wir waren wie ein altes Liebespaar, einer von uns beiden war schwer erkrankt, und der andere konnte nichts dagegen unternehmen.“
Doch bleibt dieser Zeno in seinem aus der Trauer heraus geborenen Furor merkwürdig blass und trotz seines bekenntnisreichen Tagebuchs für sich. Den Leser hält er sich durch seine manierierte, zum Kunsthandwerklichen tendierende Sprache vom Leib. Es scheint so, als müsste die direkt angreifende Sprache, die Trojanow in seiner Antarktis-Reportage gefunden hat, nun, weil es sich um Literatur handelt, veredelt werden. Solche Veredelungsprozesse können unangenehmes Pathos erzeugen. Zumindest aber eine seltsam selbstgefällige Bemühtheit um Poesie. Am gelungensten sind jene Passagen, die nahe an der Reportage etwa das innere Leben der Gletscher beschreiben.
Die eingestreuten Zwischenkapitel mit ihren absurd anmutenden Zitatfetzen stören den Erzählfluss. In einer Art Cut-up-Technik wird die Dummheit des alltäglichen Gequassels ausgestellt, gleichzeitig werden auch noch ein paar Funkmeldungen eingestreut, die eine Fährte zur Verzweiflungstat Zenos am Ende legen. Das könnte einen Zweck haben, wirkt hier aber eher redundant. Denn wir lernen nur etwas, das wir schon wissen: Auch gedankenlose Kommunikation und das weiße Rauschen der Medien können Umweltverschmutzung sein.
Trojanow ist ähnlich wie Ian McEwan mit seinem Buch „Solar“ (2010), das als erster Klimawandel-Roman gehandelt wurde, ein Risiko eingegangen: eine drängende Zukunftsfrage in ein aufrüttelndes Buch verwandeln zu wollen. McEwan wählte dafür die Form der satirischen Kolportage; Trojanow schreibt eine Art Epitaph auf die Gletscher – und auf seinen Helden. Beiden Büchern fehlt nicht der gute Wille, aber die notwendige Wucht, um Wirkung zu erzeugen. Vielleicht aber sollte man das gerade von Romanen nicht verlangen, die diesen Anspruch selbst ein bisschen eitel vor sich hertragen. ULRICH RÜDENAUER
ILIJA TROJANOW: EisTau. Roman. Hanser Verlag, München 2011. 172 Seiten. 18,90 Euro.
Das Buch ist der Monolog
eines Ertrinkenden im
Schmelzwasser der Gletscher
Reisen als Schreibprogramm: Ilija Trojanow ist der globale Nomade der Literatur. Foto: Thomas Dorn
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2011Warten auf eine neue Eiszeit
In den Romanen von Jo Lendle und Ilija Trojanow finden Männer ihr Glück im ewigen Eis - einmal zur Freude der Leser, einmal nicht.
Dass einer, der reist, davon auch zu erzählen hat, ist sprichwörtlich verbürgt. Dass sich aber, je leichter inzwischen noch die entlegensten Ziele zu erreichen sind, das Erzählen umso weniger auf das bloße Schildern des Ziels zurückziehen kann, ist ebenso evident. Und so ist die Erfahrung aus zweihundert Jahren Reisepublizistik die einer fortgesetzten Entzauberung: Wer heute noch das Lesepublikum durch einen dürren Bericht über seine Reise zu den Nilquellen fesseln kann, ist ein Genie. Und wenn inzwischen beim Nacherzählen historischer Entdeckungsfahrten gewöhnlich ein wesentlicher Punkt in der Darstellung all dessen liegt, was damals schwerer war, das Ertragen extremer Witterung, die mangelnde Kommunikation mit der Außenwelt, die Unsicherheit über die Rückkehr, dann verliert gleichzeitig die schiere Landschaft einen Teil ihrer Faszination. Nach Legionen von Bildbänden meinen wir sie zu kennen. Auch wenn die abgelegensten Orte der Erde, die Polkappen, gegenwärtig einem Wandel unterworfen sind, dessen Folgen noch unabsehbar sind.
In diesem Spannungsfeld sind zwei Romane verortet, die nun beinahe gleichzeitig erschienen sind: Ilija Trojanows "Eistau" schildert die Reise eines Gletscherforschers, der mit einem Kreuzfahrtschiff als Lektor in die Antarktis unterwegs ist und dabei zwischen Faszination für die besuchte Region und Ekel vor der Dekadenz dieser Reise schwankt, bis er sich zu einem radikalen Schritt entscheidet: Er nutzt die kurzzeitige Abwesenheit von Passagieren und Mannschaft, um das leere Schiff zu kapern und die Touristen in der antarktischen Wüste zurückzulassen.
Jo Lendles "Alles Land" dagegen greift zurück in die Zeit, als der Wettlauf zum Südpol entschieden wurde und der Naturforscher Alfred Wegener seine Theorie der Kontinentaldrift entwickelte. Beides jährt sich gegenwärtig zum hundertsten Mal: Am 14. Dezember 1911 erreichte Roald Amundsen den südlichsten Punkt der Erde, und am 6. Januar 1912 sprach Wegener vor der Senckenberg-Gesellschaft in Frankfurt zum ersten Mal öffentlich über seine Theorie. Natürlich schildert Lendles in Schlaglichtern strukturierte Romanbiographie Wegeners auch diesen Auftritt.
Mehr noch geht es dem Autor allerdings darum, das Reifen der Idee von den über den Erdball wandernden Kontinenten in Kindheit und Jugend des Berliner Predigersohns darzustellen. Mit diskreter Effizienz konfrontiert er seinen Wegener mit Alltagseindrücken, die jeder scheinbaren Statik die Bewegung gegenüberstellen: Da brechen Eisschollen und vereinigen sich zu neuen Flächen, Ameisen geraten in eine Topffalle aus lauter driftenden Puderzuckerscheiben, und Wegeners Sehnsucht nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Welt zu fassen sei, mündet erst in die Einsicht der ständigen Bewegung aller Dinge und Zustände, dann aber in die ernsthafte Suche nach einer Theorie dieser Bewegung - man könnte auch sagen: nach einem System, das dem allgemeinen Driften eine Struktur und damit wiederum eine gewisse Statik verleiht.
Der Charme dieses Romans wurzelt vor allem in Lendles Vermögen, der Kontinentaldrift in all unseren Verhältnissen nachzuspüren, und sein Wegener erfährt dies am eigenen Leib, wenn es etwa um die Liebe zu seiner Frau Else geht: "Seine Wonne, sein Ballast" nennt Lendle sie, und führt das in einer wundervollen Ballonfahrt-Szene ganz wörtlich aus. Nach der unsanften Landung kommen sich die Liebenden erstmals körperlich nahe, sie schmiegen sich aneinander, passgenau wie einst die südamerikanische und die afrikanische Atlantikküste, und als dann Kinder kommen, die nachts ins eheliche Bett drängen, übernehmen diese die Funktion der Plattentektonik: Das Paar driftet auseinander. Lendle aber ist klug genug, den Leser diese Analogie entdecken zu lassen, ohne ihn darauf zu stoßen.
Von dieser Dezenz ist in Trojanows "Eistau" nicht viel zu spüren. Sein Erzähler, der Glaziologe Zeno beendete seine wissenschaftliche Karriere, als er feststellen musste, dass ein von ihm regelmäßig untersuchter Alpengletscher eines Sommers im Klimawandel geradezu pulverisiert wurde. Seither begleitet er Touristen auf Kreuzfahrtschiffen in die Antarktis, hält fachwissenschaftliche Vorträge und leidet darunter, dass ihn die globale Umweltzerstörung einerseits immer stärker erregt, er andererseits all dem tatenlos zusehen muss. "Wenn Mr. Iceberger" - so sein Spitzname unter den Kollegen - "apodiktisch loslegt, endet es apokalyptisch", heißt es zu Beginn des Romans, und dass Zeno in den Augen der anderen durchaus hysterische Züge entwickelt, wird selbst in seiner eigenen Perspektive deutlich, durch die wir weite Teile des Geschehens erleben. Es gibt allerdings noch - neben Zenos mit römischen Ziffern unterteiltem Bericht - eine weitere Quelle für die dramatischen Ereignisse dieser Kreuzfahrt, die arabisch nummerierten Collagen aus Funksprüchen, Verhörprotokollen, Schlagertexten und dergleichen mehr: Das Geschnatter der Welt.
So reizvoll es sein mag, einem weltanschaulich stark konturierten Erzähler das Wort zu erteilen, so rasch ermüdet dieser obsessive Naturfreund, der etwa in den ovalen Öffnungen der Eisberge "gewaltige Vulven" erkennt und daraus "schmelzende Lockrufe" vernimmt, den Leser. Zwischen Zeno und seiner Geliebten, einer als Kellnerin auf dem Schiff arbeitenden Philippinin, sind die Rollen klar verteilt, denn wo sich die deutlich jüngere Frau - Zenos Ansicht nach - naturkindhaft wünscht, "dass wir einfach nur sind", gibt er den grübelnden westlichen Intellektuellen. Dass der aber Platitüden notiert, macht die Sache nicht besser: Da "führt" ein Friedhof allen Ernstes "ein kleines, aber feines Sortiment an Dahingeschiedenen". Zenos Nachsinnen über die verlassene Walfangstation mündet in den Merkspruch: "In der Fabrik zerlegte der Mensch Wale, die Zeit zerlegt die Fabriken." Und sein Unbehagen über die Menschen in seiner Umgebung und die eigene Haltung fasst er gern in ebenso gesuchte wie schiefe Bilder: "Alle haben dieselbe Verharmlosungssoftware heruntergelanden, bereit zu kauern, wenn es stürmt" und dergleichen mehr.
Mit dem Grunddilemma jeder Wissenschaft, so tragisch wie entlastend, hält sich Zeno nicht auf: Forscher können Fakten zusammentragen und vor Irrwegen warnen, entscheiden können sie nicht. Welche Rolle spielen dann aber die Schriftsteller? "Die Klassiker", weiß Zeno, "dürfen Licht ins Dunkel tragen", uns "ins Gewissen reden" und "Sätze verfassen, die man in steinerne Fassaden hauen kann" - im Gegensatz zu Gegenwartsautoren, die in den Augen der Mehrheit "auf gar keinen Fall" versuchen dürfen, mit Texten "die Welt zu verändern". Wie aber dann? Zeno, der selbst mit seinem Notizbuch zum mahnredenden Autor wird, findet während des Schreibprozesses eine erste Leserin in seiner Geliebten, die allerdings, so die arge Pointe dieser Szene, des Deutschen nicht mächtig ist.
Wo Trojanow seinen Zeno ganz in seiner Wut aufgehen lässt, ist der Roman am dichtesten. Wenn der verzweifelte Forscher beim Anschauen einer Fernsehdokumentation voller Emphase eine Lawine anfeuert, noch mehr menschliche Behausungen unter sich zu begraben (und damit seine neben ihm sitzende Gattin aufs höchste befremdet), nimmt man dem Autor seinen Erzähler auf einmal ab: Das Thesenpapier, als das dieser Roman mitunter erscheint, hat aufgehört zu rascheln, es geht um Menschen aus Fleisch und Blut.
Dieses Problem stellt sich in Jo Lendles fabelhaftem Buch auf keiner Seite. Sein Wegener, so sehr er sich den Studien des Autors verdanken mag, führt eine Existenz, die sich von den Quellen emanzipiertund nie in Gefahr gerät, als wie auch immer geartetes authentisches Bild des Forschers zu erscheinen. Am Ende sind sie beide verschwunden: Zeno, der sich den südpolaren Wogen übergibt, und Wegener, der 1930 auf dem grönländischen Inlandeis überwintern will und unter einer dicken Schneeschicht begraben wird. Dass wir diesen Gletscherfreund vermissen, jenen dagegen nicht so sehr, ist der jeweiligen Romankonstruktion geschuldet. Schließlich bleibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie Lendles Wegener sie formuliert: Wenn die Kontinente nur lange genug voneinander weg gedriftet sind, müssten sie sich in etwa 250 Millionen Jahren am anderen Ende der Erde neu zusammenfinden. Und mit ihnen alles, was in der Zwischenzeit verloren ging.
TILMAN SPRECKELSEN
Ilija Trojanow: "Eistau". Roman.
Hanser Verlag, München 2011. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
Jo Lendle: "Alles Land". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 384 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In den Romanen von Jo Lendle und Ilija Trojanow finden Männer ihr Glück im ewigen Eis - einmal zur Freude der Leser, einmal nicht.
Dass einer, der reist, davon auch zu erzählen hat, ist sprichwörtlich verbürgt. Dass sich aber, je leichter inzwischen noch die entlegensten Ziele zu erreichen sind, das Erzählen umso weniger auf das bloße Schildern des Ziels zurückziehen kann, ist ebenso evident. Und so ist die Erfahrung aus zweihundert Jahren Reisepublizistik die einer fortgesetzten Entzauberung: Wer heute noch das Lesepublikum durch einen dürren Bericht über seine Reise zu den Nilquellen fesseln kann, ist ein Genie. Und wenn inzwischen beim Nacherzählen historischer Entdeckungsfahrten gewöhnlich ein wesentlicher Punkt in der Darstellung all dessen liegt, was damals schwerer war, das Ertragen extremer Witterung, die mangelnde Kommunikation mit der Außenwelt, die Unsicherheit über die Rückkehr, dann verliert gleichzeitig die schiere Landschaft einen Teil ihrer Faszination. Nach Legionen von Bildbänden meinen wir sie zu kennen. Auch wenn die abgelegensten Orte der Erde, die Polkappen, gegenwärtig einem Wandel unterworfen sind, dessen Folgen noch unabsehbar sind.
In diesem Spannungsfeld sind zwei Romane verortet, die nun beinahe gleichzeitig erschienen sind: Ilija Trojanows "Eistau" schildert die Reise eines Gletscherforschers, der mit einem Kreuzfahrtschiff als Lektor in die Antarktis unterwegs ist und dabei zwischen Faszination für die besuchte Region und Ekel vor der Dekadenz dieser Reise schwankt, bis er sich zu einem radikalen Schritt entscheidet: Er nutzt die kurzzeitige Abwesenheit von Passagieren und Mannschaft, um das leere Schiff zu kapern und die Touristen in der antarktischen Wüste zurückzulassen.
Jo Lendles "Alles Land" dagegen greift zurück in die Zeit, als der Wettlauf zum Südpol entschieden wurde und der Naturforscher Alfred Wegener seine Theorie der Kontinentaldrift entwickelte. Beides jährt sich gegenwärtig zum hundertsten Mal: Am 14. Dezember 1911 erreichte Roald Amundsen den südlichsten Punkt der Erde, und am 6. Januar 1912 sprach Wegener vor der Senckenberg-Gesellschaft in Frankfurt zum ersten Mal öffentlich über seine Theorie. Natürlich schildert Lendles in Schlaglichtern strukturierte Romanbiographie Wegeners auch diesen Auftritt.
Mehr noch geht es dem Autor allerdings darum, das Reifen der Idee von den über den Erdball wandernden Kontinenten in Kindheit und Jugend des Berliner Predigersohns darzustellen. Mit diskreter Effizienz konfrontiert er seinen Wegener mit Alltagseindrücken, die jeder scheinbaren Statik die Bewegung gegenüberstellen: Da brechen Eisschollen und vereinigen sich zu neuen Flächen, Ameisen geraten in eine Topffalle aus lauter driftenden Puderzuckerscheiben, und Wegeners Sehnsucht nach dem archimedischen Punkt, von dem aus die Welt zu fassen sei, mündet erst in die Einsicht der ständigen Bewegung aller Dinge und Zustände, dann aber in die ernsthafte Suche nach einer Theorie dieser Bewegung - man könnte auch sagen: nach einem System, das dem allgemeinen Driften eine Struktur und damit wiederum eine gewisse Statik verleiht.
Der Charme dieses Romans wurzelt vor allem in Lendles Vermögen, der Kontinentaldrift in all unseren Verhältnissen nachzuspüren, und sein Wegener erfährt dies am eigenen Leib, wenn es etwa um die Liebe zu seiner Frau Else geht: "Seine Wonne, sein Ballast" nennt Lendle sie, und führt das in einer wundervollen Ballonfahrt-Szene ganz wörtlich aus. Nach der unsanften Landung kommen sich die Liebenden erstmals körperlich nahe, sie schmiegen sich aneinander, passgenau wie einst die südamerikanische und die afrikanische Atlantikküste, und als dann Kinder kommen, die nachts ins eheliche Bett drängen, übernehmen diese die Funktion der Plattentektonik: Das Paar driftet auseinander. Lendle aber ist klug genug, den Leser diese Analogie entdecken zu lassen, ohne ihn darauf zu stoßen.
Von dieser Dezenz ist in Trojanows "Eistau" nicht viel zu spüren. Sein Erzähler, der Glaziologe Zeno beendete seine wissenschaftliche Karriere, als er feststellen musste, dass ein von ihm regelmäßig untersuchter Alpengletscher eines Sommers im Klimawandel geradezu pulverisiert wurde. Seither begleitet er Touristen auf Kreuzfahrtschiffen in die Antarktis, hält fachwissenschaftliche Vorträge und leidet darunter, dass ihn die globale Umweltzerstörung einerseits immer stärker erregt, er andererseits all dem tatenlos zusehen muss. "Wenn Mr. Iceberger" - so sein Spitzname unter den Kollegen - "apodiktisch loslegt, endet es apokalyptisch", heißt es zu Beginn des Romans, und dass Zeno in den Augen der anderen durchaus hysterische Züge entwickelt, wird selbst in seiner eigenen Perspektive deutlich, durch die wir weite Teile des Geschehens erleben. Es gibt allerdings noch - neben Zenos mit römischen Ziffern unterteiltem Bericht - eine weitere Quelle für die dramatischen Ereignisse dieser Kreuzfahrt, die arabisch nummerierten Collagen aus Funksprüchen, Verhörprotokollen, Schlagertexten und dergleichen mehr: Das Geschnatter der Welt.
So reizvoll es sein mag, einem weltanschaulich stark konturierten Erzähler das Wort zu erteilen, so rasch ermüdet dieser obsessive Naturfreund, der etwa in den ovalen Öffnungen der Eisberge "gewaltige Vulven" erkennt und daraus "schmelzende Lockrufe" vernimmt, den Leser. Zwischen Zeno und seiner Geliebten, einer als Kellnerin auf dem Schiff arbeitenden Philippinin, sind die Rollen klar verteilt, denn wo sich die deutlich jüngere Frau - Zenos Ansicht nach - naturkindhaft wünscht, "dass wir einfach nur sind", gibt er den grübelnden westlichen Intellektuellen. Dass der aber Platitüden notiert, macht die Sache nicht besser: Da "führt" ein Friedhof allen Ernstes "ein kleines, aber feines Sortiment an Dahingeschiedenen". Zenos Nachsinnen über die verlassene Walfangstation mündet in den Merkspruch: "In der Fabrik zerlegte der Mensch Wale, die Zeit zerlegt die Fabriken." Und sein Unbehagen über die Menschen in seiner Umgebung und die eigene Haltung fasst er gern in ebenso gesuchte wie schiefe Bilder: "Alle haben dieselbe Verharmlosungssoftware heruntergelanden, bereit zu kauern, wenn es stürmt" und dergleichen mehr.
Mit dem Grunddilemma jeder Wissenschaft, so tragisch wie entlastend, hält sich Zeno nicht auf: Forscher können Fakten zusammentragen und vor Irrwegen warnen, entscheiden können sie nicht. Welche Rolle spielen dann aber die Schriftsteller? "Die Klassiker", weiß Zeno, "dürfen Licht ins Dunkel tragen", uns "ins Gewissen reden" und "Sätze verfassen, die man in steinerne Fassaden hauen kann" - im Gegensatz zu Gegenwartsautoren, die in den Augen der Mehrheit "auf gar keinen Fall" versuchen dürfen, mit Texten "die Welt zu verändern". Wie aber dann? Zeno, der selbst mit seinem Notizbuch zum mahnredenden Autor wird, findet während des Schreibprozesses eine erste Leserin in seiner Geliebten, die allerdings, so die arge Pointe dieser Szene, des Deutschen nicht mächtig ist.
Wo Trojanow seinen Zeno ganz in seiner Wut aufgehen lässt, ist der Roman am dichtesten. Wenn der verzweifelte Forscher beim Anschauen einer Fernsehdokumentation voller Emphase eine Lawine anfeuert, noch mehr menschliche Behausungen unter sich zu begraben (und damit seine neben ihm sitzende Gattin aufs höchste befremdet), nimmt man dem Autor seinen Erzähler auf einmal ab: Das Thesenpapier, als das dieser Roman mitunter erscheint, hat aufgehört zu rascheln, es geht um Menschen aus Fleisch und Blut.
Dieses Problem stellt sich in Jo Lendles fabelhaftem Buch auf keiner Seite. Sein Wegener, so sehr er sich den Studien des Autors verdanken mag, führt eine Existenz, die sich von den Quellen emanzipiertund nie in Gefahr gerät, als wie auch immer geartetes authentisches Bild des Forschers zu erscheinen. Am Ende sind sie beide verschwunden: Zeno, der sich den südpolaren Wogen übergibt, und Wegener, der 1930 auf dem grönländischen Inlandeis überwintern will und unter einer dicken Schneeschicht begraben wird. Dass wir diesen Gletscherfreund vermissen, jenen dagegen nicht so sehr, ist der jeweiligen Romankonstruktion geschuldet. Schließlich bleibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie Lendles Wegener sie formuliert: Wenn die Kontinente nur lange genug voneinander weg gedriftet sind, müssten sie sich in etwa 250 Millionen Jahren am anderen Ende der Erde neu zusammenfinden. Und mit ihnen alles, was in der Zwischenzeit verloren ging.
TILMAN SPRECKELSEN
Ilija Trojanow: "Eistau". Roman.
Hanser Verlag, München 2011. 176 S., geb., 18,90 [Euro].
Jo Lendle: "Alles Land". Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011. 384 S., geb., 19,99 [Euro].
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