Willkommen in der Welt von Glitterschnitter: Ein großer, wilder Roman über Liebe, Freundschaft, Verrat, Kunst und Wahn in einer seltsamen Stadt in einer seltsamen Zeit.
Die Lage ist prekär: Charlie, Ferdi und Raimund wollen mit Glitterschnitter den Weg zum Ruhm beschreiten, aber es braucht mehr als eine Bohrmaschine, ein Schlagzeug und einen Synthie, um auf die Wall City Noise zu kommen. Wiemer will, dass H. R. ein Bild malt, aber der will lieber eine Ikea-Musterwohnung in seinem Zimmer aufbauen. Frank und Chrissie wollen die alte Trinkerstube Café Einfall zur kuchenbefeuerten Milchkaffeehölle umgestalten, aber Erwin will lieber einen temporären Schwangerentreff etablieren. Chrissie will, dass Kerstin endlich zurück nach Stuttgart geht, aber die muss erst noch Chrissies neuen Schrank an der Wand befestigen. Die Frage, ob Klaus zwei verschiedene Platzwunden oder zweimal dieselbe Platzwunde zugefügt wurde, ist noch nicht abschließend geklärt, aber bei den Berufsösterreichernder ArschArt-Galerie werden bereits schöne Traditionen aus der Zeit der 1. Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft wiederbelebt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die Lage ist prekär: Charlie, Ferdi und Raimund wollen mit Glitterschnitter den Weg zum Ruhm beschreiten, aber es braucht mehr als eine Bohrmaschine, ein Schlagzeug und einen Synthie, um auf die Wall City Noise zu kommen. Wiemer will, dass H. R. ein Bild malt, aber der will lieber eine Ikea-Musterwohnung in seinem Zimmer aufbauen. Frank und Chrissie wollen die alte Trinkerstube Café Einfall zur kuchenbefeuerten Milchkaffeehölle umgestalten, aber Erwin will lieber einen temporären Schwangerentreff etablieren. Chrissie will, dass Kerstin endlich zurück nach Stuttgart geht, aber die muss erst noch Chrissies neuen Schrank an der Wand befestigen. Die Frage, ob Klaus zwei verschiedene Platzwunden oder zweimal dieselbe Platzwunde zugefügt wurde, ist noch nicht abschließend geklärt, aber bei den Berufsösterreichernder ArschArt-Galerie werden bereits schöne Traditionen aus der Zeit der 1. Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft wiederbelebt.
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Da kann
jeder mitmachen
Sven Regener kehrt in „Glitterschnitter“ mal wieder
ins Westberlin der 80er-Jahre zurück
VON VERENA MAYER
Sven Regener wäre gern in die Ankerklause gegangen. Die Ankerklause ist eine Kneipe, die eingerichtet ist wie ein Schiff und in jenem Teil von Kreuzberg liegt, in dem die Figuren aus Regeners Romanen unterwegs sind. Außerdem war die Ankerklause eines der ersten Lokale im alten Westberlin, in denen man Kaffee mit geschäumter Milch bekam, und zwar in diesen weißen Schüsseln, wie in Paris. Das ist wichtig, weil in Regeners neuem Buch der Milchkaffe zu einer Art Dingsymbol wird. Die einen wollen ihn konsumieren, die anderen versuchen, sich eine Existenz damit aufzubauen. So wie die Mitarbeiter einer heruntergerockten Kiezkneipe, die mit Milchkaffee endlich mal mehr Publikum anziehen wollen.
Allerdings hat die Ankerklause an diesem Spätsommermorgen zu, und auch sonst machen viele Läden in Kreuzberg derzeit erst spätnachmittags auf. Ihnen fehlen die Servicekräfte, die sich wegen der Pandemie etwas anderes suchen mussten. Also ein Treffen im Café Einstein, ebenfalls eine Westberliner Institution. Sven Regener, schwarzes Outfit, schwarze Hornbrille, bestellt, nun ja, Milchkaffee und erzählt, wie er selbst die Corona-Zeit verbracht hat. In der „Pseudoarbeitslosigkeit“ nämlich, weil er mit der Band Element of Crime, seinem ersten künstlerischen Standbein, nicht mehr auftreten konnte. Aber er sei „ein manischer Typ“ und habe dann wieder ein Buch geschrieben. Das heißt „Glitterschnitter“ und bringt einen mit alten Bekannten aus früheren Romanen zusammen. Da sind die vor sich hinwurstelnden Künstler H.R. Ledigt und Karl Schmidt, die jetzt mit einem großformatigen Ölbild beziehungsweise einer Band namens Glitterschnitter (Motto: „Wer übt, ist feige“) ihr Glück versuchen. Da sind Chrissie aus Stuttgart und ihr Onkel Erwin, der nicht einsieht, warum er in seiner Kneipe plötzlich Milchkaffee ausschenken soll statt Flaschenbier. Und da ist natürlich Frank Lehmann, „Ex-Speditionskaufmann, Ex-Bremer, Ex-Wehrpflichtiger, Ex-Selbstmordvortäuscher“. Man kennt ihn seit Regeners Debüt „Herr Lehmann“ (2001), das zum Bestseller und später von Leander Haußmann verfilmt wurde.
Auch das Setting ist wieder dasselbe wie in früheren Regener-Romanen, der Kreuzberger Kiez in den Achtzigerjahren nämlich. Das alte Westberlin beziehungsweise „die Stadt mit einer Mauer drumherum“, wie es bei Regener heißt, wird in Film und Literatur schon seit einiger Zeit als eine Art deutsches Utopia beschworen. Der Kabarettist Rainald Grebe hat in der Schaubühne ein Westberlin-Musical herausgebracht, Oskar Roehler beschrieb in seinem Roman „Mein Leben als Affenarsch“ die Mauerstadt als Ort, der gleichzeitig kaputt und beseelt ist. Der Dokumentarfilm „B-Movie: Lust and Sound in Westberlin 1979 – 1989“ setzt schließlich der damaligen Szene und ihren Treffpunkten ein eindrucksvolles Denkmal mit Archivaufnahmen von Nick Cave, David Bowie oder Martin Kippenberger beim Partymachen, einmal sieht man Tilda Swinton an der Mauer vorbeiradeln.
Und das ist ja auch kein Wunder. Westberlin war die Stadt, in der man einmal im Monat für den Lebensunterhalt kellnerte und sonst frei war zu tun, was man wollte. In der die Subventionen flossen, die Mieten spottbillig waren, und wer kein Haus hatte, besetzte eben eines. Vor allem aber waren auch alle dort, und auf die fiel das Licht der internationalen Aufmerksamkeit, oder wie es Regener ausdrückt: Westberlin war wie „von einer riesigen Glühbirne“ angestrahlt.
Der gebürtige Bremer hat selbst in diesem Umfeld angefangen. „Ich bin als Musiker mit einer Trompete hingekommen und konnte überall mitspielen“. Das „schrägste Zeug“ habe Aufmerksamkeit bekommen, weil man es als Ermutigung genommen habe: Wenn so etwas geht, geht noch viel mehr. „Es gibt immer so Phasen des Anything goes, in denen alles explodiert und etwas Neues entsteht“, sagt Regener, „dieser Punkrock-Ansatz: Natürlich kann der nicht Bass spielen, aber er macht es doch ganz okay, und egal, was du machst, mach es einfach.“ Irgendwann enden diese Phasen, nicht zuletzt weil sie ganz schön anstrengend sind. Aber in der Rückschau entstehen jene Projektionen, mit denen Regener inzwischen sechs Romane bestreiten konnte. Er finde es faszinierend, sich an die Zeit zu erinnern, daran, mit welcher Wildheit und Wut die Leute gerade im Kunstbereich agiert haben, sagt Regener. Aber er wehrt sich dagegen, von Westalgie angetrieben zu sein. Er habe einfach ein Gefühl für die Personen und die Zeit, und die würden sich anbieten, „weil man damit alles erzählen kann“. Geschichten von Liebe, Verrat, Sehnsucht und Enttäuschungen. Vor allem aber wolle er von Menschen Anfang zwanzig erzählen, über diese „Twilight-Zone des Lebens“ und eine ganz bestimmte Art der Unruhe, wenn man in einer Welt klarkommen will, deren Regeln man nicht gemacht hat und die man noch nicht durchschaut. Und in der man immer das Gefühl hat, etwas zu verpassen. Diese Themen lösen sich in „Glitterschnitter“ allerdings fast so schnell auf wie Zucker im Milchkaffee. Das liegt einerseits an der Menge der Figuren, die in Regeners Welt unterwegs sind, Menschen, die Michael 1, Jürgen 3, Kacki, Fräulein Mariandl, Wiemer, Sigi, Enno, Helga, Martha, Sybille oder Nachbar Marko heißen, irgendwo herumsitzen, in einem Plenum etwas sagen (wir sind in Kreuzberg) oder einfach Heimweh haben wie die zahlreichen Österreicher, die neuerdings hier herumschwirren. Regener ist inzwischen auch formal beim Westberliner Lebensgefühl angekommen: Jeder kann mitmachen.
Zum anderen liegt das daran, dass in „Glitterschnitter“ extrem viel geredet, monologisiert oder laut gedacht wird. Hier geht es buchstäblich um Sprecherpositionen, die Figuren definieren sich nicht durch ihr Handeln, sondern durch ihr Labern. Das ist phasenweise lustig, weil Regener ein guter Dialogschreiber ist und selbst Sätze im Dialekt authentisch klingen. Manchmal kommen große Weisheiten dabei herum („Nirgendwo je hatte P. Immel sich so frei gefühlt wie in Westberlin, weil hier alles, aber auch wirklich alles total scheißegal war, aber der Preis dafür waren Kälte und Gnadenlosigkeit.“). Und immer, wenn man denkt, jetzt ist wirklich alles gesagt, kommt noch jemand und die Ecke und „mansplaint“ etwas über Milchkaffee, Aktionskunst oder das richtige Leben im falschen. Irgendwann fühlt man sich in dem Roman wie bei einer WG-Party nachts um drei, wenn alle in der Küche hocken: Man kann sich dem Flow nicht entziehen, aber man fragt sich schon auch, ob man seine Zeit nicht mal in einem etwas fresheren Berlin verbringen möchte.
Im Café Einstein pfeift nun der Milchaufschäumer wie eine Uhr, die einem die Stunde schlägt. Wie nimmt er eigentlich das Berlin von heute wahr, diese internationale Stadt, in der große Politik genauso vorkommt wie große Konzerne? Und wo die Mieten bald das Niveau von München erreichen könnten? Er sei kein Kulturpessimist, sagt Regener, er glaube nicht, dass es heute härter sei, in Berlin zurechtzukommen. Die Leute hätten mehr Geld, anders als früher gebe es auch gute Jobs. Er sage das vielleicht, weil er selbst gut versorgt sei und zwanzig gute Jahre hinter sich habe. „Aber wenn man mich fragt, findet alles auch immer weiter statt, junge Künstler wachsen nach.“ Vielleicht schaffen es die ja dann auch mal in einen Sven-Regener-Roman.
Westberlin, das war das
ewige Gefühl von
„mach es einfach“
Irgendwann fühlt man sich
wie bei einer WG-Party
nachts um drei
Sven Regener:
Glitterschnitter. Roman. Galiani, Berlin 2021.
480 Seiten, 24 Euro.
Sven Regener, eigentlich Bremer und eigentlich Musiker, kam in den Achtzigerjahren nach Berlin und hat inzwischen sechs Bücher geschrieben, alle immer auch Berlin-Romane.
Foto: Charlotte Goltermann
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
jeder mitmachen
Sven Regener kehrt in „Glitterschnitter“ mal wieder
ins Westberlin der 80er-Jahre zurück
VON VERENA MAYER
Sven Regener wäre gern in die Ankerklause gegangen. Die Ankerklause ist eine Kneipe, die eingerichtet ist wie ein Schiff und in jenem Teil von Kreuzberg liegt, in dem die Figuren aus Regeners Romanen unterwegs sind. Außerdem war die Ankerklause eines der ersten Lokale im alten Westberlin, in denen man Kaffee mit geschäumter Milch bekam, und zwar in diesen weißen Schüsseln, wie in Paris. Das ist wichtig, weil in Regeners neuem Buch der Milchkaffe zu einer Art Dingsymbol wird. Die einen wollen ihn konsumieren, die anderen versuchen, sich eine Existenz damit aufzubauen. So wie die Mitarbeiter einer heruntergerockten Kiezkneipe, die mit Milchkaffee endlich mal mehr Publikum anziehen wollen.
Allerdings hat die Ankerklause an diesem Spätsommermorgen zu, und auch sonst machen viele Läden in Kreuzberg derzeit erst spätnachmittags auf. Ihnen fehlen die Servicekräfte, die sich wegen der Pandemie etwas anderes suchen mussten. Also ein Treffen im Café Einstein, ebenfalls eine Westberliner Institution. Sven Regener, schwarzes Outfit, schwarze Hornbrille, bestellt, nun ja, Milchkaffee und erzählt, wie er selbst die Corona-Zeit verbracht hat. In der „Pseudoarbeitslosigkeit“ nämlich, weil er mit der Band Element of Crime, seinem ersten künstlerischen Standbein, nicht mehr auftreten konnte. Aber er sei „ein manischer Typ“ und habe dann wieder ein Buch geschrieben. Das heißt „Glitterschnitter“ und bringt einen mit alten Bekannten aus früheren Romanen zusammen. Da sind die vor sich hinwurstelnden Künstler H.R. Ledigt und Karl Schmidt, die jetzt mit einem großformatigen Ölbild beziehungsweise einer Band namens Glitterschnitter (Motto: „Wer übt, ist feige“) ihr Glück versuchen. Da sind Chrissie aus Stuttgart und ihr Onkel Erwin, der nicht einsieht, warum er in seiner Kneipe plötzlich Milchkaffee ausschenken soll statt Flaschenbier. Und da ist natürlich Frank Lehmann, „Ex-Speditionskaufmann, Ex-Bremer, Ex-Wehrpflichtiger, Ex-Selbstmordvortäuscher“. Man kennt ihn seit Regeners Debüt „Herr Lehmann“ (2001), das zum Bestseller und später von Leander Haußmann verfilmt wurde.
Auch das Setting ist wieder dasselbe wie in früheren Regener-Romanen, der Kreuzberger Kiez in den Achtzigerjahren nämlich. Das alte Westberlin beziehungsweise „die Stadt mit einer Mauer drumherum“, wie es bei Regener heißt, wird in Film und Literatur schon seit einiger Zeit als eine Art deutsches Utopia beschworen. Der Kabarettist Rainald Grebe hat in der Schaubühne ein Westberlin-Musical herausgebracht, Oskar Roehler beschrieb in seinem Roman „Mein Leben als Affenarsch“ die Mauerstadt als Ort, der gleichzeitig kaputt und beseelt ist. Der Dokumentarfilm „B-Movie: Lust and Sound in Westberlin 1979 – 1989“ setzt schließlich der damaligen Szene und ihren Treffpunkten ein eindrucksvolles Denkmal mit Archivaufnahmen von Nick Cave, David Bowie oder Martin Kippenberger beim Partymachen, einmal sieht man Tilda Swinton an der Mauer vorbeiradeln.
Und das ist ja auch kein Wunder. Westberlin war die Stadt, in der man einmal im Monat für den Lebensunterhalt kellnerte und sonst frei war zu tun, was man wollte. In der die Subventionen flossen, die Mieten spottbillig waren, und wer kein Haus hatte, besetzte eben eines. Vor allem aber waren auch alle dort, und auf die fiel das Licht der internationalen Aufmerksamkeit, oder wie es Regener ausdrückt: Westberlin war wie „von einer riesigen Glühbirne“ angestrahlt.
Der gebürtige Bremer hat selbst in diesem Umfeld angefangen. „Ich bin als Musiker mit einer Trompete hingekommen und konnte überall mitspielen“. Das „schrägste Zeug“ habe Aufmerksamkeit bekommen, weil man es als Ermutigung genommen habe: Wenn so etwas geht, geht noch viel mehr. „Es gibt immer so Phasen des Anything goes, in denen alles explodiert und etwas Neues entsteht“, sagt Regener, „dieser Punkrock-Ansatz: Natürlich kann der nicht Bass spielen, aber er macht es doch ganz okay, und egal, was du machst, mach es einfach.“ Irgendwann enden diese Phasen, nicht zuletzt weil sie ganz schön anstrengend sind. Aber in der Rückschau entstehen jene Projektionen, mit denen Regener inzwischen sechs Romane bestreiten konnte. Er finde es faszinierend, sich an die Zeit zu erinnern, daran, mit welcher Wildheit und Wut die Leute gerade im Kunstbereich agiert haben, sagt Regener. Aber er wehrt sich dagegen, von Westalgie angetrieben zu sein. Er habe einfach ein Gefühl für die Personen und die Zeit, und die würden sich anbieten, „weil man damit alles erzählen kann“. Geschichten von Liebe, Verrat, Sehnsucht und Enttäuschungen. Vor allem aber wolle er von Menschen Anfang zwanzig erzählen, über diese „Twilight-Zone des Lebens“ und eine ganz bestimmte Art der Unruhe, wenn man in einer Welt klarkommen will, deren Regeln man nicht gemacht hat und die man noch nicht durchschaut. Und in der man immer das Gefühl hat, etwas zu verpassen. Diese Themen lösen sich in „Glitterschnitter“ allerdings fast so schnell auf wie Zucker im Milchkaffee. Das liegt einerseits an der Menge der Figuren, die in Regeners Welt unterwegs sind, Menschen, die Michael 1, Jürgen 3, Kacki, Fräulein Mariandl, Wiemer, Sigi, Enno, Helga, Martha, Sybille oder Nachbar Marko heißen, irgendwo herumsitzen, in einem Plenum etwas sagen (wir sind in Kreuzberg) oder einfach Heimweh haben wie die zahlreichen Österreicher, die neuerdings hier herumschwirren. Regener ist inzwischen auch formal beim Westberliner Lebensgefühl angekommen: Jeder kann mitmachen.
Zum anderen liegt das daran, dass in „Glitterschnitter“ extrem viel geredet, monologisiert oder laut gedacht wird. Hier geht es buchstäblich um Sprecherpositionen, die Figuren definieren sich nicht durch ihr Handeln, sondern durch ihr Labern. Das ist phasenweise lustig, weil Regener ein guter Dialogschreiber ist und selbst Sätze im Dialekt authentisch klingen. Manchmal kommen große Weisheiten dabei herum („Nirgendwo je hatte P. Immel sich so frei gefühlt wie in Westberlin, weil hier alles, aber auch wirklich alles total scheißegal war, aber der Preis dafür waren Kälte und Gnadenlosigkeit.“). Und immer, wenn man denkt, jetzt ist wirklich alles gesagt, kommt noch jemand und die Ecke und „mansplaint“ etwas über Milchkaffee, Aktionskunst oder das richtige Leben im falschen. Irgendwann fühlt man sich in dem Roman wie bei einer WG-Party nachts um drei, wenn alle in der Küche hocken: Man kann sich dem Flow nicht entziehen, aber man fragt sich schon auch, ob man seine Zeit nicht mal in einem etwas fresheren Berlin verbringen möchte.
Im Café Einstein pfeift nun der Milchaufschäumer wie eine Uhr, die einem die Stunde schlägt. Wie nimmt er eigentlich das Berlin von heute wahr, diese internationale Stadt, in der große Politik genauso vorkommt wie große Konzerne? Und wo die Mieten bald das Niveau von München erreichen könnten? Er sei kein Kulturpessimist, sagt Regener, er glaube nicht, dass es heute härter sei, in Berlin zurechtzukommen. Die Leute hätten mehr Geld, anders als früher gebe es auch gute Jobs. Er sage das vielleicht, weil er selbst gut versorgt sei und zwanzig gute Jahre hinter sich habe. „Aber wenn man mich fragt, findet alles auch immer weiter statt, junge Künstler wachsen nach.“ Vielleicht schaffen es die ja dann auch mal in einen Sven-Regener-Roman.
Westberlin, das war das
ewige Gefühl von
„mach es einfach“
Irgendwann fühlt man sich
wie bei einer WG-Party
nachts um drei
Sven Regener:
Glitterschnitter. Roman. Galiani, Berlin 2021.
480 Seiten, 24 Euro.
Sven Regener, eigentlich Bremer und eigentlich Musiker, kam in den Achtzigerjahren nach Berlin und hat inzwischen sechs Bücher geschrieben, alle immer auch Berlin-Romane.
Foto: Charlotte Goltermann
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Paul Jandl braucht gar nicht mehr, als sich von Sven Regeners neuem Roman angenehm hin und her schaukeln zu lassen. In dessen Berlin der 80er Jahre dürfen die Leute einfach mal nichts tun, ohne dass das irgendwie relativiert würde, und Jandl findet das super: Gerne beobachtet er Frank Lehman dabei, wie er im Café "Einfall" seinen Milchkaffee aufschäumt, wie die Planung eines neuen Cafés versandet, wie die Menschen durch die schon damals unter "Denkmalschutz" stehende "gemütliche Servicewüste" der Berliner Gastronomie tingeln und dabei viel davon reden, was man tun könnte. Ein bisschen Kulturkampf mit vereinzelt auftretenden Wienern (namens P. Immel oder Kacki, schmunzelt Jandl) darf sein, aber hauptsächlich sind es die "Mikrodialoge berlinerischer Menschenseelen", die den Kritiker in ihrer Unaufdringlichkeit bezaubern.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2021Szenen aus der Kreuzberger Antike
Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören: Sven Regener erzählt in "Glitterschnitter" weiter aus der Welt von Herrn Lehmann. Das erinnert an ein absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife.
Das Großartige an den Romanen von Sven Regener ist ihr Sinn fürs Wesentliche. Milchschaum und Bohrmaschinen zum Beispiel. Die werden bei den existenziellen Themen, über die sich Menschen wochenlang den Kopf zerbrechen können, häufig vergessen.
In Regeners jüngstem Roman, "Glitterschnitter", ist viel von Milchschaum und Bohrmaschinen die Rede. Und auch von Kunst: Aktionskunst, Kneipenkunst, der Kunst, den Österreicher in sich zum Klingen zu bringen, der Kunst, ein Leben zu leben, sowie von Tonkunst, die mit Bohrmaschinen-Beteiligung gut, aber ohne eventuell besser durch den Lautsprecher kommt.
Wobei freilich auch das Milchschäumen eine Kunst ist - vom Wortschäumen gar nicht zu reden, das manche Protagonisten wie die Mitglieder der Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft ähnlich perfekt beherrschen wie der Autor (nein, kein Geblubber: ausgeklügeltes Präzisionsschäumen, ein Bläschen zu viel würde alles verderben).
Die Protagonisten des Buches muss man nach "Wiener Straße", dem vierten Band der Frank-Lehmann-Reihe, an den es anknüpft und dabei wieder multiperspektivisch erzählt, nicht weiter vorstellen. Aber "Glitterschnitter" könnte mit seinen Momentaufnahmen aus der Kreuzberger Antike auch für sich stehen. Es würde sogar als absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife funktionieren - mit einem Café, Erwin Kächeles "Café Einfall", als Mittelpunkt.
Über dem "Einfall" wohnen Karl Schmidt, genannt Charlie, Erwins Nichte Chrissie, Frank Lehmann und Heinz Rüdiger, genannt H.R., Ledigt. Neben dem Café befindet sich die "Intimfrisur", ein ehemaliger Friseursalon, über den es irgendwann zu Recht heißen wird: "Das ist doch kein Name für ein Kaffeehaus."
Und in der Bühnenwohnung würde H.R. dann wohl die Ikea-Landschaft aufbauen, die zu Romanbeginn noch als Musterwohnung im Möbelhaus steht. Der blitzgescheite H.R. erkennt in ihr eine "Studie in heiler Welt", die "von einem gelingenden Leben erzählt, in dem an alles gedacht und für alles gesorgt war". Er hat den "Wahnsinn" fotografiert und gekauft und versucht ihn nun als Kunstprojekt (das letzte mit Kettensäge aus dem Baumarkt hieß "Mein Freund der Baum") wieder zusammenzubringen. "Und alles sagt: Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören. Ich nenne das: Nach der Neutronenbombe!"
Ob er es damit wirklich zur anstehenden "Wall City" bringt? Sein "Manager" Wiemer hat da seine Zweifel, weil er über seine Kontakte zum Kulturbürokraten Sigi nur ein Ölgemälde vermitteln könnte: "Schreibst halt einen Beipackzettel dazu, das ist doch da die Idee bei der ganzen Konzeptkunstscheiße." Aber Zweifel gehören zum Leben. Der Schlagzeuger Raimund, der Keyboarder Ferdi und Charlie an der Bohrmaschine, die als Band namens Glitterschnitter an der "Wall City Noise" teilnehmen wollen, haben sie vermutlich auch.
Der kurze Handlungsbogen, den Regener in "Glitterschnitter" bis zu einem gemeinsamen Auftritt von H.R. und der besagten Band spannt, ist nicht origineller als die Handlung eines Familienfilms aus den Achtzigerjahren. Aber das ist bei dieser Kettenkarussellfahrt von Roman, die im Jahr 1980 spielt, ja dann irgendwie auch schon wieder treffend gewählt. Sitzt man einmal drin, will man nicht raus. Von Regeners urkomischen, weil haarscharf am Irrwitz der Wirklichkeit entlanggeschriebenen Dialogen im Sound der Zeit und der Melancholie, die alles durchweht, wenn er auf Durchzug stellt, kommt man schwer los.
Eine seiner Figuren, P. Immel, mag zuweilen über "Selbstanzeige wegen Lebenszeitdiebstahls" nachdenken. Dass ihn aber Leser wegen dergleichen anzeigen würden: diese Sorge muss Sven Regener, der mit "Wiener Straße" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kam, nicht haben.
Man fragt sich bloß wie bei Marvel: Was kommt als Nächstes? Ein Sprung über den Start der Buchreihe, der im Wende-Herbst 1989 spielte, und "Magical Mystery", das in die Techno-Welt der Neunziger reiste, hinweg ins durchsanierte, durchgentrifizierte, von Lockdown-Monaten durchgeschüttelte Berlin der Gegenwart? MATTHIAS HANNEMANN.
Sven Regener: "Glitterschnitter". Roman.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2021. 480 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören: Sven Regener erzählt in "Glitterschnitter" weiter aus der Welt von Herrn Lehmann. Das erinnert an ein absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife.
Das Großartige an den Romanen von Sven Regener ist ihr Sinn fürs Wesentliche. Milchschaum und Bohrmaschinen zum Beispiel. Die werden bei den existenziellen Themen, über die sich Menschen wochenlang den Kopf zerbrechen können, häufig vergessen.
In Regeners jüngstem Roman, "Glitterschnitter", ist viel von Milchschaum und Bohrmaschinen die Rede. Und auch von Kunst: Aktionskunst, Kneipenkunst, der Kunst, den Österreicher in sich zum Klingen zu bringen, der Kunst, ein Leben zu leben, sowie von Tonkunst, die mit Bohrmaschinen-Beteiligung gut, aber ohne eventuell besser durch den Lautsprecher kommt.
Wobei freilich auch das Milchschäumen eine Kunst ist - vom Wortschäumen gar nicht zu reden, das manche Protagonisten wie die Mitglieder der Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft ähnlich perfekt beherrschen wie der Autor (nein, kein Geblubber: ausgeklügeltes Präzisionsschäumen, ein Bläschen zu viel würde alles verderben).
Die Protagonisten des Buches muss man nach "Wiener Straße", dem vierten Band der Frank-Lehmann-Reihe, an den es anknüpft und dabei wieder multiperspektivisch erzählt, nicht weiter vorstellen. Aber "Glitterschnitter" könnte mit seinen Momentaufnahmen aus der Kreuzberger Antike auch für sich stehen. Es würde sogar als absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife funktionieren - mit einem Café, Erwin Kächeles "Café Einfall", als Mittelpunkt.
Über dem "Einfall" wohnen Karl Schmidt, genannt Charlie, Erwins Nichte Chrissie, Frank Lehmann und Heinz Rüdiger, genannt H.R., Ledigt. Neben dem Café befindet sich die "Intimfrisur", ein ehemaliger Friseursalon, über den es irgendwann zu Recht heißen wird: "Das ist doch kein Name für ein Kaffeehaus."
Und in der Bühnenwohnung würde H.R. dann wohl die Ikea-Landschaft aufbauen, die zu Romanbeginn noch als Musterwohnung im Möbelhaus steht. Der blitzgescheite H.R. erkennt in ihr eine "Studie in heiler Welt", die "von einem gelingenden Leben erzählt, in dem an alles gedacht und für alles gesorgt war". Er hat den "Wahnsinn" fotografiert und gekauft und versucht ihn nun als Kunstprojekt (das letzte mit Kettensäge aus dem Baumarkt hieß "Mein Freund der Baum") wieder zusammenzubringen. "Und alles sagt: Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören. Ich nenne das: Nach der Neutronenbombe!"
Ob er es damit wirklich zur anstehenden "Wall City" bringt? Sein "Manager" Wiemer hat da seine Zweifel, weil er über seine Kontakte zum Kulturbürokraten Sigi nur ein Ölgemälde vermitteln könnte: "Schreibst halt einen Beipackzettel dazu, das ist doch da die Idee bei der ganzen Konzeptkunstscheiße." Aber Zweifel gehören zum Leben. Der Schlagzeuger Raimund, der Keyboarder Ferdi und Charlie an der Bohrmaschine, die als Band namens Glitterschnitter an der "Wall City Noise" teilnehmen wollen, haben sie vermutlich auch.
Der kurze Handlungsbogen, den Regener in "Glitterschnitter" bis zu einem gemeinsamen Auftritt von H.R. und der besagten Band spannt, ist nicht origineller als die Handlung eines Familienfilms aus den Achtzigerjahren. Aber das ist bei dieser Kettenkarussellfahrt von Roman, die im Jahr 1980 spielt, ja dann irgendwie auch schon wieder treffend gewählt. Sitzt man einmal drin, will man nicht raus. Von Regeners urkomischen, weil haarscharf am Irrwitz der Wirklichkeit entlanggeschriebenen Dialogen im Sound der Zeit und der Melancholie, die alles durchweht, wenn er auf Durchzug stellt, kommt man schwer los.
Eine seiner Figuren, P. Immel, mag zuweilen über "Selbstanzeige wegen Lebenszeitdiebstahls" nachdenken. Dass ihn aber Leser wegen dergleichen anzeigen würden: diese Sorge muss Sven Regener, der mit "Wiener Straße" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kam, nicht haben.
Man fragt sich bloß wie bei Marvel: Was kommt als Nächstes? Ein Sprung über den Start der Buchreihe, der im Wende-Herbst 1989 spielte, und "Magical Mystery", das in die Techno-Welt der Neunziger reiste, hinweg ins durchsanierte, durchgentrifizierte, von Lockdown-Monaten durchgeschüttelte Berlin der Gegenwart? MATTHIAS HANNEMANN.
Sven Regener: "Glitterschnitter". Roman.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2021. 480 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2021Da kann
jeder mitmachen
Sven Regener kehrt in „Glitterschnitter“ mal wieder
ins Westberlin der 80er-Jahre zurück
VON VERENA MAYER
Sven Regener wäre gern in die Ankerklause gegangen. Die Ankerklause ist eine Kneipe, die eingerichtet ist wie ein Schiff und in jenem Teil von Kreuzberg liegt, in dem die Figuren aus Regeners Romanen unterwegs sind. Außerdem war die Ankerklause eines der ersten Lokale im alten Westberlin, in denen man Kaffee mit geschäumter Milch bekam, und zwar in diesen weißen Schüsseln, wie in Paris. Das ist wichtig, weil in Regeners neuem Buch der Milchkaffe zu einer Art Dingsymbol wird. Die einen wollen ihn konsumieren, die anderen versuchen, sich eine Existenz damit aufzubauen. So wie die Mitarbeiter einer heruntergerockten Kiezkneipe, die mit Milchkaffee endlich mal mehr Publikum anziehen wollen.
Allerdings hat die Ankerklause an diesem Spätsommermorgen zu, und auch sonst machen viele Läden in Kreuzberg derzeit erst spätnachmittags auf. Ihnen fehlen die Servicekräfte, die sich wegen der Pandemie etwas anderes suchen mussten. Also ein Treffen im Café Einstein, ebenfalls eine Westberliner Institution. Sven Regener, schwarzes Outfit, schwarze Hornbrille, bestellt, nun ja, Milchkaffee und erzählt, wie er selbst die Corona-Zeit verbracht hat. In der „Pseudoarbeitslosigkeit“ nämlich, weil er mit der Band Element of Crime, seinem ersten künstlerischen Standbein, nicht mehr auftreten konnte. Aber er sei „ein manischer Typ“ und habe dann wieder ein Buch geschrieben. Das heißt „Glitterschnitter“ und bringt einen mit alten Bekannten aus früheren Romanen zusammen. Da sind die vor sich hinwurstelnden Künstler H.R. Ledigt und Karl Schmidt, die jetzt mit einem großformatigen Ölbild beziehungsweise einer Band namens Glitterschnitter (Motto: „Wer übt, ist feige“) ihr Glück versuchen. Da sind Chrissie aus Stuttgart und ihr Onkel Erwin, der nicht einsieht, warum er in seiner Kneipe plötzlich Milchkaffee ausschenken soll statt Flaschenbier. Und da ist natürlich Frank Lehmann, „Ex-Speditionskaufmann, Ex-Bremer, Ex-Wehrpflichtiger, Ex-Selbstmordvortäuscher“. Man kennt ihn seit Regeners Debüt „Herr Lehmann“ (2001), das zum Bestseller und später von Leander Haußmann verfilmt wurde.
Auch das Setting ist wieder dasselbe wie in früheren Regener-Romanen, der Kreuzberger Kiez in den Achtzigerjahren nämlich. Das alte Westberlin beziehungsweise „die Stadt mit einer Mauer drumherum“, wie es bei Regener heißt, wird in Film und Literatur schon seit einiger Zeit als eine Art deutsches Utopia beschworen. Der Kabarettist Rainald Grebe hat in der Schaubühne ein Westberlin-Musical herausgebracht, Oskar Roehler beschrieb in seinem Roman „Mein Leben als Affenarsch“ die Mauerstadt als Ort, der gleichzeitig kaputt und beseelt ist. Der Dokumentarfilm „B-Movie: Lust and Sound in Westberlin 1979 – 1989“ setzt schließlich der damaligen Szene und ihren Treffpunkten ein eindrucksvolles Denkmal mit Archivaufnahmen von Nick Cave, David Bowie oder Martin Kippenberger beim Partymachen, einmal sieht man Tilda Swinton an der Mauer vorbeiradeln.
Und das ist ja auch kein Wunder. Westberlin war die Stadt, in der man einmal im Monat für den Lebensunterhalt kellnerte und sonst frei war zu tun, was man wollte. In der die Subventionen flossen, die Mieten spottbillig waren, und wer kein Haus hatte, besetzte eben eines. Vor allem aber waren auch alle dort, und auf die fiel das Licht der internationalen Aufmerksamkeit, oder wie es Regener ausdrückt: Westberlin war wie „von einer riesigen Glühbirne“ angestrahlt.
Der gebürtige Bremer hat selbst in diesem Umfeld angefangen. „Ich bin als Musiker mit einer Trompete hingekommen und konnte überall mitspielen“. Das „schrägste Zeug“ habe Aufmerksamkeit bekommen, weil man es als Ermutigung genommen habe: Wenn so etwas geht, geht noch viel mehr. „Es gibt immer so Phasen des Anything goes, in denen alles explodiert und etwas Neues entsteht“, sagt Regener, „dieser Punkrock-Ansatz: Natürlich kann der nicht Bass spielen, aber er macht es doch ganz okay, und egal, was du machst, mach es einfach.“ Irgendwann enden diese Phasen, nicht zuletzt weil sie ganz schön anstrengend sind. Aber in der Rückschau entstehen jene Projektionen, mit denen Regener inzwischen sechs Romane bestreiten konnte. Er finde es faszinierend, sich an die Zeit zu erinnern, daran, mit welcher Wildheit und Wut die Leute gerade im Kunstbereich agiert haben, sagt Regener. Aber er wehrt sich dagegen, von Westalgie angetrieben zu sein. Er habe einfach ein Gefühl für die Personen und die Zeit, und die würden sich anbieten, „weil man damit alles erzählen kann“. Geschichten von Liebe, Verrat, Sehnsucht und Enttäuschungen. Vor allem aber wolle er von Menschen Anfang zwanzig erzählen, über diese „Twilight-Zone des Lebens“ und eine ganz bestimmte Art der Unruhe, wenn man in einer Welt klarkommen will, deren Regeln man nicht gemacht hat und die man noch nicht durchschaut. Und in der man immer das Gefühl hat, etwas zu verpassen. Diese Themen lösen sich in „Glitterschnitter“ allerdings fast so schnell auf wie Zucker im Milchkaffee. Das liegt einerseits an der Menge der Figuren, die in Regeners Welt unterwegs sind, Menschen, die Michael 1, Jürgen 3, Kacki, Fräulein Mariandl, Wiemer, Sigi, Enno, Helga, Martha, Sybille oder Nachbar Marko heißen, irgendwo herumsitzen, in einem Plenum etwas sagen (wir sind in Kreuzberg) oder einfach Heimweh haben wie die zahlreichen Österreicher, die neuerdings hier herumschwirren. Regener ist inzwischen auch formal beim Westberliner Lebensgefühl angekommen: Jeder kann mitmachen.
Zum anderen liegt das daran, dass in „Glitterschnitter“ extrem viel geredet, monologisiert oder laut gedacht wird. Hier geht es buchstäblich um Sprecherpositionen, die Figuren definieren sich nicht durch ihr Handeln, sondern durch ihr Labern. Das ist phasenweise lustig, weil Regener ein guter Dialogschreiber ist und selbst Sätze im Dialekt authentisch klingen. Manchmal kommen große Weisheiten dabei herum („Nirgendwo je hatte P. Immel sich so frei gefühlt wie in Westberlin, weil hier alles, aber auch wirklich alles total scheißegal war, aber der Preis dafür waren Kälte und Gnadenlosigkeit.“). Und immer, wenn man denkt, jetzt ist wirklich alles gesagt, kommt noch jemand und die Ecke und „mansplaint“ etwas über Milchkaffee, Aktionskunst oder das richtige Leben im falschen. Irgendwann fühlt man sich in dem Roman wie bei einer WG-Party nachts um drei, wenn alle in der Küche hocken: Man kann sich dem Flow nicht entziehen, aber man fragt sich schon auch, ob man seine Zeit nicht mal in einem etwas fresheren Berlin verbringen möchte.
Im Café Einstein pfeift nun der Milchaufschäumer wie eine Uhr, die einem die Stunde schlägt. Wie nimmt er eigentlich das Berlin von heute wahr, diese internationale Stadt, in der große Politik genauso vorkommt wie große Konzerne? Und wo die Mieten bald das Niveau von München erreichen könnten? Er sei kein Kulturpessimist, sagt Regener, er glaube nicht, dass es heute härter sei, in Berlin zurechtzukommen. Die Leute hätten mehr Geld, anders als früher gebe es auch gute Jobs. Er sage das vielleicht, weil er selbst gut versorgt sei und zwanzig gute Jahre hinter sich habe. „Aber wenn man mich fragt, findet alles auch immer weiter statt, junge Künstler wachsen nach.“ Vielleicht schaffen es die ja dann auch mal in einen Sven-Regener-Roman.
Westberlin, das war das
ewige Gefühl von
„mach es einfach“
Irgendwann fühlt man sich
wie bei einer WG-Party
nachts um drei
Sven Regener:
Glitterschnitter. Roman. Galiani, Berlin 2021.
480 Seiten, 24 Euro.
Sven Regener, eigentlich Bremer und eigentlich Musiker, kam in den Achtzigerjahren nach Berlin und hat inzwischen sechs Bücher geschrieben, alle immer auch Berlin-Romane.
Foto: Charlotte Goltermann
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
jeder mitmachen
Sven Regener kehrt in „Glitterschnitter“ mal wieder
ins Westberlin der 80er-Jahre zurück
VON VERENA MAYER
Sven Regener wäre gern in die Ankerklause gegangen. Die Ankerklause ist eine Kneipe, die eingerichtet ist wie ein Schiff und in jenem Teil von Kreuzberg liegt, in dem die Figuren aus Regeners Romanen unterwegs sind. Außerdem war die Ankerklause eines der ersten Lokale im alten Westberlin, in denen man Kaffee mit geschäumter Milch bekam, und zwar in diesen weißen Schüsseln, wie in Paris. Das ist wichtig, weil in Regeners neuem Buch der Milchkaffe zu einer Art Dingsymbol wird. Die einen wollen ihn konsumieren, die anderen versuchen, sich eine Existenz damit aufzubauen. So wie die Mitarbeiter einer heruntergerockten Kiezkneipe, die mit Milchkaffee endlich mal mehr Publikum anziehen wollen.
Allerdings hat die Ankerklause an diesem Spätsommermorgen zu, und auch sonst machen viele Läden in Kreuzberg derzeit erst spätnachmittags auf. Ihnen fehlen die Servicekräfte, die sich wegen der Pandemie etwas anderes suchen mussten. Also ein Treffen im Café Einstein, ebenfalls eine Westberliner Institution. Sven Regener, schwarzes Outfit, schwarze Hornbrille, bestellt, nun ja, Milchkaffee und erzählt, wie er selbst die Corona-Zeit verbracht hat. In der „Pseudoarbeitslosigkeit“ nämlich, weil er mit der Band Element of Crime, seinem ersten künstlerischen Standbein, nicht mehr auftreten konnte. Aber er sei „ein manischer Typ“ und habe dann wieder ein Buch geschrieben. Das heißt „Glitterschnitter“ und bringt einen mit alten Bekannten aus früheren Romanen zusammen. Da sind die vor sich hinwurstelnden Künstler H.R. Ledigt und Karl Schmidt, die jetzt mit einem großformatigen Ölbild beziehungsweise einer Band namens Glitterschnitter (Motto: „Wer übt, ist feige“) ihr Glück versuchen. Da sind Chrissie aus Stuttgart und ihr Onkel Erwin, der nicht einsieht, warum er in seiner Kneipe plötzlich Milchkaffee ausschenken soll statt Flaschenbier. Und da ist natürlich Frank Lehmann, „Ex-Speditionskaufmann, Ex-Bremer, Ex-Wehrpflichtiger, Ex-Selbstmordvortäuscher“. Man kennt ihn seit Regeners Debüt „Herr Lehmann“ (2001), das zum Bestseller und später von Leander Haußmann verfilmt wurde.
Auch das Setting ist wieder dasselbe wie in früheren Regener-Romanen, der Kreuzberger Kiez in den Achtzigerjahren nämlich. Das alte Westberlin beziehungsweise „die Stadt mit einer Mauer drumherum“, wie es bei Regener heißt, wird in Film und Literatur schon seit einiger Zeit als eine Art deutsches Utopia beschworen. Der Kabarettist Rainald Grebe hat in der Schaubühne ein Westberlin-Musical herausgebracht, Oskar Roehler beschrieb in seinem Roman „Mein Leben als Affenarsch“ die Mauerstadt als Ort, der gleichzeitig kaputt und beseelt ist. Der Dokumentarfilm „B-Movie: Lust and Sound in Westberlin 1979 – 1989“ setzt schließlich der damaligen Szene und ihren Treffpunkten ein eindrucksvolles Denkmal mit Archivaufnahmen von Nick Cave, David Bowie oder Martin Kippenberger beim Partymachen, einmal sieht man Tilda Swinton an der Mauer vorbeiradeln.
Und das ist ja auch kein Wunder. Westberlin war die Stadt, in der man einmal im Monat für den Lebensunterhalt kellnerte und sonst frei war zu tun, was man wollte. In der die Subventionen flossen, die Mieten spottbillig waren, und wer kein Haus hatte, besetzte eben eines. Vor allem aber waren auch alle dort, und auf die fiel das Licht der internationalen Aufmerksamkeit, oder wie es Regener ausdrückt: Westberlin war wie „von einer riesigen Glühbirne“ angestrahlt.
Der gebürtige Bremer hat selbst in diesem Umfeld angefangen. „Ich bin als Musiker mit einer Trompete hingekommen und konnte überall mitspielen“. Das „schrägste Zeug“ habe Aufmerksamkeit bekommen, weil man es als Ermutigung genommen habe: Wenn so etwas geht, geht noch viel mehr. „Es gibt immer so Phasen des Anything goes, in denen alles explodiert und etwas Neues entsteht“, sagt Regener, „dieser Punkrock-Ansatz: Natürlich kann der nicht Bass spielen, aber er macht es doch ganz okay, und egal, was du machst, mach es einfach.“ Irgendwann enden diese Phasen, nicht zuletzt weil sie ganz schön anstrengend sind. Aber in der Rückschau entstehen jene Projektionen, mit denen Regener inzwischen sechs Romane bestreiten konnte. Er finde es faszinierend, sich an die Zeit zu erinnern, daran, mit welcher Wildheit und Wut die Leute gerade im Kunstbereich agiert haben, sagt Regener. Aber er wehrt sich dagegen, von Westalgie angetrieben zu sein. Er habe einfach ein Gefühl für die Personen und die Zeit, und die würden sich anbieten, „weil man damit alles erzählen kann“. Geschichten von Liebe, Verrat, Sehnsucht und Enttäuschungen. Vor allem aber wolle er von Menschen Anfang zwanzig erzählen, über diese „Twilight-Zone des Lebens“ und eine ganz bestimmte Art der Unruhe, wenn man in einer Welt klarkommen will, deren Regeln man nicht gemacht hat und die man noch nicht durchschaut. Und in der man immer das Gefühl hat, etwas zu verpassen. Diese Themen lösen sich in „Glitterschnitter“ allerdings fast so schnell auf wie Zucker im Milchkaffee. Das liegt einerseits an der Menge der Figuren, die in Regeners Welt unterwegs sind, Menschen, die Michael 1, Jürgen 3, Kacki, Fräulein Mariandl, Wiemer, Sigi, Enno, Helga, Martha, Sybille oder Nachbar Marko heißen, irgendwo herumsitzen, in einem Plenum etwas sagen (wir sind in Kreuzberg) oder einfach Heimweh haben wie die zahlreichen Österreicher, die neuerdings hier herumschwirren. Regener ist inzwischen auch formal beim Westberliner Lebensgefühl angekommen: Jeder kann mitmachen.
Zum anderen liegt das daran, dass in „Glitterschnitter“ extrem viel geredet, monologisiert oder laut gedacht wird. Hier geht es buchstäblich um Sprecherpositionen, die Figuren definieren sich nicht durch ihr Handeln, sondern durch ihr Labern. Das ist phasenweise lustig, weil Regener ein guter Dialogschreiber ist und selbst Sätze im Dialekt authentisch klingen. Manchmal kommen große Weisheiten dabei herum („Nirgendwo je hatte P. Immel sich so frei gefühlt wie in Westberlin, weil hier alles, aber auch wirklich alles total scheißegal war, aber der Preis dafür waren Kälte und Gnadenlosigkeit.“). Und immer, wenn man denkt, jetzt ist wirklich alles gesagt, kommt noch jemand und die Ecke und „mansplaint“ etwas über Milchkaffee, Aktionskunst oder das richtige Leben im falschen. Irgendwann fühlt man sich in dem Roman wie bei einer WG-Party nachts um drei, wenn alle in der Küche hocken: Man kann sich dem Flow nicht entziehen, aber man fragt sich schon auch, ob man seine Zeit nicht mal in einem etwas fresheren Berlin verbringen möchte.
Im Café Einstein pfeift nun der Milchaufschäumer wie eine Uhr, die einem die Stunde schlägt. Wie nimmt er eigentlich das Berlin von heute wahr, diese internationale Stadt, in der große Politik genauso vorkommt wie große Konzerne? Und wo die Mieten bald das Niveau von München erreichen könnten? Er sei kein Kulturpessimist, sagt Regener, er glaube nicht, dass es heute härter sei, in Berlin zurechtzukommen. Die Leute hätten mehr Geld, anders als früher gebe es auch gute Jobs. Er sage das vielleicht, weil er selbst gut versorgt sei und zwanzig gute Jahre hinter sich habe. „Aber wenn man mich fragt, findet alles auch immer weiter statt, junge Künstler wachsen nach.“ Vielleicht schaffen es die ja dann auch mal in einen Sven-Regener-Roman.
Westberlin, das war das
ewige Gefühl von
„mach es einfach“
Irgendwann fühlt man sich
wie bei einer WG-Party
nachts um drei
Sven Regener:
Glitterschnitter. Roman. Galiani, Berlin 2021.
480 Seiten, 24 Euro.
Sven Regener, eigentlich Bremer und eigentlich Musiker, kam in den Achtzigerjahren nach Berlin und hat inzwischen sechs Bücher geschrieben, alle immer auch Berlin-Romane.
Foto: Charlotte Goltermann
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dieses Buch macht gute Laune, es ist so, als würde man mit Kacki, P. Immel, H. R. Ledigt und dem ganzen irren Westberliner Haufen in einer WG wohnen. Arg! Jens Uthoff taz am Wochenende 20211211