Als hätte Quentin Tarantino einen neuen"Indiana Jones" geschrieben!
Sechzehn Jahre alt, sieben Profi-Kämpfe (keine Niederlage), neun Zehen, einen Meter fünfzig groß. Das waren die Zahlen, die Seth "Sinner" Roach ausmachten, alle ziemlich niedrig, aber was machte das schon? Er war der beste neue Boxer in London. Für seine Gegner war ein Kampf gegen Sinner wie ein Verhör: jeder Schlag eine Frage, die sie unmöglich beantworten, eine Anschuldigung, die sie unmöglich zurückweisen konnten.
England, 1934: Seth "Sinner" Roach ist ein kleinwüchsiger jüdischer Boxer mit nur neun zehen. Nach einem gewonnen Kampf wird er von einem Gentleman angesprochen, der sich als Philip Erskine vorstellt. Der reiche Hobby-Wissenschaftler ist bei einer Expedition im Osten auf einen Käfer mit einer interessanten Musterung gestoßen. Er tauft ihn "Anophthalmus hitleri". Nun will er seine Forschungen auf Menschen ausdehnen...
England, die Gegenwart: Kevin Broom ist Sammler von Nazi-Devotionalien. Als er einen Brief Adolf Hitlers an einen gewissen "Doktor Erskine" entdeckt, erhält er Besuch von einemAuftragskiller, der offenbar zur Thule-Gesellschaft gehört. In der Hand hält er eine Pistole mit einem Schalldämpfer...
Ned Beauman ist mit seinen 24 Jahren ein großer Coup gelungen. Sein detailliertes Wissen und seine freche Fantasie lassen uns staunen.
Sechzehn Jahre alt, sieben Profi-Kämpfe (keine Niederlage), neun Zehen, einen Meter fünfzig groß. Das waren die Zahlen, die Seth "Sinner" Roach ausmachten, alle ziemlich niedrig, aber was machte das schon? Er war der beste neue Boxer in London. Für seine Gegner war ein Kampf gegen Sinner wie ein Verhör: jeder Schlag eine Frage, die sie unmöglich beantworten, eine Anschuldigung, die sie unmöglich zurückweisen konnten.
England, 1934: Seth "Sinner" Roach ist ein kleinwüchsiger jüdischer Boxer mit nur neun zehen. Nach einem gewonnen Kampf wird er von einem Gentleman angesprochen, der sich als Philip Erskine vorstellt. Der reiche Hobby-Wissenschaftler ist bei einer Expedition im Osten auf einen Käfer mit einer interessanten Musterung gestoßen. Er tauft ihn "Anophthalmus hitleri". Nun will er seine Forschungen auf Menschen ausdehnen...
England, die Gegenwart: Kevin Broom ist Sammler von Nazi-Devotionalien. Als er einen Brief Adolf Hitlers an einen gewissen "Doktor Erskine" entdeckt, erhält er Besuch von einemAuftragskiller, der offenbar zur Thule-Gesellschaft gehört. In der Hand hält er eine Pistole mit einem Schalldämpfer...
Ned Beauman ist mit seinen 24 Jahren ein großer Coup gelungen. Sein detailliertes Wissen und seine freche Fantasie lassen uns staunen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2010Kann denn Ordnung Sünde sein?
Käfer außer Rand und Band: Das Romandebüt des jungen Londoners Ned Beauman erzählt schillernd, gnadenlos böse und wunderbar albern von den Monstrositäten des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dass aus der Angst vor Abweichungen, dem Abscheu vor dem Nichtkonformen und dem unbedingten Verlangen nach Ordnung die himmelschreiendsten Abseitigkeiten allererst erwachsen, ist eine Art anthropologisches Grundmuster. Zweifelsohne wohnt diesem Muster etwas Fatales inne, gleichsam aber auch etwas unterschwellig Faszinierendes. In "Flieg, Hitler, flieg!", dem Romandebüt des erst fünfundzwanzigjährigen Londoners Ned Beauman, das in Deutschland jetzt kurz vor dem englischsprachigen Original erschienen ist, quillt, spritzt und sprudelt es nur so vor Absonderlichkeiten und Perversionen: körperlichen, vor allem aber geistigen und weltanschaulichen.
Einen abgründigen Budenzauber des zwanzigsten Jahrhunderts entspinnt Beauman, in dem Ordnung und Unordnung unabänderlich aufeinandergeworfen sind. Durchrationalisierte Städte werden gebaut, die von absurder Lebensfremdheit sind, Haushalte voller futuristischer Maschinerien erfunden, die außer Kontrolle geraten und ihre Bewohner terrorisieren, oder eine universale, auf strengen Regeln basierende Kunstsprache, die unmöglich zu lernen ist. Und bei alledem verquirlt Beauman Historie und Phantasma durch kriminologische, verschwörungstheoretische und manchmal nur famos alberne Verwicklungen derart miteinander, dass es Thomas Pynchon eine wahre Freude sein dürfte.
Im Epizentrum des Romans steht die größte Abseitigkeit des Jahrhunderts, der Nationalsozialismus mit seinen Theoriegespinsten über Reinigung und Ordnung: der Rasse, der Sprache und der Welt. Bis hinein ins England der Gegenwart reicht seine Strahlkraft, an den Schreibtisch von Kevin Broom, Beaumans Erzähler, genannt Fishy, einem veritablen Computer-Nerd, ehemaligen Buchhalter und passionierten Sammler von Nazi-Memorabilien.
Indes, wie der betont, sammle er nicht aus nationalsozialistischer Gesinnung, sondern aus Faszination an der eigenen psychischen Abnormität. Unbewusst womöglich auch, um der eigenen physischen Abseitigkeit ein würdiges Komplement hinzuzugesellen: Fishy leidet unter Trimethylaminurie, einer seltenen Stoffwechselkrankheit, die dazu führt, dass Schweiß und Urin der Betroffenen penetrant nach altem Fisch riechen. Sein Spitzname rührt also nicht von ungefähr. Und nicht von ungefähr hält er hauptsächlich via Chatroom Kontakt zur Außenwelt, bis er aus der Abgeschiedenheit gerissen und auf eine Spur gesetzt wird, die bei jedem Fetischisten von Nazi-Tand prompte Adrenalinschauder auslösen würde.
Ein Brief, unterschrieben von Hitler höchstpersönlich und versteckt in einem Gefrierfach, ist es, der Fishys Suche in Gang setzt und der das Scharnier bildet, das den Roman auf eine zweite Zeitebene klappen lässt: Mit unverkennbarer Lust an der Kolportage fährt Beauman die Kulissen für sein London der frühen dreißiger Jahre auf: schwül-verschwitzte Boxhallen, dekadente Schwulenclubs und von der Mafia gebeutelte Gemüsemärkte. Kaum weniger lustvoll entworfen ist das exzentrische - und fast durchweg männliche - Personal.
Philip Erskine, Sohn aus gutem englischen Hause, Insektenforscher und fanatischer Anhänger der Eugenik und Verehrer Hitlers, verkappter und bedauernswert verklemmter Schwuler noch dazu, ist der eine, der nicht einmal zwanzigjährige jüdische Boxer Seth "Sinner" Roach der andere. Er, der gerade einmal einen Meter fünfzig misst, von Geburt an nur neun Zehen hat, seinen homosexuellen Vorlieben offen nachgeht und bis zur Besinnungslosigkeit trinkt, aber jeden Gegner mit unerbittlicher Kraft und Zähigkeit zu Boden streckt, ist zugleich eine Symbolfigur. Jeder Eugeniker müsste den missgebildeten jungen Mann aus der Welt schaffen wollen. Und doch erliegen ihm besonders die, die wie Erskine nachgerade hysterisch nach abweichungsfreien Ordnungssystemen streben. Sinner ist die Sünde, vor dessen dunklen Reizen kaum einer gefeit ist.
Im Fall von Erskine ist es die homophobe Verlockung, die umso drängender wird, je abschätziger Sinner ihn behandelt. Diese Fixierung könnte der stocksteife Erskine natürlich noch nicht einmal sich selbst eingestehen. Und so wird ihm Sinner, dessen Kräfte unverhältnismäßig sind im Vergleich zu seinem schmächtigen, ja sogar verwachsenen Körper, zum Objekt vermeintlicher Wissenschaftlichkeit, für eine auf die Spitze getriebene eugenische Idee: "Züchtungslemniskate" nennt Erskine das von ihm ersonnene Prinzip, das in einer Variation von Darwins Zuchtwahlgedanken auf der Überzeugung beruht, einzelne Eigenschaften aus Lebewesen quasi herausdestillieren zu können. Was bei Erskine unverhüllt nicht nur in seiner Perversion, sondern auch in seiner ganzen Banalität daherkommt - "Man bewahrt die Gerissenheit des Juden - verdoppelt sie sogar -, aber nicht seine generelle Niedertracht" -, hat nur wenige Jahrzehnte später mit der Entschlüsselung des Genoms seine womöglich kaum weniger fanatische forschungstechnische Grundlage bekommen.
Auch wenn es Erskine schließlich gelingt, den wegen seiner Trunksucht strauchelnden Sinner in sein hauseigenes Labor zu verfrachten, wird ihm das Resultat einer anthropologischen Züchtungslemniskate vorerst nicht vergönnt. Wohl aber das einer anderen: Bei einer Expedition in Polen ist er in einer Höhle auf das Skelett eines bolschewistischen Soldaten gestoßen, aus dessen Brustkorb plötzlich eine Kolonie von Käfern strömt: Augenlos bilden sie auf den dünnen Flügeln unglaublicherweise ein "vollkommenes Tetraskelion im Uhrzeigersinn. Ein Hakenkreuz."
Dass Erskine dieses Insekt zu einem Kampfkäfer mutieren lässt, von dem er ein Exemplar Hitler als Präsent übersendet, ist nicht nur einer der wunderbar skurrilen Gags. Er ist auch das abschließende, schaurig-schillernde Scharnier zur Gegenwart: Auch Fishy wird am Ende vor einem Skelett stehen, aus dem ihm ein schwarzer Käferschwarm entgegenströmt - der ihn nur wegen seines selbst für diese Kreaturen unerträglichen Geruchs nicht auffrisst. Die monströsen und absonderlichen Auswüchse der Geschichte können jederzeit wieder hervorquellen, auch wenn man sie begraben zu haben meinte. Derart moralisch würde Beauman das nie formulieren, viel zu groß ist seine Freude am geschmacklosen Witz, der sich nicht in die Ordnung von Gut und Böse bannen lässt.
WIEBKE POROMBKA
Ned Beauman: "Flieg, Hitler, flieg!". Roman. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. DuMont Verlag, Köln 2010. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Käfer außer Rand und Band: Das Romandebüt des jungen Londoners Ned Beauman erzählt schillernd, gnadenlos böse und wunderbar albern von den Monstrositäten des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dass aus der Angst vor Abweichungen, dem Abscheu vor dem Nichtkonformen und dem unbedingten Verlangen nach Ordnung die himmelschreiendsten Abseitigkeiten allererst erwachsen, ist eine Art anthropologisches Grundmuster. Zweifelsohne wohnt diesem Muster etwas Fatales inne, gleichsam aber auch etwas unterschwellig Faszinierendes. In "Flieg, Hitler, flieg!", dem Romandebüt des erst fünfundzwanzigjährigen Londoners Ned Beauman, das in Deutschland jetzt kurz vor dem englischsprachigen Original erschienen ist, quillt, spritzt und sprudelt es nur so vor Absonderlichkeiten und Perversionen: körperlichen, vor allem aber geistigen und weltanschaulichen.
Einen abgründigen Budenzauber des zwanzigsten Jahrhunderts entspinnt Beauman, in dem Ordnung und Unordnung unabänderlich aufeinandergeworfen sind. Durchrationalisierte Städte werden gebaut, die von absurder Lebensfremdheit sind, Haushalte voller futuristischer Maschinerien erfunden, die außer Kontrolle geraten und ihre Bewohner terrorisieren, oder eine universale, auf strengen Regeln basierende Kunstsprache, die unmöglich zu lernen ist. Und bei alledem verquirlt Beauman Historie und Phantasma durch kriminologische, verschwörungstheoretische und manchmal nur famos alberne Verwicklungen derart miteinander, dass es Thomas Pynchon eine wahre Freude sein dürfte.
Im Epizentrum des Romans steht die größte Abseitigkeit des Jahrhunderts, der Nationalsozialismus mit seinen Theoriegespinsten über Reinigung und Ordnung: der Rasse, der Sprache und der Welt. Bis hinein ins England der Gegenwart reicht seine Strahlkraft, an den Schreibtisch von Kevin Broom, Beaumans Erzähler, genannt Fishy, einem veritablen Computer-Nerd, ehemaligen Buchhalter und passionierten Sammler von Nazi-Memorabilien.
Indes, wie der betont, sammle er nicht aus nationalsozialistischer Gesinnung, sondern aus Faszination an der eigenen psychischen Abnormität. Unbewusst womöglich auch, um der eigenen physischen Abseitigkeit ein würdiges Komplement hinzuzugesellen: Fishy leidet unter Trimethylaminurie, einer seltenen Stoffwechselkrankheit, die dazu führt, dass Schweiß und Urin der Betroffenen penetrant nach altem Fisch riechen. Sein Spitzname rührt also nicht von ungefähr. Und nicht von ungefähr hält er hauptsächlich via Chatroom Kontakt zur Außenwelt, bis er aus der Abgeschiedenheit gerissen und auf eine Spur gesetzt wird, die bei jedem Fetischisten von Nazi-Tand prompte Adrenalinschauder auslösen würde.
Ein Brief, unterschrieben von Hitler höchstpersönlich und versteckt in einem Gefrierfach, ist es, der Fishys Suche in Gang setzt und der das Scharnier bildet, das den Roman auf eine zweite Zeitebene klappen lässt: Mit unverkennbarer Lust an der Kolportage fährt Beauman die Kulissen für sein London der frühen dreißiger Jahre auf: schwül-verschwitzte Boxhallen, dekadente Schwulenclubs und von der Mafia gebeutelte Gemüsemärkte. Kaum weniger lustvoll entworfen ist das exzentrische - und fast durchweg männliche - Personal.
Philip Erskine, Sohn aus gutem englischen Hause, Insektenforscher und fanatischer Anhänger der Eugenik und Verehrer Hitlers, verkappter und bedauernswert verklemmter Schwuler noch dazu, ist der eine, der nicht einmal zwanzigjährige jüdische Boxer Seth "Sinner" Roach der andere. Er, der gerade einmal einen Meter fünfzig misst, von Geburt an nur neun Zehen hat, seinen homosexuellen Vorlieben offen nachgeht und bis zur Besinnungslosigkeit trinkt, aber jeden Gegner mit unerbittlicher Kraft und Zähigkeit zu Boden streckt, ist zugleich eine Symbolfigur. Jeder Eugeniker müsste den missgebildeten jungen Mann aus der Welt schaffen wollen. Und doch erliegen ihm besonders die, die wie Erskine nachgerade hysterisch nach abweichungsfreien Ordnungssystemen streben. Sinner ist die Sünde, vor dessen dunklen Reizen kaum einer gefeit ist.
Im Fall von Erskine ist es die homophobe Verlockung, die umso drängender wird, je abschätziger Sinner ihn behandelt. Diese Fixierung könnte der stocksteife Erskine natürlich noch nicht einmal sich selbst eingestehen. Und so wird ihm Sinner, dessen Kräfte unverhältnismäßig sind im Vergleich zu seinem schmächtigen, ja sogar verwachsenen Körper, zum Objekt vermeintlicher Wissenschaftlichkeit, für eine auf die Spitze getriebene eugenische Idee: "Züchtungslemniskate" nennt Erskine das von ihm ersonnene Prinzip, das in einer Variation von Darwins Zuchtwahlgedanken auf der Überzeugung beruht, einzelne Eigenschaften aus Lebewesen quasi herausdestillieren zu können. Was bei Erskine unverhüllt nicht nur in seiner Perversion, sondern auch in seiner ganzen Banalität daherkommt - "Man bewahrt die Gerissenheit des Juden - verdoppelt sie sogar -, aber nicht seine generelle Niedertracht" -, hat nur wenige Jahrzehnte später mit der Entschlüsselung des Genoms seine womöglich kaum weniger fanatische forschungstechnische Grundlage bekommen.
Auch wenn es Erskine schließlich gelingt, den wegen seiner Trunksucht strauchelnden Sinner in sein hauseigenes Labor zu verfrachten, wird ihm das Resultat einer anthropologischen Züchtungslemniskate vorerst nicht vergönnt. Wohl aber das einer anderen: Bei einer Expedition in Polen ist er in einer Höhle auf das Skelett eines bolschewistischen Soldaten gestoßen, aus dessen Brustkorb plötzlich eine Kolonie von Käfern strömt: Augenlos bilden sie auf den dünnen Flügeln unglaublicherweise ein "vollkommenes Tetraskelion im Uhrzeigersinn. Ein Hakenkreuz."
Dass Erskine dieses Insekt zu einem Kampfkäfer mutieren lässt, von dem er ein Exemplar Hitler als Präsent übersendet, ist nicht nur einer der wunderbar skurrilen Gags. Er ist auch das abschließende, schaurig-schillernde Scharnier zur Gegenwart: Auch Fishy wird am Ende vor einem Skelett stehen, aus dem ihm ein schwarzer Käferschwarm entgegenströmt - der ihn nur wegen seines selbst für diese Kreaturen unerträglichen Geruchs nicht auffrisst. Die monströsen und absonderlichen Auswüchse der Geschichte können jederzeit wieder hervorquellen, auch wenn man sie begraben zu haben meinte. Derart moralisch würde Beauman das nie formulieren, viel zu groß ist seine Freude am geschmacklosen Witz, der sich nicht in die Ordnung von Gut und Böse bannen lässt.
WIEBKE POROMBKA
Ned Beauman: "Flieg, Hitler, flieg!". Roman. Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt. DuMont Verlag, Köln 2010. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
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