Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2011Auch Diktaturen können sich ändern
Hisham Matars "Geschichte eines Verschwindens" erzählt von einem jungen Libyer, dessen Vater von Gaddafis Schergen entführt wird. Es ist das beeindruckende Psychogramm eines Getriebenen.
Erst glaubt man, wenn man Hisham Matars "Geschichte eines Verschwindens" in die Hand nimmt, dieser Text thematisiere einen hochexplosiven politischen Stoff. Alles spricht dafür - besonders die Begebenheit aus jener Nacht, die das Leben des dreizehn Jahre alten Jungen Nuri, Sohn eines ehemaligen libyschen Ministers, völlig aus der Bahn wirft: Sich im Schweizer Exil in Sicherheit wiegend, weit weg von den Turbulenzen der Heimat, entführen zwei Unbekannte Nuris Vater aus dem Zimmer eines Luxushotels. Der Junge erfährt davon aus der Zeitung, während er mit seiner Stiefmutter auf ein väterliches Lebenszeichen hofft. Der Schock sitzt tief - und er steigert sich ins Unermessliche, als Nuri einen Blick auf das Bild neben dem Zeitungstext wirft: Dort sieht er ein verwüstetes Zimmer, umgestürzte Lampen, zerfetzte Kissen und eine unbekannte, irritiert dreinblickende Frau.
Nun beginnt das Rätselraten: Wer sind die Täter? Was für ein Motiv steckt hinter der Tat? Und wer ist diese Béatrice Benameur, die auf dem Pressefoto, lediglich in einen Morgenmantel gekleidet, so verstört in die Kamera blickt? Auch Mona, Nuris Stiefmutter, tappt im Dunkeln und glaubt sich von der Welt verraten - von den Schweizer Behörden, die den Vorfall unter den Teppich zu kehren versuchen; ihrem Mann, der jahrelang ein Doppelleben zu führen schien - und nicht zuletzt von Nuri selbst, der sich von Mona immer spürbarer distanziert.
Dabei ist die Beziehung zwischen dem jungen Libyer und der nur vierzehn Jahre älteren Stiefmutter der magische Dreh- und Angelpunkt, aus dem der Roman seine poetische Kraft gewinnt: Beide lernen sich 1971 in Alexandria kennen, beim Urlaub am Strand, noch bevor Mona das Herz des eleganten, gut riechenden und vornehm gekleideten Vaters erobert. Während dieses traumhaften, verführerischen Sommers baut sich zwischen den Wahlverwandten eine betörend-erotische Spannung auf - ein rätselhaftes Verhältnis, das bis zum Schluss hin undurchsichtig bleibt. Hisham Matars Text ist also kein politisches Manifest und kein Verfolgungsroman, sondern die nüchtern erzählte Spurensuche eines allein gebliebenen Jungen. Es ist die Suche eines Sohnes nach der Identität seiner Mutter, die früh verstorben ist; nach der ersten Liebe, die weder ausgesprochen noch ausgelebt werden durfte. Und dann ist da noch das Verschwinden des Vaters, diese alles überschattende Katastrophe, die wie eine dunkle Wolke über dem Leben des Heranwachsenden schwebt. Sie macht ein Ankommen für immer unmöglich.
Nuri versucht seine familiären Verflechtungen zu entwirren, versucht das Leben als Waise und Exilant zu bewältigen. Natürlich begreift man sofort, dass die ständigen Ortswechsel zwischen Kairo, London und dem englischen Internat in Daleswick, in das der Vierzehnjährige zu seiner eigenen Sicherheit umziehen muss, politisch motiviert sind. Doch auf welchen Begriff diese politischen Hintergründe zu bringen sind, ist nicht Gegenstand der Erzählung. Wir erfahren nur, dass der Vater ein Verfechter der konstitutionellen Monarchie ist. Gaddafi wiederum, der 1969 den König Idris vom Thron stürzte und mit Erfolg eine Autokratie etablierte, wird mit keiner Silbe erwähnt. Dieser Mangel an Erklärungen ist es, der dem Text seine enigmatische Qualität verleiht.
Das Verschwinden des Vaters ist der große Wendepunkt. Alles wirkt von nun an wie ein abgekartetes Spiel: der plötzliche Tod der leiblichen Mutter; die unerklärliche Verbindung zwischen Nuris Vater und Mona; das betont besorgte Verhalten der Haushälterin Naima; und nicht zuletzt das Auftauchen der mysteriösen Béatrice Benameur. Ihre Präsenz wirft schmerzvolle Fragen auf: Hat Nuri seinen Vater jemals gekannt, ihn jemals verstanden, ihn jemals wirklich kennengelernt? Oder ist es nicht Zeit, sich einzugestehen, dass er einen liebevollen, ehrenhaften, aber nicht immer ehrlichen Mann bewunderte? Im Laufe der Jahre, während der Junge zum Mann wird und der Schmerz allmählich an Intensität verliert, erahnt er das Ausmaß der Geheimnisse, die seine Biographie seit jeher überschatten.
"Geschichte eines Verschwindens", dieser rätselhafte, leise komponierte Roman, ist nichts anderes als eine autobiographische Abrechnung: Denn auch Hisham Matars Vater wurde entführt, 1990 im ägyptischen Exil, von Schutzleuten Gaddafis, die den Ex-Diplomaten in Kairo ausfindig machten und danach in ein libysches Gefängnis sperrten. Der Sohn wiederum floh, wie der Junge Nuri, nach England, um aus dem Blickfeld der Verbrecher zu gelangen. Dieser gefühlte Raub, sowohl am Vater, als auch an der Heimat, macht diesen Text zu einem Psychogramm eines Getriebenen, der nach Erklärungen sucht. Befriedigende Antworten sind jedoch nur poetisch zu fassen, etwa in Sätzen wie diesen: "Es gibt Zeiten, da lastet die Abwesenheit meines Vaters auf mir, als säße mir ein Kind auf der Brust."
Der Text wurde im November 2010 fertiggestellt, noch vor dem Ausbruch des arabischen Frühlings. Jetzt erklärte Hisham Matar, der 1970 in New York geboren wurde, dass sein Land auf eine neue Ära zusteuert, eine Ära der Zuversicht und Hoffnung. Das flößte den Menschen Mut ein, auch ihm, dem Sohn, der nun darauf hofft, das Verschwinden des Vaters endlich aufzuklären. Im Roman heißt es einmal: "Alles kann sich von einem Augenblick zum anderen ändern, mein Liebling." Dieser einfache und doch so ehrliche Satz trifft es genau: Er erinnert uns daran, dass man den Glauben an Veränderung nicht verlieren darf. Auch nicht in einer Diktatur.
TOMASZ KURIANOWICZ
Hisham Matar: "Die Geschichte eines Verschwindens". Roman
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Literaturverlag, München 2011. 192 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hisham Matars "Geschichte eines Verschwindens" erzählt von einem jungen Libyer, dessen Vater von Gaddafis Schergen entführt wird. Es ist das beeindruckende Psychogramm eines Getriebenen.
Erst glaubt man, wenn man Hisham Matars "Geschichte eines Verschwindens" in die Hand nimmt, dieser Text thematisiere einen hochexplosiven politischen Stoff. Alles spricht dafür - besonders die Begebenheit aus jener Nacht, die das Leben des dreizehn Jahre alten Jungen Nuri, Sohn eines ehemaligen libyschen Ministers, völlig aus der Bahn wirft: Sich im Schweizer Exil in Sicherheit wiegend, weit weg von den Turbulenzen der Heimat, entführen zwei Unbekannte Nuris Vater aus dem Zimmer eines Luxushotels. Der Junge erfährt davon aus der Zeitung, während er mit seiner Stiefmutter auf ein väterliches Lebenszeichen hofft. Der Schock sitzt tief - und er steigert sich ins Unermessliche, als Nuri einen Blick auf das Bild neben dem Zeitungstext wirft: Dort sieht er ein verwüstetes Zimmer, umgestürzte Lampen, zerfetzte Kissen und eine unbekannte, irritiert dreinblickende Frau.
Nun beginnt das Rätselraten: Wer sind die Täter? Was für ein Motiv steckt hinter der Tat? Und wer ist diese Béatrice Benameur, die auf dem Pressefoto, lediglich in einen Morgenmantel gekleidet, so verstört in die Kamera blickt? Auch Mona, Nuris Stiefmutter, tappt im Dunkeln und glaubt sich von der Welt verraten - von den Schweizer Behörden, die den Vorfall unter den Teppich zu kehren versuchen; ihrem Mann, der jahrelang ein Doppelleben zu führen schien - und nicht zuletzt von Nuri selbst, der sich von Mona immer spürbarer distanziert.
Dabei ist die Beziehung zwischen dem jungen Libyer und der nur vierzehn Jahre älteren Stiefmutter der magische Dreh- und Angelpunkt, aus dem der Roman seine poetische Kraft gewinnt: Beide lernen sich 1971 in Alexandria kennen, beim Urlaub am Strand, noch bevor Mona das Herz des eleganten, gut riechenden und vornehm gekleideten Vaters erobert. Während dieses traumhaften, verführerischen Sommers baut sich zwischen den Wahlverwandten eine betörend-erotische Spannung auf - ein rätselhaftes Verhältnis, das bis zum Schluss hin undurchsichtig bleibt. Hisham Matars Text ist also kein politisches Manifest und kein Verfolgungsroman, sondern die nüchtern erzählte Spurensuche eines allein gebliebenen Jungen. Es ist die Suche eines Sohnes nach der Identität seiner Mutter, die früh verstorben ist; nach der ersten Liebe, die weder ausgesprochen noch ausgelebt werden durfte. Und dann ist da noch das Verschwinden des Vaters, diese alles überschattende Katastrophe, die wie eine dunkle Wolke über dem Leben des Heranwachsenden schwebt. Sie macht ein Ankommen für immer unmöglich.
Nuri versucht seine familiären Verflechtungen zu entwirren, versucht das Leben als Waise und Exilant zu bewältigen. Natürlich begreift man sofort, dass die ständigen Ortswechsel zwischen Kairo, London und dem englischen Internat in Daleswick, in das der Vierzehnjährige zu seiner eigenen Sicherheit umziehen muss, politisch motiviert sind. Doch auf welchen Begriff diese politischen Hintergründe zu bringen sind, ist nicht Gegenstand der Erzählung. Wir erfahren nur, dass der Vater ein Verfechter der konstitutionellen Monarchie ist. Gaddafi wiederum, der 1969 den König Idris vom Thron stürzte und mit Erfolg eine Autokratie etablierte, wird mit keiner Silbe erwähnt. Dieser Mangel an Erklärungen ist es, der dem Text seine enigmatische Qualität verleiht.
Das Verschwinden des Vaters ist der große Wendepunkt. Alles wirkt von nun an wie ein abgekartetes Spiel: der plötzliche Tod der leiblichen Mutter; die unerklärliche Verbindung zwischen Nuris Vater und Mona; das betont besorgte Verhalten der Haushälterin Naima; und nicht zuletzt das Auftauchen der mysteriösen Béatrice Benameur. Ihre Präsenz wirft schmerzvolle Fragen auf: Hat Nuri seinen Vater jemals gekannt, ihn jemals verstanden, ihn jemals wirklich kennengelernt? Oder ist es nicht Zeit, sich einzugestehen, dass er einen liebevollen, ehrenhaften, aber nicht immer ehrlichen Mann bewunderte? Im Laufe der Jahre, während der Junge zum Mann wird und der Schmerz allmählich an Intensität verliert, erahnt er das Ausmaß der Geheimnisse, die seine Biographie seit jeher überschatten.
"Geschichte eines Verschwindens", dieser rätselhafte, leise komponierte Roman, ist nichts anderes als eine autobiographische Abrechnung: Denn auch Hisham Matars Vater wurde entführt, 1990 im ägyptischen Exil, von Schutzleuten Gaddafis, die den Ex-Diplomaten in Kairo ausfindig machten und danach in ein libysches Gefängnis sperrten. Der Sohn wiederum floh, wie der Junge Nuri, nach England, um aus dem Blickfeld der Verbrecher zu gelangen. Dieser gefühlte Raub, sowohl am Vater, als auch an der Heimat, macht diesen Text zu einem Psychogramm eines Getriebenen, der nach Erklärungen sucht. Befriedigende Antworten sind jedoch nur poetisch zu fassen, etwa in Sätzen wie diesen: "Es gibt Zeiten, da lastet die Abwesenheit meines Vaters auf mir, als säße mir ein Kind auf der Brust."
Der Text wurde im November 2010 fertiggestellt, noch vor dem Ausbruch des arabischen Frühlings. Jetzt erklärte Hisham Matar, der 1970 in New York geboren wurde, dass sein Land auf eine neue Ära zusteuert, eine Ära der Zuversicht und Hoffnung. Das flößte den Menschen Mut ein, auch ihm, dem Sohn, der nun darauf hofft, das Verschwinden des Vaters endlich aufzuklären. Im Roman heißt es einmal: "Alles kann sich von einem Augenblick zum anderen ändern, mein Liebling." Dieser einfache und doch so ehrliche Satz trifft es genau: Er erinnert uns daran, dass man den Glauben an Veränderung nicht verlieren darf. Auch nicht in einer Diktatur.
TOMASZ KURIANOWICZ
Hisham Matar: "Die Geschichte eines Verschwindens". Roman
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Literaturverlag, München 2011. 192 S., geb., 19,99 [Euro].
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