Maria, eine junge Portugiesin, kommt Mitte der 80er-Jahre zum Studieren nach Berlin. Hier taucht sie in die Hausbesetzerszene ein, trifft auf den exzentrischen Theatermacher Falk und träumt von einem selbstbestimmten Leben. Doch allen Plänen zum Trotz findet sie sich schließlich als Ehefrau und Mutter in der deutschen Provinz wieder. Während ihr Mann Hartmut seine Karriere vorantreibt, bleiben ihr nur das Haus, das Kind, die langen Nachmittage vor dem DVD-Player. Lange arrangiert sie sich mit den Verhältnissen, aber als die Tochter flügge wird, trifft sie eine Entscheidung, die alles Bisherige in Frage stellt.Lesung mit Claudia Michelsen8 CDs Laufzeit ca. 661 minLesung mit Claudia Michelsen8 CDs ca. 11 h 1 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2015Für den ersten Joint ist es auch mit sechzig nicht zu spät
Nach den "Fliehkräften" ihr "Gegenspiel": Stephan Thome erzählt seine Ehegeschichte nun aus der Sicht der Frau. Es geht um Portugal, Berlin, Bonn und den Freiheitsdrang der Orientierungslosen.
Fragt man Schriftsteller nach ihrem Verhältnis zu ihren Romanfiguren, bekommt man sehr unterschiedliche Antworten. Die einen entwerfen ihre Charaktere mit kühlem Kopf und halten sie unter Kontrolle wie Marionetten, andere verschmelzen mit ihren Figuren und leben mit und durch sie selbst andere Leben - Variationen von Flauberts stolzem Bekenntnis "Madame Bovary, c'est moi". Die allermeisten Autoren jedenfalls geben zu, dass ihre Figuren ein Eigenleben haben oder jedenfalls beim Schreiben entwickeln, das sie selbst höchstens begleiten und leiten, aber nicht unbedingt bestimmen können.
Maria Pereira ist eine solche Romanfigur, der man ein Höchstmaß an Eigensinn zubilligen muss. Ständig ist die gebürtige Portugiesin hin- und hergerissen, dauernd ändert sie ihre Meinung, stets ist sie bereit, sich ihren Stimmungen hinzugeben. Das ist anstrengend. Für ihren Ehemann, den durch und durch diesseitigen Philosophieprofessor Hartmut Hainbach, und die gemeinsame Tochter Philippa ebenso wie für die engen Freundinnen, die sie zeitweise hat, aber fast immer wieder verliert. Nicht weniger anstrengend als für ihre Mitmenschen aber ist Maria für den Leser, und vermutlich war sie es auch für den Autor. Nun hat Maria Pereira das Glück, an den klugen, um Gerechtigkeit ringenden Stephan Thome geraten zu sein. Ein anderer hätte wahrscheinlich kurzen Prozess mit ihr gemacht, doch Thome bietet ihr in "Gegenspiel" die Bühne ihres Lebens. Was dort vor allem geboten wird, sind zahlreiche Anläufe Marias zur durchschlagenen Selbstinszenierung.
Stephan Thome, der mit "Grenzgang" 2009 ein bestechendes Debüt vorlegte und drei Jahre später mit "Fliehkräfte" die in ihn gesetzten Hoffnungen eindrucksvoll einlöste, ist mit seinem dritten Roman ein Wagnis eingegangen. Zeichnete er in "Fliehkräfte" in der angegrauten Gestalt von Hartmut Hainbach das nuancierte, feinfühlige Porträt eines deutschen Jedermann, der mit Ende fünfzig der Frage "Was nun?" nicht mehr durch das Weiter-so von Arbeit und Routine ausweichen kann, widmet er nun abermals fast fünfhundert Seiten dessen Frau. "Gegenspiel" heißt der Roman, der gewissermaßen das Negativ zu dem vorhergehenden bildet und zentrale Ereignisse und Stationen mit ihm gemein hat. Obwohl es sich nicht entfernt um eine platt in seine und ihre Sicht aufgeteilte Paargeschichte handelt, ist zumal "Gegenspiel" erkennbar von dem Wunsch getragen, die weibliche Perspektive ebenso zu ihrem Recht kommen zu lassen wie zuvor die männliche. Zwar muss man "Fliehkräfte" keineswegs gelesen haben, um "Gegenspiel" zu verstehen. Aber man hat mehr davon.
Beide Romane enden in Portugal am Strand und in der gemeinsamen Ratlosigkeit eines Ehepaars, das nach zwei Jahrzehnten eines mehr oder minder gemeinsamen Lebens feststellt, dass man sich womöglich nie richtig kennengelernt hat. Und genau wie "Fliehkräfte" beleuchtet nun auch "Gegenspiel" Stationen, die dahin geführt haben, nur eben die der anderen Seite. Hier sind es die in Lissabon durchtanzten Nächte der jungen Maria-Antonia, die mit aller Macht aus den beengten Verhältnissen ihrer portugiesischen Heimat herauswill, durch eisernen Willen und mit fremder Hilfe schließlich zum Studium nach Berlin kommt, sich in die Stadt, die Freiheit und einen avantgardistischen Theatermacher verliebt, die hochfliegende Träume und Theorien hat, aber Mitte der Achtziger trotzdem mit einem jungen Dozenten in die rheinische Provinz zieht, heiratet und ein Kind bekommt. Ihre Familie und ihre Heimat besuchen sie jeden Sommer, doch das Fremdheitsgefühl im eigenen Leben bleibt für Maria in Deutschland wie in Portugal bestehen. Als die Tochter aus dem Haus geht, nimmt sie das Angebot an, für den Theaterintendanten in Berlin zu arbeiten. Ihr Mann bleibt fürs Erste an seinem Platz, an der Universität wie im Haus mit Garten in Bonn, doch die geographische Distanz der Fernbeziehung macht den inneren Abstand zwischen den Partnern unübersehbar.
Es ist ein gewaltiger Bogen, den Thome hier spannt: vom Portugal der siebziger Jahre, das auch nach der Nelkenrevolution nicht zur Ruhe kommt, über die Intellektuellen-Szenen im West-Berlin der Achtziger bis hin zur trügerischen bürgerlichen Beschaulichkeit des Bonner Professorenhaushalts der Hainbachs. Doch während er in "Fliehkräfte" ein ähnliches Pensum leicht schulterte, ist dieser Roman bis in die Struktur von der inneren Zerrissenheit seiner Heldin geprägt. Während Thome sich bei Hartmut Hainbach Zeit nahm, Situationen und Gespräche zu schildern, ist der vorherrschende Eindruck in "Gegenspiel" der von Gehetztheit und Unruhe. Das liegt nicht an der Sprache, die in ihrer Ausgeruht- und Ausgewogenheit ein mitunter seltsames Gegengewicht zur Volatilität der Protagonistin bildet. Maria ist immer darauf aus, anderen ihre Unberechenbarkeit zu demonstrieren, ob durch Vulgärsprache, Ohrfeigen, Bisse oder indem sie ihrem fast sechzigjährigen Mann seinen ersten Joint verordnet. Ein Freund nennt es treffend "den Freiheitsdrang der Orientierungslosen". Immer wechseln Szenen, Orte und Zeiten, doch da viele Charaktere bleiben, fällt die Orientierung mitunter schwer. Der Schnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Buches ist Marias Weggang aus Berlin, verbunden mit der Geburt der Tochter, die sich der Leser irgendwann auf 1987 zurückdatieren kann, so dass fortan das Alter Philippas zum verlässlichsten Indikator für die springenden Erzählzeiten wird.
Der Einzige, der es mit Maria aufnehmen kann, weil er ihre Stimmungen weitestgehend ignoriert oder einfach mit seiner eigenen Egozentrik neutralisiert, ist zunächst Falk Merlinger, jener Berliner Theatermacher, mit dem sie als Studentin in Kreuzberg das Bett teilt und für den sie viele Jahre später als Assistentin arbeitet. Die faszinierendsten Passagen sind jene, in denen das Lebensgefühl im West-Berlin der späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufblitzt. Doch so nah wie zuletzt etwa im Video zu David Bowies "Where Are We Now" oder in Katja Lange-Müllers Roman "Böse Schafe" kommt einem die Zeit hier nicht.
Zwar mag Stephan Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren wurde, die letzten Ausläufer dieser glorreich kreativen Ära während seines Studiums an der FU noch erlebt haben. Aber wenn er die Kreuzberger Hausbesetzerszene schildert, die Atmosphäre an der Uni ("das Einzige, wovor man echten Respekt hatte, war die eigene Meinung"), die WG-Gesetzmäßigkeiten im Kampf gegen Spießigkeiten wie Ordnung oder Sauberkeit oder das Treiben rund um Falk, wird man den Eindruck der angelesenen Anschaulichkeit nicht los. Trotzdem ist Falk Merlinger die vielleicht interessanteste Figur des Buches: der Theatermacher, der sich als Republikflüchtling ausgibt, später sein eigenes Ensemble gründet und mit "Sprech / Akte / Ost" Autor einer legendären Stasi-Farce wird, über die man indes gern mehr erfahren hätte, als dass es sich um ein "unverschämtes, sich um keine Konvention scherendes" Stück handelt.
Falk aber bietet Reibungsfläche, und genau das ist es, was Maria sucht. An Falk reizt sie dessen Begeisterungsfähigkeit, seine Hingabe an seine Arbeit - und zugleich seine Weigerung, irgendetwas von diesen Eigenschaften in der Beziehung zu ihr an den Tag zu legen. Vollgesogen mit den Schriften von Simone de Beauvoir, lautet ihr Mantra: Ich bin hier, weil ich es will. Nur lässt sich bei ihr fast nie auseinanderhalten, wie viel davon Überzeugung und wie viel Trotz ist.
An innerer Spannung gewinnt der Roman, wenn er in Marias Gedankenwelt abtaucht, zumal im zweiten Teil, der sie mit einer lange uneingestandenen Kindsbettdepression am Rand des physischen und psychischen Zusammenbruchs zeigt. Hier kommen Thomes erzählerische Stärken voll zum Tragen, ebenso wie in den Szenen einer reifen Ehe, die zwar nicht glücklich, aber auch nicht abgeklärt ist. Trotzdem bleibt "Gegenspiel" weit hinter den "Fliehkräften" zurück. Schuld daran ist vor allem der Mosaikcharakter des Romans. Zwar wird in den vielen Einzelszenen viel Handlung vermittelt, aber die Verwandlung von einer hellwachen, neugierigen, rebellischen jungen Frau in eine frustrierte, ratlose, sich selbst betäubende Fünfzigjährige bleibt rätselhaft. Wie sagt es Hartmut Hainbach? Sie könnten nicht zurück in ihr altes Leben. "Weil wir entweder zu viel wissen oder immer noch zu wenig."
FELICITAS VON LOVENBERG
Stephan Thome: "Gegenspiel". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 458 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach den "Fliehkräften" ihr "Gegenspiel": Stephan Thome erzählt seine Ehegeschichte nun aus der Sicht der Frau. Es geht um Portugal, Berlin, Bonn und den Freiheitsdrang der Orientierungslosen.
Fragt man Schriftsteller nach ihrem Verhältnis zu ihren Romanfiguren, bekommt man sehr unterschiedliche Antworten. Die einen entwerfen ihre Charaktere mit kühlem Kopf und halten sie unter Kontrolle wie Marionetten, andere verschmelzen mit ihren Figuren und leben mit und durch sie selbst andere Leben - Variationen von Flauberts stolzem Bekenntnis "Madame Bovary, c'est moi". Die allermeisten Autoren jedenfalls geben zu, dass ihre Figuren ein Eigenleben haben oder jedenfalls beim Schreiben entwickeln, das sie selbst höchstens begleiten und leiten, aber nicht unbedingt bestimmen können.
Maria Pereira ist eine solche Romanfigur, der man ein Höchstmaß an Eigensinn zubilligen muss. Ständig ist die gebürtige Portugiesin hin- und hergerissen, dauernd ändert sie ihre Meinung, stets ist sie bereit, sich ihren Stimmungen hinzugeben. Das ist anstrengend. Für ihren Ehemann, den durch und durch diesseitigen Philosophieprofessor Hartmut Hainbach, und die gemeinsame Tochter Philippa ebenso wie für die engen Freundinnen, die sie zeitweise hat, aber fast immer wieder verliert. Nicht weniger anstrengend als für ihre Mitmenschen aber ist Maria für den Leser, und vermutlich war sie es auch für den Autor. Nun hat Maria Pereira das Glück, an den klugen, um Gerechtigkeit ringenden Stephan Thome geraten zu sein. Ein anderer hätte wahrscheinlich kurzen Prozess mit ihr gemacht, doch Thome bietet ihr in "Gegenspiel" die Bühne ihres Lebens. Was dort vor allem geboten wird, sind zahlreiche Anläufe Marias zur durchschlagenen Selbstinszenierung.
Stephan Thome, der mit "Grenzgang" 2009 ein bestechendes Debüt vorlegte und drei Jahre später mit "Fliehkräfte" die in ihn gesetzten Hoffnungen eindrucksvoll einlöste, ist mit seinem dritten Roman ein Wagnis eingegangen. Zeichnete er in "Fliehkräfte" in der angegrauten Gestalt von Hartmut Hainbach das nuancierte, feinfühlige Porträt eines deutschen Jedermann, der mit Ende fünfzig der Frage "Was nun?" nicht mehr durch das Weiter-so von Arbeit und Routine ausweichen kann, widmet er nun abermals fast fünfhundert Seiten dessen Frau. "Gegenspiel" heißt der Roman, der gewissermaßen das Negativ zu dem vorhergehenden bildet und zentrale Ereignisse und Stationen mit ihm gemein hat. Obwohl es sich nicht entfernt um eine platt in seine und ihre Sicht aufgeteilte Paargeschichte handelt, ist zumal "Gegenspiel" erkennbar von dem Wunsch getragen, die weibliche Perspektive ebenso zu ihrem Recht kommen zu lassen wie zuvor die männliche. Zwar muss man "Fliehkräfte" keineswegs gelesen haben, um "Gegenspiel" zu verstehen. Aber man hat mehr davon.
Beide Romane enden in Portugal am Strand und in der gemeinsamen Ratlosigkeit eines Ehepaars, das nach zwei Jahrzehnten eines mehr oder minder gemeinsamen Lebens feststellt, dass man sich womöglich nie richtig kennengelernt hat. Und genau wie "Fliehkräfte" beleuchtet nun auch "Gegenspiel" Stationen, die dahin geführt haben, nur eben die der anderen Seite. Hier sind es die in Lissabon durchtanzten Nächte der jungen Maria-Antonia, die mit aller Macht aus den beengten Verhältnissen ihrer portugiesischen Heimat herauswill, durch eisernen Willen und mit fremder Hilfe schließlich zum Studium nach Berlin kommt, sich in die Stadt, die Freiheit und einen avantgardistischen Theatermacher verliebt, die hochfliegende Träume und Theorien hat, aber Mitte der Achtziger trotzdem mit einem jungen Dozenten in die rheinische Provinz zieht, heiratet und ein Kind bekommt. Ihre Familie und ihre Heimat besuchen sie jeden Sommer, doch das Fremdheitsgefühl im eigenen Leben bleibt für Maria in Deutschland wie in Portugal bestehen. Als die Tochter aus dem Haus geht, nimmt sie das Angebot an, für den Theaterintendanten in Berlin zu arbeiten. Ihr Mann bleibt fürs Erste an seinem Platz, an der Universität wie im Haus mit Garten in Bonn, doch die geographische Distanz der Fernbeziehung macht den inneren Abstand zwischen den Partnern unübersehbar.
Es ist ein gewaltiger Bogen, den Thome hier spannt: vom Portugal der siebziger Jahre, das auch nach der Nelkenrevolution nicht zur Ruhe kommt, über die Intellektuellen-Szenen im West-Berlin der Achtziger bis hin zur trügerischen bürgerlichen Beschaulichkeit des Bonner Professorenhaushalts der Hainbachs. Doch während er in "Fliehkräfte" ein ähnliches Pensum leicht schulterte, ist dieser Roman bis in die Struktur von der inneren Zerrissenheit seiner Heldin geprägt. Während Thome sich bei Hartmut Hainbach Zeit nahm, Situationen und Gespräche zu schildern, ist der vorherrschende Eindruck in "Gegenspiel" der von Gehetztheit und Unruhe. Das liegt nicht an der Sprache, die in ihrer Ausgeruht- und Ausgewogenheit ein mitunter seltsames Gegengewicht zur Volatilität der Protagonistin bildet. Maria ist immer darauf aus, anderen ihre Unberechenbarkeit zu demonstrieren, ob durch Vulgärsprache, Ohrfeigen, Bisse oder indem sie ihrem fast sechzigjährigen Mann seinen ersten Joint verordnet. Ein Freund nennt es treffend "den Freiheitsdrang der Orientierungslosen". Immer wechseln Szenen, Orte und Zeiten, doch da viele Charaktere bleiben, fällt die Orientierung mitunter schwer. Der Schnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Buches ist Marias Weggang aus Berlin, verbunden mit der Geburt der Tochter, die sich der Leser irgendwann auf 1987 zurückdatieren kann, so dass fortan das Alter Philippas zum verlässlichsten Indikator für die springenden Erzählzeiten wird.
Der Einzige, der es mit Maria aufnehmen kann, weil er ihre Stimmungen weitestgehend ignoriert oder einfach mit seiner eigenen Egozentrik neutralisiert, ist zunächst Falk Merlinger, jener Berliner Theatermacher, mit dem sie als Studentin in Kreuzberg das Bett teilt und für den sie viele Jahre später als Assistentin arbeitet. Die faszinierendsten Passagen sind jene, in denen das Lebensgefühl im West-Berlin der späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufblitzt. Doch so nah wie zuletzt etwa im Video zu David Bowies "Where Are We Now" oder in Katja Lange-Müllers Roman "Böse Schafe" kommt einem die Zeit hier nicht.
Zwar mag Stephan Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren wurde, die letzten Ausläufer dieser glorreich kreativen Ära während seines Studiums an der FU noch erlebt haben. Aber wenn er die Kreuzberger Hausbesetzerszene schildert, die Atmosphäre an der Uni ("das Einzige, wovor man echten Respekt hatte, war die eigene Meinung"), die WG-Gesetzmäßigkeiten im Kampf gegen Spießigkeiten wie Ordnung oder Sauberkeit oder das Treiben rund um Falk, wird man den Eindruck der angelesenen Anschaulichkeit nicht los. Trotzdem ist Falk Merlinger die vielleicht interessanteste Figur des Buches: der Theatermacher, der sich als Republikflüchtling ausgibt, später sein eigenes Ensemble gründet und mit "Sprech / Akte / Ost" Autor einer legendären Stasi-Farce wird, über die man indes gern mehr erfahren hätte, als dass es sich um ein "unverschämtes, sich um keine Konvention scherendes" Stück handelt.
Falk aber bietet Reibungsfläche, und genau das ist es, was Maria sucht. An Falk reizt sie dessen Begeisterungsfähigkeit, seine Hingabe an seine Arbeit - und zugleich seine Weigerung, irgendetwas von diesen Eigenschaften in der Beziehung zu ihr an den Tag zu legen. Vollgesogen mit den Schriften von Simone de Beauvoir, lautet ihr Mantra: Ich bin hier, weil ich es will. Nur lässt sich bei ihr fast nie auseinanderhalten, wie viel davon Überzeugung und wie viel Trotz ist.
An innerer Spannung gewinnt der Roman, wenn er in Marias Gedankenwelt abtaucht, zumal im zweiten Teil, der sie mit einer lange uneingestandenen Kindsbettdepression am Rand des physischen und psychischen Zusammenbruchs zeigt. Hier kommen Thomes erzählerische Stärken voll zum Tragen, ebenso wie in den Szenen einer reifen Ehe, die zwar nicht glücklich, aber auch nicht abgeklärt ist. Trotzdem bleibt "Gegenspiel" weit hinter den "Fliehkräften" zurück. Schuld daran ist vor allem der Mosaikcharakter des Romans. Zwar wird in den vielen Einzelszenen viel Handlung vermittelt, aber die Verwandlung von einer hellwachen, neugierigen, rebellischen jungen Frau in eine frustrierte, ratlose, sich selbst betäubende Fünfzigjährige bleibt rätselhaft. Wie sagt es Hartmut Hainbach? Sie könnten nicht zurück in ihr altes Leben. "Weil wir entweder zu viel wissen oder immer noch zu wenig."
FELICITAS VON LOVENBERG
Stephan Thome: "Gegenspiel". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 458 S., geb., 22,95 [Euro].
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'Thome ist ganz nah bei seinen Figuren.' Der Spiegel über 'Fliehkräfte'