In seinem jüngsten Roman zeigt sich Mo Yan auf der Höhe seiner Kunst. In farbenprächtigen, lebensprallen und oft auch komischen Szenen erzählt er von den Schicksalen der Frauen und Kinder in seiner Heimat Gaomi, von Familiendramen in einer ländlich-patriarchalischen Gesellschaft und von den dramatischen Folgen der Geburtenpolitik für die Menschen in China.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2013Ich bin selbst schuldig
Die Nagelprobe auf den Nobelpreis: Was der jetzt auf Deutsch erschienene neue Roman von Mo Yan über China zu erzählen weiß, ist spektakulär. Das Thema von "Frösche" ist die Ein-Kind-Politik der Partei, und von der Mo oft unterstellten Flucht in einen halluzinatorischen Realismus kann dabei keine Rede mehr sein.
PEKING, 26. Februar
Jene Kritiker des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, die sein Werk kennen, stützen sich vor allem auf ein sprachliches Argument: Ausgerechnet mit den Mitteln der literarischen Moderne, mit dem, was das Nobelkomitee seinen "halluzinatorischen Realismus" nannte, schaffe er es, heikle politische Themen zugleich anzusprechen und zu relativieren. Mit einem Feuerwerk an phantastischen Bildern, drastischen Detailschilderungen körperlicher Funktionen, folkloristischen Derbheiten und satirischen Übertreibungen halte er die Beschreibung von Missständen in einer Schwebe, die sie für die staatliche Zensur akzeptabel macht, und wenn er vordergründig die Mao-Sprache auch ständig persifliere, komme er letztlich aus deren Bannkreis nicht heraus. Der Sinologe Perry Link aus Princeton prägte für diesen Stil, der für eine Reihe chinesischer Gegenwartsautoren charakteristisch sei, den Begriff der daft hilarity, einer dümmlichen Lustigkeit, die letztlich apolitisch sei und systemkonform.
All diese Annahmen und Vorwürfe müssen nach der Lektüre von Mo Yans jüngstem Roman "Frösche", der gerade in der ebenso genauen wie flüssigen Übersetzung von Martina Hasse im Hanser Verlag auf Deutsch erschienen ist, revidiert werden. Der erste Fall von halluzinatorischem Realismus tritt dort erst nach mehreren hundert Seiten auf. Die Hauptfigur des Romans, Tante Gugu, die als Hebamme und Funktionärin der chinesischen Ein-Kind-Politik Tausende Kinder aus dem Mutterleib geholt und Tausende andere abgetrieben hat, viele davon mit Gewalt, gerät nach der alkoholisierten Abschiedsfeier von ihrer Arbeitsstelle in einen vom Mondlicht illuminierten Froschtümpel. Frösche stehen mit dem Thema des Romans, der menschlichen Geburt und deren staatlicher Kontrolle, in einem engen Zusammenhang. An mehreren Stellen wird betont, dass die Schriftzeichen für "Baby" und "Frosch" im Chinesischen gleich ausgesprochen werden und dass die Rufe von Fröschen an das Weinen neugeborener Kinder erinnerten.
Die Tante, die sich zeitlebens nie vor etwas gefürchtet hat, verfällt inmitten der millionenfachen Schreie der Frösche, die ihr als Hassschreie in den Ohren gellen, in eine Panik, die sich noch steigert, als eine glitschige Flüssigkeit unter ihren Füßen sie am Weitergehen hindert und sich zahllose Frösche an ihr festsetzen und dabei eine unsagbar eklige Flüssigkeit absondern. Dieses über mehrere Seiten hinweg ausgemalte Bild der von Fröschen überfallenen und bedeckten Frau, eine wahrhaft surreale, eines Hieronymus Bosch würdige Vision, ist im Zusammenhang dieses Romans jedoch keine relativierende Ausschmückung, sondern das Gegenteil: eine Radikalisierung der moralischen These des Romans, der keinerlei Verflüchtigung durch Abstraktion zugestanden wird. In Gestalt der als Frösche erscheinenden ungeborenen Kinder holen die Gewissensqualen über die begangenen Abtreibungen die Tante, die so stolz auf ihren Materialismus ist, mit gewissermaßen materialistischen Mitteln ein. Eine schärfere Abrechnung ist im Rahmen dieses philosophischen Systems nicht möglich.
Doch die Konstruktion des Romans geht über die Veranschaulichung der Monstrosität des staatlichen Zwangsapparats noch hinaus. Anfangs sieht die Erzählweise noch nach dem launig-grotesk unterfütterten Realismus aus, den manche Mo Yan vorwerfen. Wieder einmal schnurren die großen Kämpfe und Parolen der Geschichte auf die mal komischen, mal rüden Binnenverhältnisse der Dörfler von Nordost-Gaomi zusammen, wo fast alle Romane Mos spielen. Diesmal ist es das China der sechziger und siebziger Jahre, das auf solche Weise verlebendigt wird. Die Schrecken nehmen zu, als Tante Gugu, die zunächst nur als resolute Aufklärerin vorgestellt wird, die die abergläubischen Wehmütter vertreibt und mit wissenschaftlichen Methoden vielen Neugeborenen das Leben rettet, zur nicht minder resoluten Vorkämpferin der im Verlauf der siebziger Jahre einsetzenden staatlichen Geburtenkontrolle wird.
Doch auch das Grauenhafte wird mit einem Augenzwinkern erzählt, das man als Verharmlosung verstehen könnte. Selbst die Szene, in der eine Schwangere auf der Flucht vor der kein überzähliges Kind zulassenden Aktivistin im Fluss ertrinkt, gerät zu einem satirischen Kabinettstück, zur Demonstration, wie viele komischen Effekte die offizielle Sprache und Ideologie hervorbringt, wenn sie mit dem realen alltäglichen Leben zusammenstößt. Während das Boot der Geburtenkontrolleure durch den Fluss gleitet, beschallt sein Lautsprecher das Schilf mit Volksliedern aus Hunan zum Lobe des Vorsitzenden Mao.
Der Erzählton bleibt von der humorigen, kolloquial-gemütlichen Art, wie man sich in der Dorfschenke an Kindheitsanekdoten erinnern mag: So war und ist das halt bei uns, eine Art Selbstverständigungsliteratur der unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Sozialisierten. "Ein Sprichwort bei uns sagt", heißt es einmal: "Auf dreißig Jahre ostwärts folgen dreißig Jahre westwärts, so ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf beständig."
Aber dann schlägt der Ton plötzlich um: Der Schrecken sucht auch den bis dahin eher belustigt beiseitestehenden Ich-Erzähler heim. Seine Frau, deren jugendlich witziger Charme ausführlich beschrieben wurde, stirbt bei der durch Gugu erzwungenen Abtreibung ihres zweiten Kindes. Das ist eine dramaturgische Wende, die dadurch noch nachhaltiger wirkt, dass sie psychologisch kaum aufgearbeitet wird. Im Gegenteil, der Ich-Erzähler heiratet kurz danach auch noch Gugus Assistentin. Alles vermeintlich Humorig-Relativierende wird hier seinerseits unterwandert durch etwas, was man wahlweise als Sprachlosigkeit, Unempfindlichkeit oder Schwäche interpretieren kann.
Der Erzähler, der da so unerwartet in die Mitte des Geschehens tritt, sieht sich selbst nicht nur als Opfer. Als Offizier hat er seine Frau beschworen, das Kind abzutreiben, damit er beim Militär bleiben kann und nicht wieder auf dem Land arbeiten muss. Im Gespräch mit dem "Spiegel" hat Mo Yan gesagt, was er auch im Nachwort andeutet: dass dieses Schuldbewusstsein einen autobiographischen Hintergrund hat. "Ich habe, um meiner eigenen Zukunft willen, meine Frau zu einer Abtreibung gedrängt. Ich bin schuldig."
Tatsächlich ist dies, neben der Entfaltung des komplexen Charakters der Hauptfigur Tante Gugu, der zweite Fluchtpunkt des Romans: die sich stückweise immer mehr aufdrängende Notwendigkeit, das eigene Gewissen zum Thema zu machen. "Man muss das eigene Ich auf den Seziertisch legen und genauestens unter die Lupe nehmen", notiert der Ich-Erzähler, der im Roman Theaterautor ist, an einer Stelle. Mo Yan selbst schreibt im Nachwort, er habe sich eine Zeitlang "alle Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken", damit man ihn weder der Käuflichkeit durch Funktionäre bezichtige noch der "Liebedienerei gegenüber dem Westen". Nun aber habe er beschlossen, die "ewig Selbstgerechten" abzuschütteln und sich nur noch auf sein Gewissen zu konzentrieren. Der Roman endet mit selbstquälerischen Fragen, die der Ich-Erzähler an seinen Briefpartner, einen nach dem Vorbild von Kenzaburô Ôe entworfenen japanischen Schriftsteller richtet: "Ist die Seele darin gefangen, dass sie sich eines Verbrechens schuldig fühlt, und muss sie es ewig bleiben? Oder ist Rettung möglich?"
Nun könnte man selbst diese skrupulöse Konzentration auf die individuelle Moral für eine subtile Relativierung der politischen Verhältnisse halten. Doch das würde verkennen, dass es sich bei der Frage um die Mitschuld im Gegenteil um ein bislang verdrängtes höchstpolitisches Thema handelt. In China wird die Ein-Kind-Politik heute sogar von Regierungsberatern kritisiert, weil sie Probleme für die demographische Entwicklung und die Sozialsysteme aufwerfe und weil Zwangsabtreibungen nicht mehr ins Bild der offiziell verordneten Gesellschaftsharmonie passten (gleichwohl kommen sie immer noch vor, weil Funktionäre weiterhin danach beurteilt werden, wie sie das Bevölkerungswachstum kontrollieren). Aber sie wird überhaupt nicht als Gewissensproblem diskutiert, genauso wenig wie der wieder anders gelagerte Fall der Beteiligung weiter Bevölkerungsschichten an den Verbrechen der Kulturrevolution.
Welche Auswirkungen solche Verdrängungsleistungen auf die gegenwärtige chinesische Gesellschaft haben, ist eine noch nicht einmal ansatzweise erörterte Frage. Insofern passt Mo Yan, der dies nun zum Thema macht, entgegen der weit verbreiteten Meinung, in Wirklichkeit überhaupt nicht zum offiziellen staatlichen Diskurs. Dagegen spricht nicht, dass er in der Rollenprosa des Ich-Erzählers auch immer wieder die Argumente der Geburtenkontrolleure stark macht (Dienst an der Menschheit); er ergänzt damit nur die vielschichtige Folie, vor der in der damaligen Realität jeder seine Entscheidungen fällen musste.
Und auch eine formale Schwäche des Romans schmälert diese Stärke nicht: dass die Figur des Ich-Erzählers bis zuletzt ziemlich unscharf bleibt. Diese Blässe könnte sogar ein Indiz für die Ehrlichkeit der Introspektion sein. Ohnehin gehorcht Mo Yans Figurenzeichnung meist weniger den Gesetzen psychologischer Plausibilität als dem Prinzip der satirischen Metapherntauglichkeit. Das gilt sogar für Tante Gugu, die literarische Bearbeitung einer realen Tante des Autors, deren widersprüchliches Verhalten, ein Abbild der fatalen Politik im Ganzen, mit besonderer Genauigkeit rekonstruiert wird. Sie, die sich nach der Flucht ihres Verlobten nach Taiwan ganz der Partei verschreibt, sich auch durch die Misshandlungen während der Kulturrevolution nicht irremachen lässt, und deren robuste Menschenfreundlichkeit in eine martialische Unnachgiebigkeit auf der Jagd nach "illegalen" Kindern umschlägt, endet schließlich, geistig halb umnachtet, beim Anfertigen von "Tonkindern", denen der Volksglaube eine eigentümliche Beseeltheit zuschreibt.
Solche mehrfach gebrochenen, aufeinander Bezug nehmenden Travestien häufen sich, so kunstvoll sie im Einzelnen auch sind, gegen Ende des Romans etwas zu sehr. Ein angefügtes Theaterstück des Ich-Erzählers, das alle Motive auf bitter-burleske Weise noch einmal aufnimmt, fügt dem Plot nichts Neues hinzu.
In den letzten Kapiteln kehrt der Erzähler im neuen Jahrtausend in ein gewandeltes Dorf zurück, wo an die Stelle der ärmlichen Geburtsstation von einst eine hochgerüstete Tempelanlage, ein teures chinesisch-amerikanisches Geburtskrankenhaus und eine Froschzuchtfarm getreten sind, die in Wirklichkeit ein geheimes Leihmütterzentrum ist. Nur die innere Kälte ist geblieben, und die Korruption hat sich vermehrt. Mo Yan hat ein Buch geschrieben, das nicht nur das Bild von ihm selbst verändert, sondern auch von dem, was im Herzen der chinesischen Gesellschaft vor sich geht.
MARK SIEMONS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Nagelprobe auf den Nobelpreis: Was der jetzt auf Deutsch erschienene neue Roman von Mo Yan über China zu erzählen weiß, ist spektakulär. Das Thema von "Frösche" ist die Ein-Kind-Politik der Partei, und von der Mo oft unterstellten Flucht in einen halluzinatorischen Realismus kann dabei keine Rede mehr sein.
PEKING, 26. Februar
Jene Kritiker des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, die sein Werk kennen, stützen sich vor allem auf ein sprachliches Argument: Ausgerechnet mit den Mitteln der literarischen Moderne, mit dem, was das Nobelkomitee seinen "halluzinatorischen Realismus" nannte, schaffe er es, heikle politische Themen zugleich anzusprechen und zu relativieren. Mit einem Feuerwerk an phantastischen Bildern, drastischen Detailschilderungen körperlicher Funktionen, folkloristischen Derbheiten und satirischen Übertreibungen halte er die Beschreibung von Missständen in einer Schwebe, die sie für die staatliche Zensur akzeptabel macht, und wenn er vordergründig die Mao-Sprache auch ständig persifliere, komme er letztlich aus deren Bannkreis nicht heraus. Der Sinologe Perry Link aus Princeton prägte für diesen Stil, der für eine Reihe chinesischer Gegenwartsautoren charakteristisch sei, den Begriff der daft hilarity, einer dümmlichen Lustigkeit, die letztlich apolitisch sei und systemkonform.
All diese Annahmen und Vorwürfe müssen nach der Lektüre von Mo Yans jüngstem Roman "Frösche", der gerade in der ebenso genauen wie flüssigen Übersetzung von Martina Hasse im Hanser Verlag auf Deutsch erschienen ist, revidiert werden. Der erste Fall von halluzinatorischem Realismus tritt dort erst nach mehreren hundert Seiten auf. Die Hauptfigur des Romans, Tante Gugu, die als Hebamme und Funktionärin der chinesischen Ein-Kind-Politik Tausende Kinder aus dem Mutterleib geholt und Tausende andere abgetrieben hat, viele davon mit Gewalt, gerät nach der alkoholisierten Abschiedsfeier von ihrer Arbeitsstelle in einen vom Mondlicht illuminierten Froschtümpel. Frösche stehen mit dem Thema des Romans, der menschlichen Geburt und deren staatlicher Kontrolle, in einem engen Zusammenhang. An mehreren Stellen wird betont, dass die Schriftzeichen für "Baby" und "Frosch" im Chinesischen gleich ausgesprochen werden und dass die Rufe von Fröschen an das Weinen neugeborener Kinder erinnerten.
Die Tante, die sich zeitlebens nie vor etwas gefürchtet hat, verfällt inmitten der millionenfachen Schreie der Frösche, die ihr als Hassschreie in den Ohren gellen, in eine Panik, die sich noch steigert, als eine glitschige Flüssigkeit unter ihren Füßen sie am Weitergehen hindert und sich zahllose Frösche an ihr festsetzen und dabei eine unsagbar eklige Flüssigkeit absondern. Dieses über mehrere Seiten hinweg ausgemalte Bild der von Fröschen überfallenen und bedeckten Frau, eine wahrhaft surreale, eines Hieronymus Bosch würdige Vision, ist im Zusammenhang dieses Romans jedoch keine relativierende Ausschmückung, sondern das Gegenteil: eine Radikalisierung der moralischen These des Romans, der keinerlei Verflüchtigung durch Abstraktion zugestanden wird. In Gestalt der als Frösche erscheinenden ungeborenen Kinder holen die Gewissensqualen über die begangenen Abtreibungen die Tante, die so stolz auf ihren Materialismus ist, mit gewissermaßen materialistischen Mitteln ein. Eine schärfere Abrechnung ist im Rahmen dieses philosophischen Systems nicht möglich.
Doch die Konstruktion des Romans geht über die Veranschaulichung der Monstrosität des staatlichen Zwangsapparats noch hinaus. Anfangs sieht die Erzählweise noch nach dem launig-grotesk unterfütterten Realismus aus, den manche Mo Yan vorwerfen. Wieder einmal schnurren die großen Kämpfe und Parolen der Geschichte auf die mal komischen, mal rüden Binnenverhältnisse der Dörfler von Nordost-Gaomi zusammen, wo fast alle Romane Mos spielen. Diesmal ist es das China der sechziger und siebziger Jahre, das auf solche Weise verlebendigt wird. Die Schrecken nehmen zu, als Tante Gugu, die zunächst nur als resolute Aufklärerin vorgestellt wird, die die abergläubischen Wehmütter vertreibt und mit wissenschaftlichen Methoden vielen Neugeborenen das Leben rettet, zur nicht minder resoluten Vorkämpferin der im Verlauf der siebziger Jahre einsetzenden staatlichen Geburtenkontrolle wird.
Doch auch das Grauenhafte wird mit einem Augenzwinkern erzählt, das man als Verharmlosung verstehen könnte. Selbst die Szene, in der eine Schwangere auf der Flucht vor der kein überzähliges Kind zulassenden Aktivistin im Fluss ertrinkt, gerät zu einem satirischen Kabinettstück, zur Demonstration, wie viele komischen Effekte die offizielle Sprache und Ideologie hervorbringt, wenn sie mit dem realen alltäglichen Leben zusammenstößt. Während das Boot der Geburtenkontrolleure durch den Fluss gleitet, beschallt sein Lautsprecher das Schilf mit Volksliedern aus Hunan zum Lobe des Vorsitzenden Mao.
Der Erzählton bleibt von der humorigen, kolloquial-gemütlichen Art, wie man sich in der Dorfschenke an Kindheitsanekdoten erinnern mag: So war und ist das halt bei uns, eine Art Selbstverständigungsliteratur der unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei Sozialisierten. "Ein Sprichwort bei uns sagt", heißt es einmal: "Auf dreißig Jahre ostwärts folgen dreißig Jahre westwärts, so ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf beständig."
Aber dann schlägt der Ton plötzlich um: Der Schrecken sucht auch den bis dahin eher belustigt beiseitestehenden Ich-Erzähler heim. Seine Frau, deren jugendlich witziger Charme ausführlich beschrieben wurde, stirbt bei der durch Gugu erzwungenen Abtreibung ihres zweiten Kindes. Das ist eine dramaturgische Wende, die dadurch noch nachhaltiger wirkt, dass sie psychologisch kaum aufgearbeitet wird. Im Gegenteil, der Ich-Erzähler heiratet kurz danach auch noch Gugus Assistentin. Alles vermeintlich Humorig-Relativierende wird hier seinerseits unterwandert durch etwas, was man wahlweise als Sprachlosigkeit, Unempfindlichkeit oder Schwäche interpretieren kann.
Der Erzähler, der da so unerwartet in die Mitte des Geschehens tritt, sieht sich selbst nicht nur als Opfer. Als Offizier hat er seine Frau beschworen, das Kind abzutreiben, damit er beim Militär bleiben kann und nicht wieder auf dem Land arbeiten muss. Im Gespräch mit dem "Spiegel" hat Mo Yan gesagt, was er auch im Nachwort andeutet: dass dieses Schuldbewusstsein einen autobiographischen Hintergrund hat. "Ich habe, um meiner eigenen Zukunft willen, meine Frau zu einer Abtreibung gedrängt. Ich bin schuldig."
Tatsächlich ist dies, neben der Entfaltung des komplexen Charakters der Hauptfigur Tante Gugu, der zweite Fluchtpunkt des Romans: die sich stückweise immer mehr aufdrängende Notwendigkeit, das eigene Gewissen zum Thema zu machen. "Man muss das eigene Ich auf den Seziertisch legen und genauestens unter die Lupe nehmen", notiert der Ich-Erzähler, der im Roman Theaterautor ist, an einer Stelle. Mo Yan selbst schreibt im Nachwort, er habe sich eine Zeitlang "alle Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken", damit man ihn weder der Käuflichkeit durch Funktionäre bezichtige noch der "Liebedienerei gegenüber dem Westen". Nun aber habe er beschlossen, die "ewig Selbstgerechten" abzuschütteln und sich nur noch auf sein Gewissen zu konzentrieren. Der Roman endet mit selbstquälerischen Fragen, die der Ich-Erzähler an seinen Briefpartner, einen nach dem Vorbild von Kenzaburô Ôe entworfenen japanischen Schriftsteller richtet: "Ist die Seele darin gefangen, dass sie sich eines Verbrechens schuldig fühlt, und muss sie es ewig bleiben? Oder ist Rettung möglich?"
Nun könnte man selbst diese skrupulöse Konzentration auf die individuelle Moral für eine subtile Relativierung der politischen Verhältnisse halten. Doch das würde verkennen, dass es sich bei der Frage um die Mitschuld im Gegenteil um ein bislang verdrängtes höchstpolitisches Thema handelt. In China wird die Ein-Kind-Politik heute sogar von Regierungsberatern kritisiert, weil sie Probleme für die demographische Entwicklung und die Sozialsysteme aufwerfe und weil Zwangsabtreibungen nicht mehr ins Bild der offiziell verordneten Gesellschaftsharmonie passten (gleichwohl kommen sie immer noch vor, weil Funktionäre weiterhin danach beurteilt werden, wie sie das Bevölkerungswachstum kontrollieren). Aber sie wird überhaupt nicht als Gewissensproblem diskutiert, genauso wenig wie der wieder anders gelagerte Fall der Beteiligung weiter Bevölkerungsschichten an den Verbrechen der Kulturrevolution.
Welche Auswirkungen solche Verdrängungsleistungen auf die gegenwärtige chinesische Gesellschaft haben, ist eine noch nicht einmal ansatzweise erörterte Frage. Insofern passt Mo Yan, der dies nun zum Thema macht, entgegen der weit verbreiteten Meinung, in Wirklichkeit überhaupt nicht zum offiziellen staatlichen Diskurs. Dagegen spricht nicht, dass er in der Rollenprosa des Ich-Erzählers auch immer wieder die Argumente der Geburtenkontrolleure stark macht (Dienst an der Menschheit); er ergänzt damit nur die vielschichtige Folie, vor der in der damaligen Realität jeder seine Entscheidungen fällen musste.
Und auch eine formale Schwäche des Romans schmälert diese Stärke nicht: dass die Figur des Ich-Erzählers bis zuletzt ziemlich unscharf bleibt. Diese Blässe könnte sogar ein Indiz für die Ehrlichkeit der Introspektion sein. Ohnehin gehorcht Mo Yans Figurenzeichnung meist weniger den Gesetzen psychologischer Plausibilität als dem Prinzip der satirischen Metapherntauglichkeit. Das gilt sogar für Tante Gugu, die literarische Bearbeitung einer realen Tante des Autors, deren widersprüchliches Verhalten, ein Abbild der fatalen Politik im Ganzen, mit besonderer Genauigkeit rekonstruiert wird. Sie, die sich nach der Flucht ihres Verlobten nach Taiwan ganz der Partei verschreibt, sich auch durch die Misshandlungen während der Kulturrevolution nicht irremachen lässt, und deren robuste Menschenfreundlichkeit in eine martialische Unnachgiebigkeit auf der Jagd nach "illegalen" Kindern umschlägt, endet schließlich, geistig halb umnachtet, beim Anfertigen von "Tonkindern", denen der Volksglaube eine eigentümliche Beseeltheit zuschreibt.
Solche mehrfach gebrochenen, aufeinander Bezug nehmenden Travestien häufen sich, so kunstvoll sie im Einzelnen auch sind, gegen Ende des Romans etwas zu sehr. Ein angefügtes Theaterstück des Ich-Erzählers, das alle Motive auf bitter-burleske Weise noch einmal aufnimmt, fügt dem Plot nichts Neues hinzu.
In den letzten Kapiteln kehrt der Erzähler im neuen Jahrtausend in ein gewandeltes Dorf zurück, wo an die Stelle der ärmlichen Geburtsstation von einst eine hochgerüstete Tempelanlage, ein teures chinesisch-amerikanisches Geburtskrankenhaus und eine Froschzuchtfarm getreten sind, die in Wirklichkeit ein geheimes Leihmütterzentrum ist. Nur die innere Kälte ist geblieben, und die Korruption hat sich vermehrt. Mo Yan hat ein Buch geschrieben, das nicht nur das Bild von ihm selbst verändert, sondern auch von dem, was im Herzen der chinesischen Gesellschaft vor sich geht.
MARK SIEMONS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein beeindruckendes Hörbuch." hr2 Kultur 20130301