Konstantin ist ein Glückskind. Das sagt zumindest seine Mutter, die alles dafür tut, die in der DDR aufwachsenden Söhne davon abzuschirmen, dass ihr Vater ein Kriegsverbrecher war. Vergebens. Unermüdlich versucht Konstantin, dem Schatten des Vaters zu entkommen. Er ändert seinen Namen, bewirbt sich bei der Fremdenlegion und bringt es fast bis zum Rektor einer Oberschule. Die Vergangenheit holt ihn wieder ein, als seine Frau nach 25 Ehejahren drauf und dran ist, seine wahre Identität zu entdecken. Christoph Hein erzählt ein Leben in der DDR, in dem das Private nie privat bleiben darf, sondern der Staat zum eigentlichen Gestalter des Lebens wird.Lesung mit Ulrich Matthes10 CDs ca. 13 h 10 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Die Akte Konstantin Boggosch
In Christoph Heins raffiniertem Schelmenroman gibt es für das "Glückskind mit Vater" keine Rettung vor der Bürde der deutschen Vergangenheit.
Von Rose-Maria Gropp
Da ist eine Exposition, einer Traumsequenz ähnlich. Ein Mann wie aus einer anderen Welt in weißer Uniform mit Frack tänzelt durch ein Wäldchen junger Birken. Er köpft sie mit seiner schlanken Peitsche, selbstzufrieden verschwindet er. Was kann er sein? Er muss die personifizierte Nonchalance der Gewalt sein, über alle Zeiten und Regimes hin. Die mysteriöse Erscheinung geht einem Rechenschaftsbericht voran, den ein Mann, jetzt in unseren Tagen Ende seiner Sechziger, vor sich selbst ablegt, nicht vor den gerade Herrschenden. Diesen Mann hat das Gespenst seines Vaters lebenslang verfolgt.
Er wird im Mai 1945 geboren, in der kleinen ostdeutschen Stadt G., seinen Vater hat er nie gekannt. Er kam nicht aus dem Krieg zurück, ein Schicksal, das Konstantin Boggosch, seine Mutter und der zwei Jahre ältere Bruder Gunthard mit anderen Altersgenossen teilen. Doch sein Erzeuger war der Industrielle Gerhard Müller, der Mann seiner Mutter Erika, Herr über die Gummi- und Reifenfabrik "Vulcano" in G., und er war ein hochrangiger SS-Scherge, von den Nationalsozialisten autorisierter Vollstrecker, der noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begann, ein Arbeits- und Konzentrationslager auf seinem Werksgelände zu errichten. Vor dessen Vollendung wird Gerhard Müller in Polen als Kriegsverbrecher verurteilt und gehenkt. Als die Russen 1945 - Konstantin ist erst wenige Tage alt - nach G. kommen, rettet der Säugling seine Mutter vor dem Schlimmsten; deshalb wird sie ihn ihr "Glückskind" nennen. Der soziale Niedergang der gebildeten Bürgerstochter, die sich in den schneidigen Jungunternehmer Müller verliebt hatte, ist unaufhaltsam, aus der Lehrerin für Fremdsprachen wird eine Frau, die in der Deutschen Demokratischen Republik für den Rest ihres Lebens anderer Leute Wohnungen putzt.
Denn die Sippenhaft schlägt zu, das ärgste Übel, dessen perverse Struktur die beiden Regimes verbindet, das untergegangene der Nationalsozialisten mit dem neu zu errichtenden, sozialistischen System. Zwar gelingt es der Mutter, den Namen Müller zu tilgen, sie und ihre Söhne tragen fortan ihren Mädchennamen Boggosch. Doch die vermaledeite Vergangenheit insistiert. Was das bedeutet für Konstantin Boggosch, davon handelt Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater". Dass schon im Namen Konstantin, was ja "der Beständige" heißt, eine Bürde liegt, aber auch eine Aufgabe und Hoffnung, muss Hein nicht eigens erwähnen. Erst als er zehn Jahre alt ist, erfahren er und sein Bruder von der Mutter, wer sein Vater war. Kurz darauf realisiert er, dass er als Sohn Gerhard Müllers weder eine Sportschule besuchen noch sein Abitur machen darf.
Der Vater, begreift Konstantin, "war das Pech meines Lebens, und er klebte lebenslang an mir wie Pech". Mit vierzehn haut er von daheim ab, schlägt sich über das Aufnahmelager Sandbostel bei Bremen bis nach Marseille durch, weil er sich dort der Fremdenlegion anschließen will. Woraus naturgemäß nichts wird, ihn hatte die falsche romantische Vorstellung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit getrogen. Dafür bringt ihn, den kleinen boche, das Schicksal in die Obhut von vier einstigen Résistancekämpfern, die ihn, der von der Mutter Französisch, Italienisch und Englisch gelernt hat, Übersetzungen für ihre Geschäfte anfertigen lassen und auf die Abendschule schicken. Dennoch verlässt Konstantin Frankreich, um heimzukehren in sein Vaterland, zu seiner Mutter. Was für eine verrückte Idee; es ist August 1961, gerade wird die Mauer errichtet.
Auch in diesem Roman konkurriert Hein nicht mit den grands recits der Moderne, den großen Erzählungen über Humanität und Politik, von denen er ohnehin glaubt, dass sie längst abgedankt haben; diese Erkenntnis zieht sich durch sein gesamtes Werk. Und er versucht gar nicht, eine exemplarische Vita zu konstruieren. Er folgt den individuellen Fährnissen seines Konstantin Boggosch. Damit schafft er eine zeitgenössische Variante des Bildungsromans, in dem er obendrein nicht ohne Ironie die Pädagogik - Boggosch wird schließlich Lehrer - eine Rolle spielen lässt. Von Entwicklungsroman kann freilich weniger die Rede sein; denn das Quantum Sturheit, das Konstantin in seinem Leben schützt, behindert ihn auch in nicht geringem Maße. Vor allem die Abenteuer des jungen Boggosch erinnern an Schelmenromane. Immer wieder gelingt es ihm, sich mit Raffinesse und unter großzügiger Auslegung der Wahrheit das Ärgste vom Leib zu halten. Dabei blitzt auch die Komik hin und wieder auf, die das "Glückskind mit Vater" vor erdrückender Schwere bewahrt.
Über mehr als fünfhundert Seiten hin überlagern sich gleichsam mythische Schichten der menschlichen Kondition mit der Lebenswirklichkeit, historische Geschehnisse mit privaten Schicksalen, gefiltert durch die Subjektivität der Erinnerung eines gealterten Ich-Erzählers. Dieser Kommentator seiner selbst und der Zeitläufte mit ihrem scharf ins Visier genommenen Personal bleibt im Gedächtnis. Dass fast keine dieser Figuren eindimensional bleibt - selbst der Vater nicht -, sondern sie sich in den Zwängen der Systeme willensschwach oder opportunistisch verbiegen, entschuldigt sie nicht; es macht sie furchtbar wirklich. Und auch die schreckliche Wahrheit, die Konstantin an Leib und Seele erfahren muss wie einen Fluch, geht uns alle an: "Was uns alle überlebt, das ist die Akte", sagt einer, der ihm vielleicht wohl wollte, spät im Buch, nach der Wiedervereinigung, "dies Zeug verschwindet nie spurlos von der Erde."
Christoph Hein hat einen großen klugen, einen packenden Roman über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart geschrieben, über die Ostzone, die dann DDR wird, und auch über das westliche Nachkriegsdeutschland. An seinem Ende fällt ein so bitteres wie realitätsnahes Schlaglicht auf die wiedervereinte deutsche Gesellschaft samt jenen Charakteren, die stets wie die Fettaugen auf der Suppe schwimmen, egal unter welchen ideologischen Vorzeichen sie gekocht wird, und sei es der eigene Bruder. Doch einen Konstantin Boggosch, als Opfer und als Ungebrochenen, vergisst keiner so schnell.
Christoph Hein: "Glückskind mit Vater". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Christoph Heins raffiniertem Schelmenroman gibt es für das "Glückskind mit Vater" keine Rettung vor der Bürde der deutschen Vergangenheit.
Von Rose-Maria Gropp
Da ist eine Exposition, einer Traumsequenz ähnlich. Ein Mann wie aus einer anderen Welt in weißer Uniform mit Frack tänzelt durch ein Wäldchen junger Birken. Er köpft sie mit seiner schlanken Peitsche, selbstzufrieden verschwindet er. Was kann er sein? Er muss die personifizierte Nonchalance der Gewalt sein, über alle Zeiten und Regimes hin. Die mysteriöse Erscheinung geht einem Rechenschaftsbericht voran, den ein Mann, jetzt in unseren Tagen Ende seiner Sechziger, vor sich selbst ablegt, nicht vor den gerade Herrschenden. Diesen Mann hat das Gespenst seines Vaters lebenslang verfolgt.
Er wird im Mai 1945 geboren, in der kleinen ostdeutschen Stadt G., seinen Vater hat er nie gekannt. Er kam nicht aus dem Krieg zurück, ein Schicksal, das Konstantin Boggosch, seine Mutter und der zwei Jahre ältere Bruder Gunthard mit anderen Altersgenossen teilen. Doch sein Erzeuger war der Industrielle Gerhard Müller, der Mann seiner Mutter Erika, Herr über die Gummi- und Reifenfabrik "Vulcano" in G., und er war ein hochrangiger SS-Scherge, von den Nationalsozialisten autorisierter Vollstrecker, der noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begann, ein Arbeits- und Konzentrationslager auf seinem Werksgelände zu errichten. Vor dessen Vollendung wird Gerhard Müller in Polen als Kriegsverbrecher verurteilt und gehenkt. Als die Russen 1945 - Konstantin ist erst wenige Tage alt - nach G. kommen, rettet der Säugling seine Mutter vor dem Schlimmsten; deshalb wird sie ihn ihr "Glückskind" nennen. Der soziale Niedergang der gebildeten Bürgerstochter, die sich in den schneidigen Jungunternehmer Müller verliebt hatte, ist unaufhaltsam, aus der Lehrerin für Fremdsprachen wird eine Frau, die in der Deutschen Demokratischen Republik für den Rest ihres Lebens anderer Leute Wohnungen putzt.
Denn die Sippenhaft schlägt zu, das ärgste Übel, dessen perverse Struktur die beiden Regimes verbindet, das untergegangene der Nationalsozialisten mit dem neu zu errichtenden, sozialistischen System. Zwar gelingt es der Mutter, den Namen Müller zu tilgen, sie und ihre Söhne tragen fortan ihren Mädchennamen Boggosch. Doch die vermaledeite Vergangenheit insistiert. Was das bedeutet für Konstantin Boggosch, davon handelt Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater". Dass schon im Namen Konstantin, was ja "der Beständige" heißt, eine Bürde liegt, aber auch eine Aufgabe und Hoffnung, muss Hein nicht eigens erwähnen. Erst als er zehn Jahre alt ist, erfahren er und sein Bruder von der Mutter, wer sein Vater war. Kurz darauf realisiert er, dass er als Sohn Gerhard Müllers weder eine Sportschule besuchen noch sein Abitur machen darf.
Der Vater, begreift Konstantin, "war das Pech meines Lebens, und er klebte lebenslang an mir wie Pech". Mit vierzehn haut er von daheim ab, schlägt sich über das Aufnahmelager Sandbostel bei Bremen bis nach Marseille durch, weil er sich dort der Fremdenlegion anschließen will. Woraus naturgemäß nichts wird, ihn hatte die falsche romantische Vorstellung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit getrogen. Dafür bringt ihn, den kleinen boche, das Schicksal in die Obhut von vier einstigen Résistancekämpfern, die ihn, der von der Mutter Französisch, Italienisch und Englisch gelernt hat, Übersetzungen für ihre Geschäfte anfertigen lassen und auf die Abendschule schicken. Dennoch verlässt Konstantin Frankreich, um heimzukehren in sein Vaterland, zu seiner Mutter. Was für eine verrückte Idee; es ist August 1961, gerade wird die Mauer errichtet.
Auch in diesem Roman konkurriert Hein nicht mit den grands recits der Moderne, den großen Erzählungen über Humanität und Politik, von denen er ohnehin glaubt, dass sie längst abgedankt haben; diese Erkenntnis zieht sich durch sein gesamtes Werk. Und er versucht gar nicht, eine exemplarische Vita zu konstruieren. Er folgt den individuellen Fährnissen seines Konstantin Boggosch. Damit schafft er eine zeitgenössische Variante des Bildungsromans, in dem er obendrein nicht ohne Ironie die Pädagogik - Boggosch wird schließlich Lehrer - eine Rolle spielen lässt. Von Entwicklungsroman kann freilich weniger die Rede sein; denn das Quantum Sturheit, das Konstantin in seinem Leben schützt, behindert ihn auch in nicht geringem Maße. Vor allem die Abenteuer des jungen Boggosch erinnern an Schelmenromane. Immer wieder gelingt es ihm, sich mit Raffinesse und unter großzügiger Auslegung der Wahrheit das Ärgste vom Leib zu halten. Dabei blitzt auch die Komik hin und wieder auf, die das "Glückskind mit Vater" vor erdrückender Schwere bewahrt.
Über mehr als fünfhundert Seiten hin überlagern sich gleichsam mythische Schichten der menschlichen Kondition mit der Lebenswirklichkeit, historische Geschehnisse mit privaten Schicksalen, gefiltert durch die Subjektivität der Erinnerung eines gealterten Ich-Erzählers. Dieser Kommentator seiner selbst und der Zeitläufte mit ihrem scharf ins Visier genommenen Personal bleibt im Gedächtnis. Dass fast keine dieser Figuren eindimensional bleibt - selbst der Vater nicht -, sondern sie sich in den Zwängen der Systeme willensschwach oder opportunistisch verbiegen, entschuldigt sie nicht; es macht sie furchtbar wirklich. Und auch die schreckliche Wahrheit, die Konstantin an Leib und Seele erfahren muss wie einen Fluch, geht uns alle an: "Was uns alle überlebt, das ist die Akte", sagt einer, der ihm vielleicht wohl wollte, spät im Buch, nach der Wiedervereinigung, "dies Zeug verschwindet nie spurlos von der Erde."
Christoph Hein hat einen großen klugen, einen packenden Roman über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart geschrieben, über die Ostzone, die dann DDR wird, und auch über das westliche Nachkriegsdeutschland. An seinem Ende fällt ein so bitteres wie realitätsnahes Schlaglicht auf die wiedervereinte deutsche Gesellschaft samt jenen Charakteren, die stets wie die Fettaugen auf der Suppe schwimmen, egal unter welchen ideologischen Vorzeichen sie gekocht wird, und sei es der eigene Bruder. Doch einen Konstantin Boggosch, als Opfer und als Ungebrochenen, vergisst keiner so schnell.
Christoph Hein: "Glückskind mit Vater". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 S., geb., 22,95 [Euro].
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»Christoph Hein ist einer der genauesten Chronisten des DDR-Alltags.« Der Spiegel
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der späte Christoph Hein schreibt einfacher und das steht ihm gut, findet Rezensentin Judith von Sternburg nach der Lektüre des neuen Romans "Glückskind mit Vater". Die Geschichte, die Hein erzählt, ist ohnehin kompliziert genug, meint die Kritikerin: Konstantin, Sohn eines NS-Verbrechers, den er nie kennenlernte, entgeht durch einige Glücksfälle zwar der "Sippenhaft" in der DDR, wird aber weder zum Abitur zugelassen, noch darf er ein Filmstudium beginnen. Trotz privatem Unglück verbittert Heins Held nie, fährt die Rezensentin fort. Ein wunderbarer,"Wilhelm-Meister-mäßiger" Roman, der das DDR-Leben vor Augen führt, schließt die Kritikerin, die gern die ein oder andere zu tiefenpsychologisch geratene Passage verzeiht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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