Ray Carney was only slightly bent when it came to being crooked. To his customers and neighbors on 125th street, Carney is an upstanding salesman of reasonably priced furniture, making a decent life for himself and his family. Few people know he descends from a line of uptown hoods and crooks, and that his faðcade of normalcy has more than a few cracks in it. Cracks that are getting bigger all the time. Cash is tight, especially with all those installment-plan sofas, so if his cousin Freddie occasionally drops off the odd ring or necklace, Ray doesn't ask where it comes from. Then Freddie falls in with a crew who plan to rob the Hotel Theresa, the 'Waldorf of Harlem', and volunteers Ray's services as the fence. The heist doesn't go as planned; they rarely do. Now Ray has a new clientele, one made up of shady cops, vicious local gangsters, two-bit pornographers, and other assorted Harlem lowlifes.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2021Ein hinreißender Möbelhändler
Colson Whitehead schreibt weiter an seinem Projekt schwarzer Geschichte, diesmal als Thriller: "Harlem Shuffle"
Die Straßen von Harlem verlaufen noch immer so wie früher: Riverside Drive, 125th Street, Lenox Avenue. Aber längst wohnen dort, oberhalb des Central Parks von Manhattan, andere, weißere Leute als zu jener Zeit, die Colson Whitehead jetzt in seinem neuen Roman beschreibt: "Harlem Shuffle" spielt Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre. Mitten im Aufbruch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine Phase unter Hochspannung in der Geschichte der Vereinigten Staaten, als es auch in New York zu Protesten und Randalen kam. Nach den Vorkämpfern der schwarzen Emanzipationsbewegung jener Jahre sind seither einige der Straßen in Harlem umbenannt worden: Die Lenox Avenue wurde zum Malcolm X Boulevard. Ein Teil der 125. Straße heißt heute Martin Luther King Boulevard. Das schwarze Harlem drum herum, "die Hauptstadt aller Städte mit Ghettos", wie Bobby Womack es einmal besungen hat, verschwindet dagegen langsam, aber unaufhörlich. Die Gentrifizierung der letzten beiden Jahrzehnte hat es verwandelt.
Colson Whiteheads Geschichte vom Möbelhändler und Teilzeitgangster Ray Carney spielt vor dieser Verwandlung. Und doch ist sie in "Harlem Shuffle" angelegt und immer präsent. Vermutlich hätte sich dieser Ray Carney gar nicht vorstellen können, dass es einmal dazu kommt: Dass also eines Tages seine Kinder und die seiner schwarzen Nachbarn von weißen Zuzüglern aus Vierteln verdrängt werden, die man zu Rays Zeit lieber jetzt als gleich freiwillig verlassen hätte - um vor Gewalt, Drogen, Armut und Perspektivlosigkeit zu fliehen. Und doch ist das seit Langem Alltag.
Das ist eine der Pointen dieses komplexen Romans, der sich so zugänglich liest wie kaum ein zweiter von Colson Whitehead: der gewaltige Umbruch sozialer und geographischer Zugehörigkeit, den Gentrifizierung mit sich bringt - und die Widersprüche, die sie zugleich produziert. Whitehead bringt es zwar so nicht explizit zur Sprache in diesem Buch. Aber man kann es nicht lesen, ohne permanent darüber nachzudenken, was aus diesen Straßen von Harlem heute geworden ist. Und deshalb kann man "Harlem Shuffle" auch genauso wenig ohne eine Straßenkarte lesen. Sonst verläuft man sich zwischen den vielen Adressen.
Und Ray Carney, der Möbelhändler und Teilzeitgangster, sammelt Adressen. Er wächst als Halbwaise auf zwischen der 127. und der 129. Straße - und will dorthin nur noch zurück, wenn er seine Tante besucht. Er will an den Riverside Drive, in eines der großen Apartment-Häuser, wo neuerdings weiße und schwarze Familien Seite an Seite zusammenwohnen. Und wo der Blick auf den mächtigen Hudson River fällt - und nicht auf Stundenhotels und Pfandhäuser und Junkies. "So wie er es sah", das ist Rays Maxime seit Schulzeiten, "lehrte einen das Leben, dass man nicht so leben musste, wie es einem gelehrt worden war. Man kam von einem bestimmten Ort, aber wichtiger war, wo man landen wollte."
Und Ray will landen. Er geht aufs College in Queens, studiert Betriebswirtschaft. Er heiratet eine Frau aus einer gutbürgerlichen schwarzen Familie, Elizabeth, und entdeckt ein Faible für Möbel. Er baut seinen eigenen Laden auf, "Carney's Furniture" auf der 125. Straße. Er träumt davon, Vertragspartner der Firma Bella Fontaine zu werden, Essecken aus Birkenholzfurnier, seidig glänzende Klapptische, mehrtürige Sideboards, die "Monte-Carlo-Kollektion". Aber Ray verkauft bis dahin auch Möbel aus Haushaltsauflösungen. Wobei sich manche dieser Haushalte vielleicht nicht ganz freiwillig aufgelöst haben und Ray aus diesen Auflösungen vielleicht nicht nur Möbel weiterverkauft, sondern auch schon mal Schmuck an die jüdischen Juweliere in Midtown. Einiges von diesem Zeug schafft Rays Cousin Freddie ran. Die beiden sind seit Kindertagen unzertrennlich. Aber Freddie bringt Ray nicht nur Hehlerware aus Einbrüchen, sondern regelmäßig großen Ärger. Und irgendwann ist der Ärger zu groß, und dann muss sein Cousin Ray alles riskieren, damit es doch gut ausgeht, und das ist das Fundament dieses Romans, der sich wie ein entspannter Thriller liest.
Über diesen Thriller hinweg hat der clevere Bestsellerautor Whitehead einen schwarzen Großstadtroman für ein Weltpublikum geschrieben. Er hat dafür wiedererkennbare Figuren geschaffen, irgendwo zwischen epischen und Comic-Helden: der Aufsteiger Ray, sein treulos krimineller Vater, der unverbesserliche Cousin Freddie, der gutherzige Berufsschläger Pepper, der kalte weiße Millionär Van Wyck und seine plumpen Schergen - und schließlich Elizabeth, Rays Ehefrau. Die vielleicht als Einzige wirklich versteht, was vor sich geht, die aber die coolste von allen sein könnte. Weil sie ahnt, was ihr Mann treibt, aber darüber hinwegsieht, weil auch sie nicht zurückwill in die gutbehütete Ödnis ihres Elternhauses in einem der guten schwarzen Viertel von Harlem.
Whitehead nutzt die Wiedererkennbarkeit seiner Figuren also, um eine Sozialstudie des kleineren und größeren schwarzen Bürgertums von Harlem zu schreiben, das Harlem nicht der schwarzen Show und der Musik, sondern der schwarzen Immobilien. Ein weiteres Element seines Projekts historischer Romane aus der Geschichte der Schwarzen seit den Zeiten der Sklaverei. "Harlem Shuffle" ist dabei ein witziges Buch, oft fast slapstickhaft, oft auch subtil, wenn sich Pepper, der Schläger, für einen Job von Ray mit einem Sessel aus dessen Laden bezahlen lässt und vorher Probe sitzt oder sich weiße und schwarze Gangster einfach nicht einigen können, wie man nur diesen Van Wyck richtig ausspricht. Weik? Oder Wick?
Doch auch wenn es deswegen so wirken könnte, als habe Colson Whitehead zwischen gewichtigeren Projekten hier einmal kurz durchgeatmet - nachdem er zuletzt 2019 mit "Underground Rail-road" den Jahrhundertroman der amerikanischen Sklaverei geschrieben hat, aufsehenerregend preisgekrönt, als Serie verfilmt: Dieser neue Roman wirkt nur leicht, wirkt nur wie Genre-Imitat, wirkt nur so, als würde Whitehead sich an Kulissen bedienen, die wie von selbst Atmosphäre erzeugen: schäbige Bars, Puffs, Hotels, die ihre besseren Tage hinter sich haben, New York.
Denn hinter diesen Kulissen verbirgt sich abermals die große Erzählung der schwarzen Emanzipation. Im Juli 1964 kommt es nach dem gewaltsamen Tod eines fünfzehnjährigen schwarzen Jungen, erschossen von einem weißen Polizisten, zu Ausschreitungen in Harlem: ein wahres Kapitel aus der unendlichen Geschichte weißer Polizeigewalt gegen schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner jedes Alters, die bis heute anhält. Ray Carney läuft mitten in die Proteste hinein. Kriegt ein Flugblatt in die Hand, auf dem beschrieben ist, wie man einen Brandsatz baut, und hält es fest - und sorgt sich zugleich, wie sich die Randale auf seine neuen Geschäftsbeziehungen zur Möbelfirma Bella Fontaine auswirken. Dieser Ray Carney, der die feinen und nicht so feinen Unterschiede zwischen ihm und dem Rest der Welt genauestens studiert, um die Armut hinter sich lassen zu können, ohne seine schwarze Identität dabei preiszugeben, ist eine ambivalente, stolze, unvergessliche Figur.
Einmal fragt ihn der weiße Cop, den Ray besticht, damit er in Ruhe seine Zeitung lesen kann, ob Ray heute schon die Zeitung gelesen hat. "Wie kommen Sie darauf, dass wir dieselbe Zeitung lesen?", fragt Ray zurück, und in dieser kleinen Szene liegt die große Geschichte eines fundamentalen Risses begründet, den die Vereinigten Staaten bis heute nicht überwunden haben. Und es vielleicht auch niemals werden. TOBIAS RÜTHER.
Colson Whitehead, "Harlem Shuffle". Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 384 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Colson Whitehead schreibt weiter an seinem Projekt schwarzer Geschichte, diesmal als Thriller: "Harlem Shuffle"
Die Straßen von Harlem verlaufen noch immer so wie früher: Riverside Drive, 125th Street, Lenox Avenue. Aber längst wohnen dort, oberhalb des Central Parks von Manhattan, andere, weißere Leute als zu jener Zeit, die Colson Whitehead jetzt in seinem neuen Roman beschreibt: "Harlem Shuffle" spielt Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre. Mitten im Aufbruch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine Phase unter Hochspannung in der Geschichte der Vereinigten Staaten, als es auch in New York zu Protesten und Randalen kam. Nach den Vorkämpfern der schwarzen Emanzipationsbewegung jener Jahre sind seither einige der Straßen in Harlem umbenannt worden: Die Lenox Avenue wurde zum Malcolm X Boulevard. Ein Teil der 125. Straße heißt heute Martin Luther King Boulevard. Das schwarze Harlem drum herum, "die Hauptstadt aller Städte mit Ghettos", wie Bobby Womack es einmal besungen hat, verschwindet dagegen langsam, aber unaufhörlich. Die Gentrifizierung der letzten beiden Jahrzehnte hat es verwandelt.
Colson Whiteheads Geschichte vom Möbelhändler und Teilzeitgangster Ray Carney spielt vor dieser Verwandlung. Und doch ist sie in "Harlem Shuffle" angelegt und immer präsent. Vermutlich hätte sich dieser Ray Carney gar nicht vorstellen können, dass es einmal dazu kommt: Dass also eines Tages seine Kinder und die seiner schwarzen Nachbarn von weißen Zuzüglern aus Vierteln verdrängt werden, die man zu Rays Zeit lieber jetzt als gleich freiwillig verlassen hätte - um vor Gewalt, Drogen, Armut und Perspektivlosigkeit zu fliehen. Und doch ist das seit Langem Alltag.
Das ist eine der Pointen dieses komplexen Romans, der sich so zugänglich liest wie kaum ein zweiter von Colson Whitehead: der gewaltige Umbruch sozialer und geographischer Zugehörigkeit, den Gentrifizierung mit sich bringt - und die Widersprüche, die sie zugleich produziert. Whitehead bringt es zwar so nicht explizit zur Sprache in diesem Buch. Aber man kann es nicht lesen, ohne permanent darüber nachzudenken, was aus diesen Straßen von Harlem heute geworden ist. Und deshalb kann man "Harlem Shuffle" auch genauso wenig ohne eine Straßenkarte lesen. Sonst verläuft man sich zwischen den vielen Adressen.
Und Ray Carney, der Möbelhändler und Teilzeitgangster, sammelt Adressen. Er wächst als Halbwaise auf zwischen der 127. und der 129. Straße - und will dorthin nur noch zurück, wenn er seine Tante besucht. Er will an den Riverside Drive, in eines der großen Apartment-Häuser, wo neuerdings weiße und schwarze Familien Seite an Seite zusammenwohnen. Und wo der Blick auf den mächtigen Hudson River fällt - und nicht auf Stundenhotels und Pfandhäuser und Junkies. "So wie er es sah", das ist Rays Maxime seit Schulzeiten, "lehrte einen das Leben, dass man nicht so leben musste, wie es einem gelehrt worden war. Man kam von einem bestimmten Ort, aber wichtiger war, wo man landen wollte."
Und Ray will landen. Er geht aufs College in Queens, studiert Betriebswirtschaft. Er heiratet eine Frau aus einer gutbürgerlichen schwarzen Familie, Elizabeth, und entdeckt ein Faible für Möbel. Er baut seinen eigenen Laden auf, "Carney's Furniture" auf der 125. Straße. Er träumt davon, Vertragspartner der Firma Bella Fontaine zu werden, Essecken aus Birkenholzfurnier, seidig glänzende Klapptische, mehrtürige Sideboards, die "Monte-Carlo-Kollektion". Aber Ray verkauft bis dahin auch Möbel aus Haushaltsauflösungen. Wobei sich manche dieser Haushalte vielleicht nicht ganz freiwillig aufgelöst haben und Ray aus diesen Auflösungen vielleicht nicht nur Möbel weiterverkauft, sondern auch schon mal Schmuck an die jüdischen Juweliere in Midtown. Einiges von diesem Zeug schafft Rays Cousin Freddie ran. Die beiden sind seit Kindertagen unzertrennlich. Aber Freddie bringt Ray nicht nur Hehlerware aus Einbrüchen, sondern regelmäßig großen Ärger. Und irgendwann ist der Ärger zu groß, und dann muss sein Cousin Ray alles riskieren, damit es doch gut ausgeht, und das ist das Fundament dieses Romans, der sich wie ein entspannter Thriller liest.
Über diesen Thriller hinweg hat der clevere Bestsellerautor Whitehead einen schwarzen Großstadtroman für ein Weltpublikum geschrieben. Er hat dafür wiedererkennbare Figuren geschaffen, irgendwo zwischen epischen und Comic-Helden: der Aufsteiger Ray, sein treulos krimineller Vater, der unverbesserliche Cousin Freddie, der gutherzige Berufsschläger Pepper, der kalte weiße Millionär Van Wyck und seine plumpen Schergen - und schließlich Elizabeth, Rays Ehefrau. Die vielleicht als Einzige wirklich versteht, was vor sich geht, die aber die coolste von allen sein könnte. Weil sie ahnt, was ihr Mann treibt, aber darüber hinwegsieht, weil auch sie nicht zurückwill in die gutbehütete Ödnis ihres Elternhauses in einem der guten schwarzen Viertel von Harlem.
Whitehead nutzt die Wiedererkennbarkeit seiner Figuren also, um eine Sozialstudie des kleineren und größeren schwarzen Bürgertums von Harlem zu schreiben, das Harlem nicht der schwarzen Show und der Musik, sondern der schwarzen Immobilien. Ein weiteres Element seines Projekts historischer Romane aus der Geschichte der Schwarzen seit den Zeiten der Sklaverei. "Harlem Shuffle" ist dabei ein witziges Buch, oft fast slapstickhaft, oft auch subtil, wenn sich Pepper, der Schläger, für einen Job von Ray mit einem Sessel aus dessen Laden bezahlen lässt und vorher Probe sitzt oder sich weiße und schwarze Gangster einfach nicht einigen können, wie man nur diesen Van Wyck richtig ausspricht. Weik? Oder Wick?
Doch auch wenn es deswegen so wirken könnte, als habe Colson Whitehead zwischen gewichtigeren Projekten hier einmal kurz durchgeatmet - nachdem er zuletzt 2019 mit "Underground Rail-road" den Jahrhundertroman der amerikanischen Sklaverei geschrieben hat, aufsehenerregend preisgekrönt, als Serie verfilmt: Dieser neue Roman wirkt nur leicht, wirkt nur wie Genre-Imitat, wirkt nur so, als würde Whitehead sich an Kulissen bedienen, die wie von selbst Atmosphäre erzeugen: schäbige Bars, Puffs, Hotels, die ihre besseren Tage hinter sich haben, New York.
Denn hinter diesen Kulissen verbirgt sich abermals die große Erzählung der schwarzen Emanzipation. Im Juli 1964 kommt es nach dem gewaltsamen Tod eines fünfzehnjährigen schwarzen Jungen, erschossen von einem weißen Polizisten, zu Ausschreitungen in Harlem: ein wahres Kapitel aus der unendlichen Geschichte weißer Polizeigewalt gegen schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner jedes Alters, die bis heute anhält. Ray Carney läuft mitten in die Proteste hinein. Kriegt ein Flugblatt in die Hand, auf dem beschrieben ist, wie man einen Brandsatz baut, und hält es fest - und sorgt sich zugleich, wie sich die Randale auf seine neuen Geschäftsbeziehungen zur Möbelfirma Bella Fontaine auswirken. Dieser Ray Carney, der die feinen und nicht so feinen Unterschiede zwischen ihm und dem Rest der Welt genauestens studiert, um die Armut hinter sich lassen zu können, ohne seine schwarze Identität dabei preiszugeben, ist eine ambivalente, stolze, unvergessliche Figur.
Einmal fragt ihn der weiße Cop, den Ray besticht, damit er in Ruhe seine Zeitung lesen kann, ob Ray heute schon die Zeitung gelesen hat. "Wie kommen Sie darauf, dass wir dieselbe Zeitung lesen?", fragt Ray zurück, und in dieser kleinen Szene liegt die große Geschichte eines fundamentalen Risses begründet, den die Vereinigten Staaten bis heute nicht überwunden haben. Und es vielleicht auch niemals werden. TOBIAS RÜTHER.
Colson Whitehead, "Harlem Shuffle". Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 384 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 20)
Andrian Kreye
EINE HILFE
Bruno Mars und Anderson .Paak lieben die Grooves der Siebziger und haben deswegen zusammen ein Album eingespielt, das wie ein Defibrillator für die Seele wirkt. Hemmungslos nostalgisch und zutiefst ironisch blasen sie jede Form von Wintertrübsal und Pandemie-Elend in eine Supernova aus Funk-Brettern und Erotiksoul.
Bruno Mars and Anderson .Paak: An Evening with Silk Sonic. Atlantic.
EIN GROSSER SPASS
Colson Whitehead spielt mit dem Krimi-Genre so lässig wie ein Jazzvirtuose mit einem Broadway-Schlager. Doch hinter der Schurkengeschichte aus dem Harlem der Sechzigerjahre steckt ein zeitloses Sittengemälde Amerikas.
Colson Whitehead: Harlem Shuffle. Hanser Verlag. 384 Seiten, 25 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bert Stern war Modefotograf. Sein Film über das Newport Jazz Festival von 1958 war deswegen eher Zeitgeiststudie als Musikdoku. Weil er sich auf Bilder und Stimmung konzentrierte und nicht nur auf die Musik in jenem Moment, als der Jazz auf der Wiese des Tennisklubs am Meer zum Kanon wurde. In den letzten Jahren war der Film selten zu sehen. Jetzt wurde er restauriert und erscheint bei den Diamantschürfern der Filmgeschichte, Rapid Eye Movies.
Jazz an einem Sommerabend. Regie: Bert Stern. Mit Louis Armstrong, Thelonious Monk, Anita O’Day u. a. Blue Ray. Rapid Eye Movies.
Sonja Zekri
EIN LIEBESBEWEIS
Kohl gilt als unansehnlich, schwer verdaulich und oh so yesterday. Zu Unrecht! Angelika Overaths „Krautwelten“ eröffnen ein Reich der Sinne mit kosmopolitischem Wirsing und freundlichem Brokkoli, antiken Krautfreunden (Cato) und vergessenen Berufen (Kohlschneider). Overath legt sogar das feministische Potenzial von Kohl offen. Aktueller, politischer war selten ein Gemüse. Angelika Overath: Krautwelten, Insel Verlag. 117 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die letzten Kriegstage bei Leipzig. Ein Mann, der Erzähler, hat sich auf eine Insel gerettet. Bitter schaut er auf sein leeres Haus am anderen Ufer. Dort lebte er mit seiner Familie. Wurde sie entführt? War es die Rache des hinkenden Dorflehrers? Viel hat der Mann nicht mitgenommen, ein paar Konserven, Akten und das Medikament Luminal, von dem er sich bald ausschließlich ernährt. Warum klagt er, dass der Krieg „widernatürlich selektiert“? Und welche Beziehung hatte er zu einem kleinen Mädchen namens Luise? Seite um Seite versinkt der Erzähler tiefer im Schlamm, Seite um Seite führt tiefer in den Abgrund deutscher Geschichte. Francis Nenik, der diesen Namen als Pseudonym benutzt, hat ein Buch geschrieben, das man nicht mehr loswird. Meisterhaft, verstörend.
Francis Nenik: E. oder die Insel. Verlag Voland & Quist. 290 Seiten, 24 Euro.
Miryam Schellbach
EINE HERAUSFORDERUNG
Gedichtanfänge wie diese müssen mindestens 20 Mal gelesen werden, bevor es klickt: „Auf den erfragten Fersen / im düsteren Seitengraben / den Mund überantworten“. Dass „Ferse“ und „Verse“ Homophone, aber keine semantischen Verwandten sind, ist ein linguistischer Fakt. Was es aber bedeuten kann, sich so tief in den Bergbau der Semantik zu graben, dass aus dem homophonen Ersetzungsspiel ein Sinn entsteht, den nur die lyrische Feinschliff-Sprache bergen kann, das bezeugt Leo Pinke mit seinem starken dichterischen Debüt „Schräg am Federbug“. Die Referenzen werden gleich mitgeliefert, denn Pinke stellt, unüblich für die Lyrik, vielen seiner Gedichte Prosaminiaturen, etwa von Walter Benjamin, oder Briefe, zum Beispiel von Kafka, voran.
Leo Pinke: Schräg am Federbug. Matthes & Seitz. 140 Seiten, 18 Euro.
EINE HILFE
Es ist ein alter Hut, dass technischer Fortschritt auch an der Kunst nicht spurlos vorüberzieht. Kolja Reichert, Kurator an der Kunsthalle Bonn, beschreibt und entschlüsselt das vielleicht größte Mysterium der Gegenwart, die Krypto-Kunst. Weil dieses Mysterium, das sich sehr kurz damit zusammenfassen lässt, dass sehr viele Leute online für sehr viel Geld Kunstwerke kaufen, die ihnen dann nicht materiell, sondern nur qua zertifiziertem Beschluss gehören, noch sehr jung ist, sieht er in seinem Buch einem neuen Hype beim Entstehen zu. Kolja Reichert: Krypto-Kunst. Wagenbach. 80 Seiten, 10 Euro.
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Warmer Siebziger-Softrock irgendwo zwischen Lou Reed, Steely Dan, Stevie Wonder. Funky zurückgelehnt. Und dann auch noch solche Zeilen: „It’s just the melting of the sun / I wanna watch you watch it burn.“ Wiegenlieder für den Weltuntergang. Schlauer, genauer und lässiger als Annie Clark alias St. Vincent kann man die Tragik unserer taumelnden Popmoderne nicht in Musik gießen. St. Vincent: Daddy’s Home. Caroline (Universal).
EIN GROSSER SPASS
Die Essays des Jahres darüber, was die irre Inszenierung, die wir Gegenwart nennen, mit uns selbst zu tun hat.
Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Fischer. 368 S., 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Aufgewühlte Zeiten brauchen nicht nur eine bessere Bürokratie und Verwaltung, sie brauchen auch eine bessere, also vor allem weniger triviale Kritik an Bürokratie und Verwaltung. Noch immer lässt sich dafür von niemandem so viel lernen wie von Niklas Luhmann.
Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp. 254 S., 28 Euro.
EIN AUFREGER
Schwungvoll, aber immer nachdenklich und selbstkritisch versucht sich der linke griechische Ökonom Giorgos Kallis an einer Antwort auf die Frage unserer Zeit: „Wie kann sich eine Gesellschaft im Namen des guten Lebens einschränken?“ Giorgos Kallis: Grenzen. Matthes & Seitz, 171 S., 20 Euro.
Gustav Seibt
EIN GROSSER SPASS
Gabriel Yoran, lustiger Zeitgenosse auf Twitter, erfreut seine Follower regelmäßig mit erfundenen Synonymen: „Warum heißt es Hantel und nicht Pumpernickel?“ „Warum heißt es Erkenntnisproblem und nicht Feststellbremse?“ Ein Spiel mit der Willkür sprachlicher Zeichen, mit ihrer Offenheit, das jeder fortsetzen kann. Nun auch als Buch mit Bildern. Gabriel Yoran, Christoph Rauscher: Warum heißt es Traum und nicht Memoryschaum. Frohmann Kleine Formen. 130 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
„So war’s eben“ lautet der Titel eines bislang ungedruckten, 600 Seiten dicken Romans von Gabriele Tergit, der großen Erzählerin von Berlin im 20. Jahrhundert. Der Titel setzt den Ton: deutsch-jüdische Familiengeschichten über drei Generationen seit 1890, mit kalter Präzision, unerbittlicher Feststellungskraft, ein eiliger Film. Man kann nicht aufhören zu lesen.
Gabriele Tergit: So war’s eben. Schöffling Verlag. 618 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die langen Winterabende gibt es ja eigentlich nicht mehr. Man muss sie sich nehmen. Man sollte es tun für die mehr als 200 deutschen Jahrhundertstimmen, die der Historiker Ulrich Herbert (und andere) gesammelt und erläutert hat. Politiker, Philosophen, Künstler – alle überwältigen uns mit Präsenz. Ulrich Herbert, Michael Krüger u. a.: Jahrhundertstimmen 1900–1945. Hörverlag.
Peter Richter
EINE HERAUSFORDERUNG
„More Than I Can Chew“ heißt eines der Stücke. Das beschreibt auch das Doppelalbum: Mastodon geben mit „Hushed And Grim“ wirklich etwas zu Kauen, und das ist so reich, das reicht so weit, von Protometal bis Progressive Rock, von Blues bis zur Ballade, von Grübelhöllen bis in die heiligen Himmel der Sinnsucher, dass man noch lange damit zu tun haben wird. Die Zwanzigerjahre wären gerettet. Mastodon: Hushed And Grim. Reprise Records.
EIN LIEBESBEWEIS
Der Urgroßvater hatte, wo eben noch Feld war, ein kleines Stadtviertel aus dem Boden gestampft, mit Postamt und Kirche. Fabriken wuchsen, Kaiserreich, Weimar, Nazis und DDR gingen darüber, dann wurde die Familie vertrieben, der Enkel kam wieder – und hat jetzt ein erstaunliches Buch darüber geschrieben: Martin Wiebels „Berlin Upper East Side – eine Friedrichshain-Biografie“ erzählt Stadt- als Familiengeschichte und umgekehrt. Sutton Verlag. 344 Seiten, 19,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Diese Sammlung von Erzählungen des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase erschien wohl zuerst in der DDR, war aber schnell vergriffen. Wer ihnen daher zuerst in dieser Neuauflage begegnet, wird a) sein Glück kaum fassen können, und b) nicht mehr für möglich halten, ohne dieses Buch ausgekommen zu sein. Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wagenbach. 192 Seiten, 18 Euro.
Alexander Gorkow
EINE LIEBESERKLÄRUNG
Nicht nur der Romantiker, vor allem der Modernist Frédéric Chopin erstrahlt in dieser grandiosen Vinyl-Kompilation von Martha Argerich. Ihren 80. Geburtstag feiert die Deutsche Grammophon mit einer Auswahl ihrer Solo- und Konzertaufnahmen Chopins aus 40 Jahren. Allein die beiden Klavierkonzerte hört man sonst nur von Arthur Rubinstein und Daniil Trifonov in solcher Klarheit, aber mit diesem Temperament, dieser Wucht?
Frédéric Chopin, Martha Argerich, Solo & Concerto Recordings. 5 LPs. Deutsche Grammophon.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Historiker Malinowski ist detailversessen – und ein brillanter Erzähler. Seine Geschichte der HohenzollernKollaboration mit den Nazis ist das Sachbuch des Jahres, es erhellt die Parteinahme des Kronprinzen und die Preußen-Premium-Mischung aus Größenwahn, Faschismusbegeisterung und Selbstmitleid. Enthält Grauen wie Hochkomik. Nimmt zum zweiten Mal richtig Fahrt auf ab 1945 und ist topaktuell. Binge-Reading-Alarm! Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis. Propyläen. 752 Seiten, 35 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Kafka war auch beim Zeichnen unbestechlich. Seine Aquarelle und Skizzen sind wie seine Texte: klarsichtig, verbogen, bitterschön und oft sehr komisch. Ein Schatz. Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka. Die Zeichnungen. C. H. Beck. 366 Seiten, 45 Euro.
Tobias Kniebe
EINE HERAUSFORDERUNG
Die französische Regisseurin Julia Ducournau hat dieses Jahr beim Cannes-Festival gewonnen, mit ihrem posthumanen Verwandlungsspektakel „Titane“. Fast noch packender ist aber ihr wenig bekannter erster Spielfilm „Raw/Grave“. Er folgt der scheuen Studentin Justine zum Studium der Tiermedizin, wo sie mit ihrer rabiaten Schwester, rauen Wohnheim-Ritualen, Hunde-
Autopsien und wild aufkeimenden
Gelüsten klarkommen muss. Als sich diese auf rohes Fleisch ausweiten, in toter und sogar lebendiger Form, ist niemand mehr geschockt als die überzeugte Vegetarierin … Steht quer zu allen aktuellen Befindlichkeiten und beweist dennoch eindrucksvoll, dass die Zukunft weiblich ist.
Julia Ducournau: Raw/Grave. Auf Import-Bluray und VoD.
EIN GROSSER SPASS
Wann immer die Stimme von Isabelle Geffroy alias Zaz erklingt, beginnt die Seele zu schwingen, das ist bei ihrem neuen Album „Isa“ nicht anders. Wenn dann aber bei einem Song überraschend eine dunkle Männerstimme mitsingt und die sich als Till Lindemann entpuppt, ist der Effekt wirklich erstaunlich. Und schon kann man herrlich rätseln, wie es wohl zu dieser deutsch-französischen Mésalliance kam, die im „jardin des larmes“, dem kleinen Reich der Tränen, spielt.
Zaz: Isa. Warner Music International.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Andrian Kreye
EINE HILFE
Bruno Mars und Anderson .Paak lieben die Grooves der Siebziger und haben deswegen zusammen ein Album eingespielt, das wie ein Defibrillator für die Seele wirkt. Hemmungslos nostalgisch und zutiefst ironisch blasen sie jede Form von Wintertrübsal und Pandemie-Elend in eine Supernova aus Funk-Brettern und Erotiksoul.
Bruno Mars and Anderson .Paak: An Evening with Silk Sonic. Atlantic.
EIN GROSSER SPASS
Colson Whitehead spielt mit dem Krimi-Genre so lässig wie ein Jazzvirtuose mit einem Broadway-Schlager. Doch hinter der Schurkengeschichte aus dem Harlem der Sechzigerjahre steckt ein zeitloses Sittengemälde Amerikas.
Colson Whitehead: Harlem Shuffle. Hanser Verlag. 384 Seiten, 25 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Bert Stern war Modefotograf. Sein Film über das Newport Jazz Festival von 1958 war deswegen eher Zeitgeiststudie als Musikdoku. Weil er sich auf Bilder und Stimmung konzentrierte und nicht nur auf die Musik in jenem Moment, als der Jazz auf der Wiese des Tennisklubs am Meer zum Kanon wurde. In den letzten Jahren war der Film selten zu sehen. Jetzt wurde er restauriert und erscheint bei den Diamantschürfern der Filmgeschichte, Rapid Eye Movies.
Jazz an einem Sommerabend. Regie: Bert Stern. Mit Louis Armstrong, Thelonious Monk, Anita O’Day u. a. Blue Ray. Rapid Eye Movies.
Sonja Zekri
EIN LIEBESBEWEIS
Kohl gilt als unansehnlich, schwer verdaulich und oh so yesterday. Zu Unrecht! Angelika Overaths „Krautwelten“ eröffnen ein Reich der Sinne mit kosmopolitischem Wirsing und freundlichem Brokkoli, antiken Krautfreunden (Cato) und vergessenen Berufen (Kohlschneider). Overath legt sogar das feministische Potenzial von Kohl offen. Aktueller, politischer war selten ein Gemüse. Angelika Overath: Krautwelten, Insel Verlag. 117 Seiten, 15 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die letzten Kriegstage bei Leipzig. Ein Mann, der Erzähler, hat sich auf eine Insel gerettet. Bitter schaut er auf sein leeres Haus am anderen Ufer. Dort lebte er mit seiner Familie. Wurde sie entführt? War es die Rache des hinkenden Dorflehrers? Viel hat der Mann nicht mitgenommen, ein paar Konserven, Akten und das Medikament Luminal, von dem er sich bald ausschließlich ernährt. Warum klagt er, dass der Krieg „widernatürlich selektiert“? Und welche Beziehung hatte er zu einem kleinen Mädchen namens Luise? Seite um Seite versinkt der Erzähler tiefer im Schlamm, Seite um Seite führt tiefer in den Abgrund deutscher Geschichte. Francis Nenik, der diesen Namen als Pseudonym benutzt, hat ein Buch geschrieben, das man nicht mehr loswird. Meisterhaft, verstörend.
Francis Nenik: E. oder die Insel. Verlag Voland & Quist. 290 Seiten, 24 Euro.
Miryam Schellbach
EINE HERAUSFORDERUNG
Gedichtanfänge wie diese müssen mindestens 20 Mal gelesen werden, bevor es klickt: „Auf den erfragten Fersen / im düsteren Seitengraben / den Mund überantworten“. Dass „Ferse“ und „Verse“ Homophone, aber keine semantischen Verwandten sind, ist ein linguistischer Fakt. Was es aber bedeuten kann, sich so tief in den Bergbau der Semantik zu graben, dass aus dem homophonen Ersetzungsspiel ein Sinn entsteht, den nur die lyrische Feinschliff-Sprache bergen kann, das bezeugt Leo Pinke mit seinem starken dichterischen Debüt „Schräg am Federbug“. Die Referenzen werden gleich mitgeliefert, denn Pinke stellt, unüblich für die Lyrik, vielen seiner Gedichte Prosaminiaturen, etwa von Walter Benjamin, oder Briefe, zum Beispiel von Kafka, voran.
Leo Pinke: Schräg am Federbug. Matthes & Seitz. 140 Seiten, 18 Euro.
EINE HILFE
Es ist ein alter Hut, dass technischer Fortschritt auch an der Kunst nicht spurlos vorüberzieht. Kolja Reichert, Kurator an der Kunsthalle Bonn, beschreibt und entschlüsselt das vielleicht größte Mysterium der Gegenwart, die Krypto-Kunst. Weil dieses Mysterium, das sich sehr kurz damit zusammenfassen lässt, dass sehr viele Leute online für sehr viel Geld Kunstwerke kaufen, die ihnen dann nicht materiell, sondern nur qua zertifiziertem Beschluss gehören, noch sehr jung ist, sieht er in seinem Buch einem neuen Hype beim Entstehen zu. Kolja Reichert: Krypto-Kunst. Wagenbach. 80 Seiten, 10 Euro.
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Warmer Siebziger-Softrock irgendwo zwischen Lou Reed, Steely Dan, Stevie Wonder. Funky zurückgelehnt. Und dann auch noch solche Zeilen: „It’s just the melting of the sun / I wanna watch you watch it burn.“ Wiegenlieder für den Weltuntergang. Schlauer, genauer und lässiger als Annie Clark alias St. Vincent kann man die Tragik unserer taumelnden Popmoderne nicht in Musik gießen. St. Vincent: Daddy’s Home. Caroline (Universal).
EIN GROSSER SPASS
Die Essays des Jahres darüber, was die irre Inszenierung, die wir Gegenwart nennen, mit uns selbst zu tun hat.
Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Fischer. 368 S., 22 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Aufgewühlte Zeiten brauchen nicht nur eine bessere Bürokratie und Verwaltung, sie brauchen auch eine bessere, also vor allem weniger triviale Kritik an Bürokratie und Verwaltung. Noch immer lässt sich dafür von niemandem so viel lernen wie von Niklas Luhmann.
Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp. 254 S., 28 Euro.
EIN AUFREGER
Schwungvoll, aber immer nachdenklich und selbstkritisch versucht sich der linke griechische Ökonom Giorgos Kallis an einer Antwort auf die Frage unserer Zeit: „Wie kann sich eine Gesellschaft im Namen des guten Lebens einschränken?“ Giorgos Kallis: Grenzen. Matthes & Seitz, 171 S., 20 Euro.
Gustav Seibt
EIN GROSSER SPASS
Gabriel Yoran, lustiger Zeitgenosse auf Twitter, erfreut seine Follower regelmäßig mit erfundenen Synonymen: „Warum heißt es Hantel und nicht Pumpernickel?“ „Warum heißt es Erkenntnisproblem und nicht Feststellbremse?“ Ein Spiel mit der Willkür sprachlicher Zeichen, mit ihrer Offenheit, das jeder fortsetzen kann. Nun auch als Buch mit Bildern. Gabriel Yoran, Christoph Rauscher: Warum heißt es Traum und nicht Memoryschaum. Frohmann Kleine Formen. 130 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
„So war’s eben“ lautet der Titel eines bislang ungedruckten, 600 Seiten dicken Romans von Gabriele Tergit, der großen Erzählerin von Berlin im 20. Jahrhundert. Der Titel setzt den Ton: deutsch-jüdische Familiengeschichten über drei Generationen seit 1890, mit kalter Präzision, unerbittlicher Feststellungskraft, ein eiliger Film. Man kann nicht aufhören zu lesen.
Gabriele Tergit: So war’s eben. Schöffling Verlag. 618 Seiten, 28 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Die langen Winterabende gibt es ja eigentlich nicht mehr. Man muss sie sich nehmen. Man sollte es tun für die mehr als 200 deutschen Jahrhundertstimmen, die der Historiker Ulrich Herbert (und andere) gesammelt und erläutert hat. Politiker, Philosophen, Künstler – alle überwältigen uns mit Präsenz. Ulrich Herbert, Michael Krüger u. a.: Jahrhundertstimmen 1900–1945. Hörverlag.
Peter Richter
EINE HERAUSFORDERUNG
„More Than I Can Chew“ heißt eines der Stücke. Das beschreibt auch das Doppelalbum: Mastodon geben mit „Hushed And Grim“ wirklich etwas zu Kauen, und das ist so reich, das reicht so weit, von Protometal bis Progressive Rock, von Blues bis zur Ballade, von Grübelhöllen bis in die heiligen Himmel der Sinnsucher, dass man noch lange damit zu tun haben wird. Die Zwanzigerjahre wären gerettet. Mastodon: Hushed And Grim. Reprise Records.
EIN LIEBESBEWEIS
Der Urgroßvater hatte, wo eben noch Feld war, ein kleines Stadtviertel aus dem Boden gestampft, mit Postamt und Kirche. Fabriken wuchsen, Kaiserreich, Weimar, Nazis und DDR gingen darüber, dann wurde die Familie vertrieben, der Enkel kam wieder – und hat jetzt ein erstaunliches Buch darüber geschrieben: Martin Wiebels „Berlin Upper East Side – eine Friedrichshain-Biografie“ erzählt Stadt- als Familiengeschichte und umgekehrt. Sutton Verlag. 344 Seiten, 19,99 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Diese Sammlung von Erzählungen des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase erschien wohl zuerst in der DDR, war aber schnell vergriffen. Wer ihnen daher zuerst in dieser Neuauflage begegnet, wird a) sein Glück kaum fassen können, und b) nicht mehr für möglich halten, ohne dieses Buch ausgekommen zu sein. Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wagenbach. 192 Seiten, 18 Euro.
Alexander Gorkow
EINE LIEBESERKLÄRUNG
Nicht nur der Romantiker, vor allem der Modernist Frédéric Chopin erstrahlt in dieser grandiosen Vinyl-Kompilation von Martha Argerich. Ihren 80. Geburtstag feiert die Deutsche Grammophon mit einer Auswahl ihrer Solo- und Konzertaufnahmen Chopins aus 40 Jahren. Allein die beiden Klavierkonzerte hört man sonst nur von Arthur Rubinstein und Daniil Trifonov in solcher Klarheit, aber mit diesem Temperament, dieser Wucht?
Frédéric Chopin, Martha Argerich, Solo & Concerto Recordings. 5 LPs. Deutsche Grammophon.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Historiker Malinowski ist detailversessen – und ein brillanter Erzähler. Seine Geschichte der HohenzollernKollaboration mit den Nazis ist das Sachbuch des Jahres, es erhellt die Parteinahme des Kronprinzen und die Preußen-Premium-Mischung aus Größenwahn, Faschismusbegeisterung und Selbstmitleid. Enthält Grauen wie Hochkomik. Nimmt zum zweiten Mal richtig Fahrt auf ab 1945 und ist topaktuell. Binge-Reading-Alarm! Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis. Propyläen. 752 Seiten, 35 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Kafka war auch beim Zeichnen unbestechlich. Seine Aquarelle und Skizzen sind wie seine Texte: klarsichtig, verbogen, bitterschön und oft sehr komisch. Ein Schatz. Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka. Die Zeichnungen. C. H. Beck. 366 Seiten, 45 Euro.
Tobias Kniebe
EINE HERAUSFORDERUNG
Die französische Regisseurin Julia Ducournau hat dieses Jahr beim Cannes-Festival gewonnen, mit ihrem posthumanen Verwandlungsspektakel „Titane“. Fast noch packender ist aber ihr wenig bekannter erster Spielfilm „Raw/Grave“. Er folgt der scheuen Studentin Justine zum Studium der Tiermedizin, wo sie mit ihrer rabiaten Schwester, rauen Wohnheim-Ritualen, Hunde-
Autopsien und wild aufkeimenden
Gelüsten klarkommen muss. Als sich diese auf rohes Fleisch ausweiten, in toter und sogar lebendiger Form, ist niemand mehr geschockt als die überzeugte Vegetarierin … Steht quer zu allen aktuellen Befindlichkeiten und beweist dennoch eindrucksvoll, dass die Zukunft weiblich ist.
Julia Ducournau: Raw/Grave. Auf Import-Bluray und VoD.
EIN GROSSER SPASS
Wann immer die Stimme von Isabelle Geffroy alias Zaz erklingt, beginnt die Seele zu schwingen, das ist bei ihrem neuen Album „Isa“ nicht anders. Wenn dann aber bei einem Song überraschend eine dunkle Männerstimme mitsingt und die sich als Till Lindemann entpuppt, ist der Effekt wirklich erstaunlich. Und schon kann man herrlich rätseln, wie es wohl zu dieser deutsch-französischen Mésalliance kam, die im „jardin des larmes“, dem kleinen Reich der Tränen, spielt.
Zaz: Isa. Warner Music International.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Colson Whitehead's dazzling new thriller...In Harlem Shuffle, Whitehead flexes his literary muscles further, extending the boundaries and expectations of crime writing. The book is also a social drama interrogating the nature of prejudice and how an environment limits ambition. Guardian, Book of the Day