»Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.«
Cordelia, unehelich geboren, ist eine »Dreivierteljüdin«, ihre Mutter eine berühmte Schriftstellerin und glühende Katholikin. Im entscheidenden Moment schützt diese nicht ihre Tochter, sondern rettet sich selbst. Mit 14 Jahren wird Cordelia Edvardson nach Auschwitz deportiert.
Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter, die tastende Suche nach einer Identität, der Versuch, dem Grauen der Vergangenheit ungeschützt ins Gesicht zu sehen.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, gelesen von Ulrich Noethen.
Cordelia, unehelich geboren, ist eine »Dreivierteljüdin«, ihre Mutter eine berühmte Schriftstellerin und glühende Katholikin. Im entscheidenden Moment schützt diese nicht ihre Tochter, sondern rettet sich selbst. Mit 14 Jahren wird Cordelia Edvardson nach Auschwitz deportiert.
Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter, die tastende Suche nach einer Identität, der Versuch, dem Grauen der Vergangenheit ungeschützt ins Gesicht zu sehen.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann, gelesen von Ulrich Noethen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Kein Recht auf Ignoranz
Leise gesprochen: Nina Kunzendorf hat Cordelia Edvardsons „Gebranntes
Kind sucht das Feuer“ gelesen, den erschütternden Roman einer Überlebenden.
VON GUSTAV SEIBT
Zu Recht sagt Daniel Kehlmann im Nachwort zur Neuübersetzung von Cordelia Edvardsons zuerst 1984 erschienenem Lebensbericht „Gebranntes Kind sucht das Feuer“, er sei eine furchtbare Lektüre. Der oft zu leicht gebrachte Hinweis trigger warning sei hier tatsächlich am Platz: „Man muss gefährdete Menschen vor diesem Text warnen.“ Eine bis zum unerträglichen Extrem gesteigerte Mutter-Tochter-Beziehung zeige er und Details aus der Realität der Vernichtungslager, „die wir lieber nicht wissen würden – die wir aber wissen müssen; denn da es nun einmal geschehen ist, haben wir kein Recht auf Ignoranz“.
Es war eine gute Entscheidung, dieses kurze, entsetzte Nachwort in das Hörbuch aufzunehmen, eigens gesprochen von Ulrich Noethen. Was Kehlmann sagt, trifft zu: Auch oder gerade in Nina Kunzendorfs zurückgenommener, fast leiser Interpretation entfaltet der Text eine Wucht, eine mahlstromartige Anziehungskraft, die man erst einmal verkraften muss. So kurz „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ist, so raffiniert ist das als Roman bezeichnete Buch aufgebaut. Der Bericht vom Abtransport des jungen, noch halbwüchsigen Mädchens (Cordelia ist erst vierzehn Jahre alt) im Jahr 1943 zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz, wird gegengeschnitten mit der Familiengeschichte, die die Voraussetzung der Tragödie ist.
Es ist ein fast antikischer Fluch, denn Edvardsons Mutter war die aus einer außerehelichen Affäre hervorgegangene Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, deren leiblicher Vater Jude war. Langgässer hatte nun ebenfalls ein uneheliches Kind mit einem Juden, Cordelias Vater Hermann Heller (dessen berühmter Name in dem Buch nicht auftaucht). Zum doppelten bürgerlichen Stigma kommt seit 1933 die rassische Verfolgung: Langgässer gilt als „Halbjüdin“, Cordelia ist „Volljüdin“.
Die Fluchhaftigkeit der Konstellation entfaltet sich umso schauriger, als sie vor dem Kind beschwiegen wird. Erst Schritt für Schritt begreift es seine tödliche Lage, während im Vordergrund noch eine Fassade gepflegter Bürgerlichkeit aufrechterhalten wird. Die Spannung zwischen Vordergrund und Hintergrund – viel mehr als eine Plotspannung – ist zerreißend. Sie kulminiert in dem fürchterlichen Moment, in dem das Kind eine schon mögliche Rettung – die Mutter hat eine Adoption arrangiert, die Cordelia die spanische Staatsbürgerschaft öffnen würde – ausschlagen muss, damit nicht an ihrer Stelle die Mutter abtransportiert wird. Es gibt in der gesamten Weltliteratur kaum eine zweite so schreckliche und dabei so lakonische Szene. Man denkt an die Alkestis des Euripides, die für ihren Ehemann in die Unterwelt geht. Dass die hoch katholische Autorin Elisabeth Langgässer nach dem Krieg die Erfahrungen ihrer Tochter in den Lagern als Romanstoff verwendete, grenzt ans Unfassbare.
Die Darstellung der Lagerwelt ist gerahmt durch ein privates Unheil, das schon ohne rassische Verfolgung grauenhaft wäre. Dass dieses sich aber unentwirrbar mit dem Kollektivschicksal der Juden verbindet, macht die Welt des Buches höllisch. Edvardsons Stärke zeigt sich auch in der vollkommenen Schonungslosigkeit gegen sich selbst. Eine zweite, eigentlich unerträgliche Szene zeigt das zum ersten Mal in ein schönes Ballkleid gewandete Mädchen, dessen Familienhintergrund noch Geheimnis ist, wie es auf einer Hochzeit unter Hakenkreuzfahnen ausgerechnet von einem schmucken SS-Offizier im Tanz durch die Luft gewirbelt wird und dabei vor Angst die Kontrolle über seine Körperfunktionen verliert.
Man begreift, dass bei solcher Beschämung nur Tonlosigkeit angemessen ist. Nina Kunzendorf verzichtet auf alle schauspielerische Ausgestaltung ihres Vortrags. Edvardsons Buch ist kalt, stolz und bitter. Der Blick auf die Realität der Lager zeigt im Gegensatz zum Klischee von einer klinisch sauberen Vernichtungsmaschinerie eine Welt der Zügellosigkeit, der Verwahrlosung, in der von Fall zu Fall alles erlaubt ist, für die, die Macht haben, auch in der Gesellschaft der Häftlinge. Zwar gibt es Erbarmen, aber es ist so punktuell und verloren, dass kaum Wärme davon ausstrahlt.
Wie andere Überlebende, Primo Levi zum Beispiel, macht Edvardson auch das Weiterleben zum Thema. Und hier gewinnt das Buch eine unvorhergesehene Aktualität und Dringlichkeit. Die nach dem Krieg nach Schweden ausgewanderte Edvardson wird Korrespondentin in Israel und israelische Staatsbürgerin. Dort erlebt sie 1973 kämpfende jüdische Soldaten, und allein die Tatsache, dass es so etwas gibt: einen Staat für die Juden, der Soldaten hat, vermittelt viel mehr als die Rettung aus dem Vernichtungslager ein Gefühl von Erleichterung. Wie verzweifelt nötig die Existenz des Staates Israel für die Entronnenen der Vernichtung wurde, nicht nur aus Gründen des Schutzes, sondern im tieferen Sinn von Selbstrettung aus der Ohnmacht, hier lässt es sich ein für alle Male begreifen. Wenn man durch die Hölle des davorliegenden Berichts gegangen ist.
Noch die letzte Seite des Buches ist eine Antwort auf das berühmteste Buch von Cordelia Edvardsons Mutter, Elisabeth Langgässers Roman „Das unauslöschliche Siegel“. Dort wird die Erlösung der Juden durch Verchristlichung imaginiert. Die Tochter aber schreibt: „Sie“ (die Erzählerin, die in der dritten Person von sich redet) „war ein Teil ihres Volks, ein Glied im Bund des unauslöschlichen Siegels“.
Erst Schritt für Schritt
begreift das Kind
seine tödliche Lage
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Lesung mit Nina Kunzendorf und einem Nachwort von Daniel Kehlmann, gelesen von Ulrich Noethen. 3 Stunden 52 Minuten. Argon Hörbuch, Berlin 2023, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Leise gesprochen: Nina Kunzendorf hat Cordelia Edvardsons „Gebranntes
Kind sucht das Feuer“ gelesen, den erschütternden Roman einer Überlebenden.
VON GUSTAV SEIBT
Zu Recht sagt Daniel Kehlmann im Nachwort zur Neuübersetzung von Cordelia Edvardsons zuerst 1984 erschienenem Lebensbericht „Gebranntes Kind sucht das Feuer“, er sei eine furchtbare Lektüre. Der oft zu leicht gebrachte Hinweis trigger warning sei hier tatsächlich am Platz: „Man muss gefährdete Menschen vor diesem Text warnen.“ Eine bis zum unerträglichen Extrem gesteigerte Mutter-Tochter-Beziehung zeige er und Details aus der Realität der Vernichtungslager, „die wir lieber nicht wissen würden – die wir aber wissen müssen; denn da es nun einmal geschehen ist, haben wir kein Recht auf Ignoranz“.
Es war eine gute Entscheidung, dieses kurze, entsetzte Nachwort in das Hörbuch aufzunehmen, eigens gesprochen von Ulrich Noethen. Was Kehlmann sagt, trifft zu: Auch oder gerade in Nina Kunzendorfs zurückgenommener, fast leiser Interpretation entfaltet der Text eine Wucht, eine mahlstromartige Anziehungskraft, die man erst einmal verkraften muss. So kurz „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ist, so raffiniert ist das als Roman bezeichnete Buch aufgebaut. Der Bericht vom Abtransport des jungen, noch halbwüchsigen Mädchens (Cordelia ist erst vierzehn Jahre alt) im Jahr 1943 zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz, wird gegengeschnitten mit der Familiengeschichte, die die Voraussetzung der Tragödie ist.
Es ist ein fast antikischer Fluch, denn Edvardsons Mutter war die aus einer außerehelichen Affäre hervorgegangene Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, deren leiblicher Vater Jude war. Langgässer hatte nun ebenfalls ein uneheliches Kind mit einem Juden, Cordelias Vater Hermann Heller (dessen berühmter Name in dem Buch nicht auftaucht). Zum doppelten bürgerlichen Stigma kommt seit 1933 die rassische Verfolgung: Langgässer gilt als „Halbjüdin“, Cordelia ist „Volljüdin“.
Die Fluchhaftigkeit der Konstellation entfaltet sich umso schauriger, als sie vor dem Kind beschwiegen wird. Erst Schritt für Schritt begreift es seine tödliche Lage, während im Vordergrund noch eine Fassade gepflegter Bürgerlichkeit aufrechterhalten wird. Die Spannung zwischen Vordergrund und Hintergrund – viel mehr als eine Plotspannung – ist zerreißend. Sie kulminiert in dem fürchterlichen Moment, in dem das Kind eine schon mögliche Rettung – die Mutter hat eine Adoption arrangiert, die Cordelia die spanische Staatsbürgerschaft öffnen würde – ausschlagen muss, damit nicht an ihrer Stelle die Mutter abtransportiert wird. Es gibt in der gesamten Weltliteratur kaum eine zweite so schreckliche und dabei so lakonische Szene. Man denkt an die Alkestis des Euripides, die für ihren Ehemann in die Unterwelt geht. Dass die hoch katholische Autorin Elisabeth Langgässer nach dem Krieg die Erfahrungen ihrer Tochter in den Lagern als Romanstoff verwendete, grenzt ans Unfassbare.
Die Darstellung der Lagerwelt ist gerahmt durch ein privates Unheil, das schon ohne rassische Verfolgung grauenhaft wäre. Dass dieses sich aber unentwirrbar mit dem Kollektivschicksal der Juden verbindet, macht die Welt des Buches höllisch. Edvardsons Stärke zeigt sich auch in der vollkommenen Schonungslosigkeit gegen sich selbst. Eine zweite, eigentlich unerträgliche Szene zeigt das zum ersten Mal in ein schönes Ballkleid gewandete Mädchen, dessen Familienhintergrund noch Geheimnis ist, wie es auf einer Hochzeit unter Hakenkreuzfahnen ausgerechnet von einem schmucken SS-Offizier im Tanz durch die Luft gewirbelt wird und dabei vor Angst die Kontrolle über seine Körperfunktionen verliert.
Man begreift, dass bei solcher Beschämung nur Tonlosigkeit angemessen ist. Nina Kunzendorf verzichtet auf alle schauspielerische Ausgestaltung ihres Vortrags. Edvardsons Buch ist kalt, stolz und bitter. Der Blick auf die Realität der Lager zeigt im Gegensatz zum Klischee von einer klinisch sauberen Vernichtungsmaschinerie eine Welt der Zügellosigkeit, der Verwahrlosung, in der von Fall zu Fall alles erlaubt ist, für die, die Macht haben, auch in der Gesellschaft der Häftlinge. Zwar gibt es Erbarmen, aber es ist so punktuell und verloren, dass kaum Wärme davon ausstrahlt.
Wie andere Überlebende, Primo Levi zum Beispiel, macht Edvardson auch das Weiterleben zum Thema. Und hier gewinnt das Buch eine unvorhergesehene Aktualität und Dringlichkeit. Die nach dem Krieg nach Schweden ausgewanderte Edvardson wird Korrespondentin in Israel und israelische Staatsbürgerin. Dort erlebt sie 1973 kämpfende jüdische Soldaten, und allein die Tatsache, dass es so etwas gibt: einen Staat für die Juden, der Soldaten hat, vermittelt viel mehr als die Rettung aus dem Vernichtungslager ein Gefühl von Erleichterung. Wie verzweifelt nötig die Existenz des Staates Israel für die Entronnenen der Vernichtung wurde, nicht nur aus Gründen des Schutzes, sondern im tieferen Sinn von Selbstrettung aus der Ohnmacht, hier lässt es sich ein für alle Male begreifen. Wenn man durch die Hölle des davorliegenden Berichts gegangen ist.
Noch die letzte Seite des Buches ist eine Antwort auf das berühmteste Buch von Cordelia Edvardsons Mutter, Elisabeth Langgässers Roman „Das unauslöschliche Siegel“. Dort wird die Erlösung der Juden durch Verchristlichung imaginiert. Die Tochter aber schreibt: „Sie“ (die Erzählerin, die in der dritten Person von sich redet) „war ein Teil ihres Volks, ein Glied im Bund des unauslöschlichen Siegels“.
Erst Schritt für Schritt
begreift das Kind
seine tödliche Lage
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Lesung mit Nina Kunzendorf und einem Nachwort von Daniel Kehlmann, gelesen von Ulrich Noethen. 3 Stunden 52 Minuten. Argon Hörbuch, Berlin 2023, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2023Der Blick des Mädchens auf die Kälte
Eines der großen Werke der Schoa-Literatur erscheint in deutscher Neuübersetzung
Der autobiographische Roman der Journalistin Cordelia Edvardson ist schon einmal auf Deutsch erschienen, 1986, ebenfalls bei Hanser. Doch es gibt Dinge und Verhältnisse, die muss jede Generation für sich neu klären und durchdenken; dieser Roman gehört dazu. Eine Erzählung aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens aus dem Inneren der jede menschliche Regung zurückweisenden, strikt verwaltenden Realität von Auschwitz kann nicht mehr neu geschrieben werden. Also sollte man diejenigen, die es gibt, immer wieder zur Kenntnis nehmen.
Die Hauptfigur, "das Mädchen", wächst als uneheliche Tochter, Jahrgang 1929, des jüdischen Staatsrechtlers Hermann Heller und der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer bei Mutter und Oma in Berlin auf; nach der Heirat von Langgässer mit dem Journalisten Wilhelm Hofmann, 1935, lebte die Familie in der Siedlung Eichkamp. Die Mutter (deren Werk man nicht unbedingt mehr kennen muss) versuchte, mit der Adoption von Cordelia durch ein spanisches Ehepaar die Nürnberger Rassegesetze zu umgehen. Das misslang administrativ; nur eine doppelte Staatsbürgerschaft wäre möglich gewesen, die wiederum hätte kein Visum nach Spanien möglich gemacht. Also wird die kleine Cordelia via Theresienstadt nach Auschwitz deportiert; sie überlebt und ist dort unter anderem im Sekretariat von Josef Mengele tätig. Nach der Befreiung gelangte sie mit einem der "Weißen Busse" im Frühjahr 1945 nach Schweden, wo sie Journalistin wurde. Von 1977 bis 2006 lebte sie in Israel, ehe sie nach Stockholm zurückzog, wo sie 2012 starb.
In höchstem Grad bemerkenswert, ja bewundernswert ist der vollkommen trockene Ton dieser großen und bedeutenden autobiographischen Erzählung. Sowohl die verworrenen Familienverhältnisse als auch der immer stärker eine Rolle spielende "Rassestatus" auf der Grundlage der Nazigesetze und die mit ihnen zusammenhängenden idiotisch bis wahnwitzig anmutenden Verwaltungsvorgänge (besonders auch im Zusammenhang der geplanten Adoption) gelangen so tatsächlich zur Sprache. Edvardson gelingt ein fast unbeteiligter, aber desto genauerer, fast böser Blick auf das eigene Schicksal, auf ihre Mutter und den Stiefvater, auf Schule und Umwelt. So ganz allmählich findet sie ihre Rolle als "Auserwählte" - eine muss auserwählt sein, um beim BDM rauszufliegen oder die Schule nicht mehr betreten zu dürfen.
Die daraus resultierenden emotionalen Achterbahnfahrten werden in höchster Genauigkeit ebenfalls aus der Innenperspektive des "Mädchens" erzählt. Das erinnert an den Befund von Karl Kraus, es seien "die Verhältnisse" gewesen, die den Ersten Weltkrieg verursacht hätten; die abgrundtief zynische Bemerkung, extrapoliert mit Blick auf die größte kollektive Gewaltanwendung gegen sich selbst in Deutschland, lässt eine Ahnung davon entstehen, was es mit Hannah Arendts Befund von der Banalität des Bösen tatsächlich auf sich haben mag.
Zeitgeschichtlich interessant ist auch die Schilderung der Aufnahme in eine gutbürgerliche Familie in Schweden im Spätjahr 1945. Die nun sechzehnjährige Cordelia kann mit dem ihr gegenüber sanft formulierten "Ach Kindchen, es ist doch alles vorbei, du musst gesund werden und alles vergessen" nichts anfangen; sie sehnt sich nach dem Status ihrer Auserwähltheit, mit dem sie Kindheit und Jugend, einschließlich der Jahre in Theresienstadt und Auschwitz, so bewältigen konnte, dass sie überlebte. Ihr Argument gegenüber der Mama der neuen Familie: "Aber ich möchte nicht gesund werden. Ich wünschte, ich wäre tot! Alle anderen sind doch tot. Sie sterben immer noch." Stille im weihnachtlichen Familienkreis. Sie hatte ins Schwarze getroffen.
Das führt - zeitgeschichtlich - zur häufiger als nötig gepriesenen schwedischen Neutralität; eine auf ihr fußende, klar menschenrechtlich verstandene Haltung entwickelte sich im einzigen, nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg verwickelten skandinavischen Land erst zögerlich von etwa 1943 an, als alle ahnen konnten, dass es mit Nazideutschland dem verdienten Ende zugehen würde. Die vorherige Verbindung Schwedens zu Deutschland ist noch nicht so aufgearbeitet, wie es angemessen, angesichts der aktuellen faktischen Regierungsbeteiligung einer rechtsextremen Partei wie den Schwedendemokraten sogar aus einer europäischen Perspektive angezeigt wäre.
Daniel Kehlmann hat der - übrigens untadeligen, sehr gelungenen - Neuübersetzung von Ursel Allenstein ein Nachwort hinzugefügt, das alle Vorzüge der autobiographischen Erzählung einfängt; vor allem den Vorzug, dass hier nichts nachgedichtet wurde. Und: Dass die seelische Austrocknung, die in den Konzentrationslagern stattfand, die Existenz des Individuums vernichtete.
Die unermesslich große Leistung von Cordelia Edvardson besteht darin, wieder zu reicher Individualität gefunden zu haben und mit ihrem kurzen, sehr großen Buch auch von der grauen Kälte und dem Nichts aus dem Inneren der Lager gesprochen zu haben. Stephan Opitz
Cordelia Edvardson: "Gebranntes Kind sucht das Feuer". Roman.
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Hanser Verlag, München 2023. 144 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eines der großen Werke der Schoa-Literatur erscheint in deutscher Neuübersetzung
Der autobiographische Roman der Journalistin Cordelia Edvardson ist schon einmal auf Deutsch erschienen, 1986, ebenfalls bei Hanser. Doch es gibt Dinge und Verhältnisse, die muss jede Generation für sich neu klären und durchdenken; dieser Roman gehört dazu. Eine Erzählung aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens aus dem Inneren der jede menschliche Regung zurückweisenden, strikt verwaltenden Realität von Auschwitz kann nicht mehr neu geschrieben werden. Also sollte man diejenigen, die es gibt, immer wieder zur Kenntnis nehmen.
Die Hauptfigur, "das Mädchen", wächst als uneheliche Tochter, Jahrgang 1929, des jüdischen Staatsrechtlers Hermann Heller und der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer bei Mutter und Oma in Berlin auf; nach der Heirat von Langgässer mit dem Journalisten Wilhelm Hofmann, 1935, lebte die Familie in der Siedlung Eichkamp. Die Mutter (deren Werk man nicht unbedingt mehr kennen muss) versuchte, mit der Adoption von Cordelia durch ein spanisches Ehepaar die Nürnberger Rassegesetze zu umgehen. Das misslang administrativ; nur eine doppelte Staatsbürgerschaft wäre möglich gewesen, die wiederum hätte kein Visum nach Spanien möglich gemacht. Also wird die kleine Cordelia via Theresienstadt nach Auschwitz deportiert; sie überlebt und ist dort unter anderem im Sekretariat von Josef Mengele tätig. Nach der Befreiung gelangte sie mit einem der "Weißen Busse" im Frühjahr 1945 nach Schweden, wo sie Journalistin wurde. Von 1977 bis 2006 lebte sie in Israel, ehe sie nach Stockholm zurückzog, wo sie 2012 starb.
In höchstem Grad bemerkenswert, ja bewundernswert ist der vollkommen trockene Ton dieser großen und bedeutenden autobiographischen Erzählung. Sowohl die verworrenen Familienverhältnisse als auch der immer stärker eine Rolle spielende "Rassestatus" auf der Grundlage der Nazigesetze und die mit ihnen zusammenhängenden idiotisch bis wahnwitzig anmutenden Verwaltungsvorgänge (besonders auch im Zusammenhang der geplanten Adoption) gelangen so tatsächlich zur Sprache. Edvardson gelingt ein fast unbeteiligter, aber desto genauerer, fast böser Blick auf das eigene Schicksal, auf ihre Mutter und den Stiefvater, auf Schule und Umwelt. So ganz allmählich findet sie ihre Rolle als "Auserwählte" - eine muss auserwählt sein, um beim BDM rauszufliegen oder die Schule nicht mehr betreten zu dürfen.
Die daraus resultierenden emotionalen Achterbahnfahrten werden in höchster Genauigkeit ebenfalls aus der Innenperspektive des "Mädchens" erzählt. Das erinnert an den Befund von Karl Kraus, es seien "die Verhältnisse" gewesen, die den Ersten Weltkrieg verursacht hätten; die abgrundtief zynische Bemerkung, extrapoliert mit Blick auf die größte kollektive Gewaltanwendung gegen sich selbst in Deutschland, lässt eine Ahnung davon entstehen, was es mit Hannah Arendts Befund von der Banalität des Bösen tatsächlich auf sich haben mag.
Zeitgeschichtlich interessant ist auch die Schilderung der Aufnahme in eine gutbürgerliche Familie in Schweden im Spätjahr 1945. Die nun sechzehnjährige Cordelia kann mit dem ihr gegenüber sanft formulierten "Ach Kindchen, es ist doch alles vorbei, du musst gesund werden und alles vergessen" nichts anfangen; sie sehnt sich nach dem Status ihrer Auserwähltheit, mit dem sie Kindheit und Jugend, einschließlich der Jahre in Theresienstadt und Auschwitz, so bewältigen konnte, dass sie überlebte. Ihr Argument gegenüber der Mama der neuen Familie: "Aber ich möchte nicht gesund werden. Ich wünschte, ich wäre tot! Alle anderen sind doch tot. Sie sterben immer noch." Stille im weihnachtlichen Familienkreis. Sie hatte ins Schwarze getroffen.
Das führt - zeitgeschichtlich - zur häufiger als nötig gepriesenen schwedischen Neutralität; eine auf ihr fußende, klar menschenrechtlich verstandene Haltung entwickelte sich im einzigen, nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg verwickelten skandinavischen Land erst zögerlich von etwa 1943 an, als alle ahnen konnten, dass es mit Nazideutschland dem verdienten Ende zugehen würde. Die vorherige Verbindung Schwedens zu Deutschland ist noch nicht so aufgearbeitet, wie es angemessen, angesichts der aktuellen faktischen Regierungsbeteiligung einer rechtsextremen Partei wie den Schwedendemokraten sogar aus einer europäischen Perspektive angezeigt wäre.
Daniel Kehlmann hat der - übrigens untadeligen, sehr gelungenen - Neuübersetzung von Ursel Allenstein ein Nachwort hinzugefügt, das alle Vorzüge der autobiographischen Erzählung einfängt; vor allem den Vorzug, dass hier nichts nachgedichtet wurde. Und: Dass die seelische Austrocknung, die in den Konzentrationslagern stattfand, die Existenz des Individuums vernichtete.
Die unermesslich große Leistung von Cordelia Edvardson besteht darin, wieder zu reicher Individualität gefunden zu haben und mit ihrem kurzen, sehr großen Buch auch von der grauen Kälte und dem Nichts aus dem Inneren der Lager gesprochen zu haben. Stephan Opitz
Cordelia Edvardson: "Gebranntes Kind sucht das Feuer". Roman.
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Hanser Verlag, München 2023. 144 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es gibt Werke, da erscheint ein Warnhinweis sinnvoll: Cordelia Edvardsons Buch ist so eines, meint Gustav Seibt. Entsprechend klug findet es der Kritiker, dass auch Daniel Kehlmanns warnendes Nachwort, gesprochen von Ulrich Noethen, in die Hörbuch-Fassung aufgenommen wurde. Der "mahlstromartigen Anziehungskraft" des Textes wird die Schauspielerin Nina Kunzendorf mit zurückhaltender, stiller Interpretation gerecht, fährt der Kritiker fort, der hier mit blankem Entsetzen lauscht, wie Cordelia, Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die Möglichkeit einer Adoption verwehrt wird, weil sonst die Mutter ins KZ deportiert würde. Die Grauen der Lagerwelt fängt Edvardson ebenso ein wie sie "schonungslos" gegen sich selbst ist, so Seibt weiter. Dieses "kalte, stolze und bittere" Werk besticht angesichts der aktuellen Weltlage zudem durch besondere Dringlichkeit, zeigt es doch, wie "verzweifelt nötig" die Existenz des Staates Israel für die Überlebenden wurde, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Schauspielerin Nina Kunzendorf nimmt den lakonischen Ton des Textes perfekt auf, der auch einen Schutz bildet gegen das Grauen, das plötzlich hereinbrechen kann.« Leonie Berger SWR 2 20240224