Als der Philosoph Blaise Pascal 1662 starb, hinterließ er der Menschheit eine rund tausendseitige Zettelwirtschaft, gut verschnürt in sechzig handlichen Stapeln. Die Fragmente sind Gott und vor allem dem Menschen gewidmet, der nicht aus purer Vernunft handele, sondern sich stattdessen durch Schwächen und Ungewissheiten auszeichne. In seinen »Gedanken« stellt der tiefreligiöse Blaise Pascal die großen Fragen der Menschheit. Eine bis heute faszinierende Lektüre, die jeden Menschen herausfordert und bereichert. Das viel diskutierte Meisterwerk bringt Manfred Schradi, die gefeierte »Stimme der Kultur«, zu Gehör.Lesung mit Manfred Schradi1 mp3-CD ca. 5 h 7 min
»Blaise Pascal gehört zu den faszinierendsten Gestalten der Philosophiegeschichte.« DIE ZEIT »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2016Wie viel Augustinus steckt drin?
Anordnungsfragen: Philippe Selliers Edition von Pascals "Pensées" liegt nun in einer vorzüglichen deutschen Ausgabe vor.
Stete Beredsamkeit langweilt." So lautet ein scheinbar nebensächlicher Satz in Blaise Pascals "Gedanken", in Fragment 661 nach der Zählung, die Philippe Sellier seinen Editionen (1976/2003) zugrunde gelegt hat. Dass Pascals Hauptwerk selbst, wie das Diktum von der langweiligen Eloquenz schon andeutet, gegen alle Regeln textlicher Ordnung verstößt, die man sich von einem Werk der französischen Klassik erwarten würde, ist der Autorintention, aber auch der Entstehungsgeschichte der "Pensées" geschuldet.
Der fragmentarische Charakter der "Pensées" hat von Anfang an einen Gutteil ihrer Faszinationskraft ausgemacht. Das von Pascal hinterlassene Konvolut ist mit vielen Unsicherheiten belastet. Kein Originalmanuskript verbürgt eine Anordnung der Fragmente. Zwei Kopien, von nahen Verwandten nach Pascals Tod angefertigt, verkomplizieren zudem die Frage. Aufgrund dieser schwierigen Quellenlage konnten sich divergierende Rezeptionsarten herausbilden. Deren Spektrum reicht heute von diskurstheoretischen Herangehensweisen an die zerklüftete Textgestalt bis zur dogmatischen Einordnung der "Pensées" in die Gnadenlehre des französischen Jansenismus. Dieser Jansenismus hatte, im Rückgang auf die augustinische Theologie des verborgenen Gottes durch Cornelius Jansenius, die sündenfallbedingte Verworfenheit des Menschen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts am radikalsten entfaltet und in eine strenge Erkenntnisskepsis gegenüber dem cartesianischen Rationalismus einmünden lassen.
Der letztgenannte Aneignungsmodus rückt einen Pascal ins Zentrum, der auf Glauben als Voraussetzung für wahres Wissen setzt. Dabei wird zum Ausgangspunkt der Deutung, dass Pascal mit seinen Gedanken der Bitte entsprochen hatte, für das jansenistische Kloster Port-Royal des Champseine Apologie zu verfassen, die es mit der intellektuellen Schärfe der mondänen, in religiöser Hinsicht indifferenten Gesellschaft aufnimmt. Der junge, mit großen Mathematikern in Verbindung stehende Gelehrte konnte diesem Ansinnen nicht widerstehen. Was nutzte seine Erfindung einer Rechenmaschine, die Konzeption eines Omnibusses, wozu dienten der Nachweis des Vakuums als entleerter Raum und Experimente zur Unendlichkeit, wenn mit diesen Operationalisierungen der cartesianischen Zahlenwelt die Situation des Menschen nicht geklärt ist? Die Interpreten, welche die "Pensées" als nicht vollendetem Religionsbeweis lesen, können deshalb den fragmentarischen Text als Nachweis nehmen, dass gute christliche Beredsamkeit am Wort zerbricht. Denn dieses ist für Pascal grundsätzlich figura, bildlicher Umweg über Laut oder Schrift, und deshalb zugleich Absenz und Präsenz von Sinn.
Der Quellenlage entsprechend, hängen derart starke Interpretationsoptionen aber von den Editionen ab, die jeweils zugrunde gelegt werden. Unter den modernen stechen dabei drei heraus. Bis weit in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestimmte die Zählung nach Léon Brunschvicg das Textverständnis. Thematische Gruppierungen schafften hier semantische Kohäsionen. Sie ließen viel Spielraum für die Sicht auf einen moralistischen, tragischen, erkenntnistheoretischen, politischen, phänomenologischen, existentialistischen Denker. Das hat auch die deutsche philosophische und romanistische Forschung (von Auerbach und Guardini bis in jüngste Zeiten) lange bestimmt.
Mit Louis Lafumas Anordnung von 1951, die sich auf die sogenannte erste Kopie stützte, geriet dagegen der große Argumentationsstrang in den Blick, der weniger Deutungsfreiheit ließ. Demnach ordnen sich die Gedankensplitter in eine strikte Teleologie der Gedankenführung ein. Ausgehend von den kognitiven Bodenlosigkeiten des Menschen über seine relative Größe sowie seine leidlich funktionierenden Sozialkonstruktionen, geht der Weg weiter zu Erklärungen, die die christliche Religion als einzig kohärente Theorie zur Harmonisierung solcher Disparatheiten ausweisen. Dieser Beweisgang erlaubt es allerdings auch, die ersten zehn Kapitel, die man als analytisch in Bezug auf die conditio humana verbuchen kann, zur Not separat in den Fokus zu nehmen. Entgegen der Intention des Herausgebers ergibt sich hier ein Sprungbrett für die Modellierung eines weltlichen Pascal.
Mit der nun auf Deutsch vorliegenden Ausgabe Philippe Selliers ist dies schwieriger. Der emeritierte Lehrstuhlinhaber an der Pariser Sorbonne bleibt einem augustinischen Verständnis der "Pensées" treu. Indem er die zweite Kopie als Textbasis zugrunde legt, verschieben sich die Gewichte. Es ergibt sich eine stärkere Durchmischung der anthropologischen mit den theologischen Fragmenten. Das analytische Moment tritt zurück vor der Bedeutung des menschlichen Herzens, das es in der Apologie auf verschiedenste Weisen anzusprechen und als Umweg der caritas auf dem Wege zur Wahrheit zu nutzen gilt.
Zudem lässt Sellier seine Anordnung nicht wie Lafuma mit den Diagnosen zur Situation des Menschen im Elend ohne Gott beginnen. Vor diesen Teil, der an Montaignes Skepsis anschließt und auf La Rochefoucaulds Verlorenheit des Menschen in der Eigenliebe vorausweisen mag, stellt Sellier entsprechend der zweiten Kopie selbstexegetische Passagen Pascals. Bei Lafuma werden diese Aussagen als Paratexte an den Schluss geschoben. So leuchtet in der Sellierschen Ausgabe von vornherein ein religiöses Substrat als der eigentliche Fundus durch. Die Bemerkungen Pascals zum Menschen als denkendem Schilfrohr, zu seiner Stellung zwischen den beiden Unendlichkeiten und vielen anderen Unwägbarkeiten seines (notwendig falschen) Selbstverständnisses stehen auf diese Weise von Anfang an in einem heilsgeschichtlichen Verständnishorizont, der nur mit hermeneutischer Gewaltsamkeit auszuklammern ist.
Die deutsche Ausgabe, mit allen Anhängen des französischen Originals und Selliers profunden Kommentaren sowie einer hilfreichen Konkordanz unterschiedlicher Zählungen versehen, ist schon deshalb ein großer Gewinn. Die Übersetzung Sylvia Schiewes ist präzise, ohne übertrieben gelehrt zu sein. Gelegentlich wirkt sie - verglichen etwa mit der Übersetzung der Lafuma-Version von Ulrich Kunzmann bei Reclam - erfrischend direkt und plastisch, dabei unaufgeregt, sachbezogen und schroff abrupt, wo es denn sein muss. Auch darin folgt der deutsche Text dem eingangs genannten Fragment von den Grenzen der steten Beredsamkeit.
RUDOLF BEHRENS
Blaise Pascal: "Gedanken". Ediert und kommentiert von Philippe Sellier.
Aus dem Französischen
und mit einer Konkordanz von Sylvia Schiewe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 434 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anordnungsfragen: Philippe Selliers Edition von Pascals "Pensées" liegt nun in einer vorzüglichen deutschen Ausgabe vor.
Stete Beredsamkeit langweilt." So lautet ein scheinbar nebensächlicher Satz in Blaise Pascals "Gedanken", in Fragment 661 nach der Zählung, die Philippe Sellier seinen Editionen (1976/2003) zugrunde gelegt hat. Dass Pascals Hauptwerk selbst, wie das Diktum von der langweiligen Eloquenz schon andeutet, gegen alle Regeln textlicher Ordnung verstößt, die man sich von einem Werk der französischen Klassik erwarten würde, ist der Autorintention, aber auch der Entstehungsgeschichte der "Pensées" geschuldet.
Der fragmentarische Charakter der "Pensées" hat von Anfang an einen Gutteil ihrer Faszinationskraft ausgemacht. Das von Pascal hinterlassene Konvolut ist mit vielen Unsicherheiten belastet. Kein Originalmanuskript verbürgt eine Anordnung der Fragmente. Zwei Kopien, von nahen Verwandten nach Pascals Tod angefertigt, verkomplizieren zudem die Frage. Aufgrund dieser schwierigen Quellenlage konnten sich divergierende Rezeptionsarten herausbilden. Deren Spektrum reicht heute von diskurstheoretischen Herangehensweisen an die zerklüftete Textgestalt bis zur dogmatischen Einordnung der "Pensées" in die Gnadenlehre des französischen Jansenismus. Dieser Jansenismus hatte, im Rückgang auf die augustinische Theologie des verborgenen Gottes durch Cornelius Jansenius, die sündenfallbedingte Verworfenheit des Menschen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts am radikalsten entfaltet und in eine strenge Erkenntnisskepsis gegenüber dem cartesianischen Rationalismus einmünden lassen.
Der letztgenannte Aneignungsmodus rückt einen Pascal ins Zentrum, der auf Glauben als Voraussetzung für wahres Wissen setzt. Dabei wird zum Ausgangspunkt der Deutung, dass Pascal mit seinen Gedanken der Bitte entsprochen hatte, für das jansenistische Kloster Port-Royal des Champseine Apologie zu verfassen, die es mit der intellektuellen Schärfe der mondänen, in religiöser Hinsicht indifferenten Gesellschaft aufnimmt. Der junge, mit großen Mathematikern in Verbindung stehende Gelehrte konnte diesem Ansinnen nicht widerstehen. Was nutzte seine Erfindung einer Rechenmaschine, die Konzeption eines Omnibusses, wozu dienten der Nachweis des Vakuums als entleerter Raum und Experimente zur Unendlichkeit, wenn mit diesen Operationalisierungen der cartesianischen Zahlenwelt die Situation des Menschen nicht geklärt ist? Die Interpreten, welche die "Pensées" als nicht vollendetem Religionsbeweis lesen, können deshalb den fragmentarischen Text als Nachweis nehmen, dass gute christliche Beredsamkeit am Wort zerbricht. Denn dieses ist für Pascal grundsätzlich figura, bildlicher Umweg über Laut oder Schrift, und deshalb zugleich Absenz und Präsenz von Sinn.
Der Quellenlage entsprechend, hängen derart starke Interpretationsoptionen aber von den Editionen ab, die jeweils zugrunde gelegt werden. Unter den modernen stechen dabei drei heraus. Bis weit in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestimmte die Zählung nach Léon Brunschvicg das Textverständnis. Thematische Gruppierungen schafften hier semantische Kohäsionen. Sie ließen viel Spielraum für die Sicht auf einen moralistischen, tragischen, erkenntnistheoretischen, politischen, phänomenologischen, existentialistischen Denker. Das hat auch die deutsche philosophische und romanistische Forschung (von Auerbach und Guardini bis in jüngste Zeiten) lange bestimmt.
Mit Louis Lafumas Anordnung von 1951, die sich auf die sogenannte erste Kopie stützte, geriet dagegen der große Argumentationsstrang in den Blick, der weniger Deutungsfreiheit ließ. Demnach ordnen sich die Gedankensplitter in eine strikte Teleologie der Gedankenführung ein. Ausgehend von den kognitiven Bodenlosigkeiten des Menschen über seine relative Größe sowie seine leidlich funktionierenden Sozialkonstruktionen, geht der Weg weiter zu Erklärungen, die die christliche Religion als einzig kohärente Theorie zur Harmonisierung solcher Disparatheiten ausweisen. Dieser Beweisgang erlaubt es allerdings auch, die ersten zehn Kapitel, die man als analytisch in Bezug auf die conditio humana verbuchen kann, zur Not separat in den Fokus zu nehmen. Entgegen der Intention des Herausgebers ergibt sich hier ein Sprungbrett für die Modellierung eines weltlichen Pascal.
Mit der nun auf Deutsch vorliegenden Ausgabe Philippe Selliers ist dies schwieriger. Der emeritierte Lehrstuhlinhaber an der Pariser Sorbonne bleibt einem augustinischen Verständnis der "Pensées" treu. Indem er die zweite Kopie als Textbasis zugrunde legt, verschieben sich die Gewichte. Es ergibt sich eine stärkere Durchmischung der anthropologischen mit den theologischen Fragmenten. Das analytische Moment tritt zurück vor der Bedeutung des menschlichen Herzens, das es in der Apologie auf verschiedenste Weisen anzusprechen und als Umweg der caritas auf dem Wege zur Wahrheit zu nutzen gilt.
Zudem lässt Sellier seine Anordnung nicht wie Lafuma mit den Diagnosen zur Situation des Menschen im Elend ohne Gott beginnen. Vor diesen Teil, der an Montaignes Skepsis anschließt und auf La Rochefoucaulds Verlorenheit des Menschen in der Eigenliebe vorausweisen mag, stellt Sellier entsprechend der zweiten Kopie selbstexegetische Passagen Pascals. Bei Lafuma werden diese Aussagen als Paratexte an den Schluss geschoben. So leuchtet in der Sellierschen Ausgabe von vornherein ein religiöses Substrat als der eigentliche Fundus durch. Die Bemerkungen Pascals zum Menschen als denkendem Schilfrohr, zu seiner Stellung zwischen den beiden Unendlichkeiten und vielen anderen Unwägbarkeiten seines (notwendig falschen) Selbstverständnisses stehen auf diese Weise von Anfang an in einem heilsgeschichtlichen Verständnishorizont, der nur mit hermeneutischer Gewaltsamkeit auszuklammern ist.
Die deutsche Ausgabe, mit allen Anhängen des französischen Originals und Selliers profunden Kommentaren sowie einer hilfreichen Konkordanz unterschiedlicher Zählungen versehen, ist schon deshalb ein großer Gewinn. Die Übersetzung Sylvia Schiewes ist präzise, ohne übertrieben gelehrt zu sein. Gelegentlich wirkt sie - verglichen etwa mit der Übersetzung der Lafuma-Version von Ulrich Kunzmann bei Reclam - erfrischend direkt und plastisch, dabei unaufgeregt, sachbezogen und schroff abrupt, wo es denn sein muss. Auch darin folgt der deutsche Text dem eingangs genannten Fragment von den Grenzen der steten Beredsamkeit.
RUDOLF BEHRENS
Blaise Pascal: "Gedanken". Ediert und kommentiert von Philippe Sellier.
Aus dem Französischen
und mit einer Konkordanz von Sylvia Schiewe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 434 S., geb., 39,95 [Euro].
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