Harry Rent, Mitte vierzig, hat vor kurzem seine Frau verloren. Unfähig, wirklich zu trauern, beschließt er, sich selbst neu zu erfinden und sein Leben zu ändern. Er will das Herz von Kellnerin Molly gewinnen, indem er ihrer vom Schicksal schwer gebeutelten Kollegin Lucille hilfreich zur Seite steht. Dabei verzettelt er sich immer wieder und stolpert von einer absurden Situation in die nächste
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2009Der Toast von Monte Christo
Updike im Sinn: Das späte Debüt des Mark Sarvas
Von Martin Halter
Harry Rent ist ein liebenswerter, herzensguter Tolpatsch. Seine "Weltklassebauchlandungen" im Fitnessstudio, beim Fremdgehen oder auf der Charity-Party der reichen Schwiegereltern sind rasend komisch, und wenn er sich dann ordentlich schämt, ernstlich an sich zweifelt, seine Missgeschicke umständlich vertuschen und seine Dummheiten wiedergutmachen will, wird es noch lustiger. Aber eigentlich ist Harry kein harmloser Trottel, sondern ein Lügner und Betrüger, der mit Faxen, Fauxpas und faulen Ausreden seine Frau ins Grab gebracht und sein Leben verpfuscht hat. Weil er nicht glauben konnte, dass Anna, Tochter hochnäsiger, kaltherziger Ostküstenaristokraten, einen Versager seines Kalibers lieben könnte, hat er sie schamlos belogen und betrogen und nie bemerkt, wie sie unter seinen Minderwertigkeits- und Schuldkomplexen litt.
Anna starb, als sie sich Harry zuliebe einer Routine-Schönheitsoperation unterzog, aber nicht einmal der Kunstfehler bringt ihn zur Besinnung. Unfähig selbst zur Trauer, bekleckert sich der "emotional verstopfte" Witwer am Grab der Frau, die sich seinetwegen neu erfinden wollte, mehr mit Marmelade als mit Pietät, als er sich mit dem Bestatter darüber streitet, ob die teuren Kissen "Beige Ruhe" auch tatsächlich im Sarg liegen, und beim heimlichen Nachsehen seine Krawatte im Sargdeckel einklemmt. Kein Wunder, dass die Trauergesellschaft tuschelt, Claire dem Mörder ihrer Schwester Rache schwört und Max, sein einziger Freund, bedenklich den Kopf schüttelt.
So weit ist "Harry, die Zweite" nur ein normaler Netter-Versager-Roman. Aber Mark Sarvas, Literaturkritiker beim "Guardian" und Betreiber des preisgekrönten Literaturblogs "The Elegant Variation", treibt in seinem späten Prosadebüt Klamauk und Slapstick immer weiter, bis aus der Komödie eines Arztes in der Midlife-Crisis eine Tragödie von verfehlter Liebe, Schuld und verzweifelter Sühne wird. Das ist vielleicht nicht ganz so feinsinnig wie Ian McEwans "Abbitte" oder bei Sarvas' Vorbild John Banville, aber doch eine ziemlich elegante Variation von "Der Graf von Monte Christo": Ein Gefangener erzählt in kunstvollen Rückblenden und im originalgetreuen Dumas-Retrodesign von einer ehrlichen Haut, die lügt, von einem großen Kind, das sich aus Angst vor der Blamage blamiert, von einem Narren, der das Gute will und immer nur Böses schafft und sich am Ende dann doch, einer Frau zuliebe, mit Hilfe einer alten Schmonzette neu erfindet.
Der trauerunfähige Witwer hat ein Auge auf Molly, die kellnernde Literaturstudentin, geworfen. Für den direkten Weg ist er zu schüchtern, und so wählt er wie immer den Umweg, der erst recht ins Schlammassel führt: Der widerlich süßliche "Monte-Christo-Toast", den er sich von Molly aufschwatzen lässt, zieht eine Kettenreaktion absurder Missverständnisse und süßsaurer Lernprozesse nach sich. Harry kauft sich den "Graf von Monte Christo" (die gekürzte Ausgabe, nicht die Originalfassung) und beschließt, ein neues Leben als Edmond Dantès zu beginnen: Wie Dumas' geschundener Graf will "Harry 2.0" sich aus tiefster Kerkernacht ans Tageslicht wühlen, Unrecht großzügig vergelten, um am Ende als selbstlos strafender und belohnender Wohltäter das Herz Mollys zu gewinnen. Der direkte Weg ist eines Abenteuer-Grafen unwürdig, darum überschüttet Harry zunächst ihre pummelige, fußkranke Kollegin Lucille mit Freundlichkeiten und orthopädischen Schuhen. Natürlich riecht Lucille den Braten und ist verstimmt. Zwar kommt Harry bei Molly mit tölpelhaftem Charme voran, aber nur, um am Ende zu erkennen, dass er die Rolle seines Lebens vor dem falschen Publikum, wenn nicht vor leerem Haus gespielt hat: Liebe lässt sich nicht erkaufen, Trauer nicht erzwingen, Unrecht nicht mit trivialliterarischem Kitsch sühnen. Harry ist nicht der Graf von Monte Christo, nur ein linkischer Mittvierziger aus Los Angeles, der mit seinem größten Versagen ins Reine kommen muss. Ja, Anna hat sich für ihn geschämt; aber nicht, weil er ein armer Schlucker oder peinlicher Tolpatsch war, sondern weil sie ihn liebte.
Sarvas erzählt die Geschichte von Harrys langem Weg zu sich selbst in gewundenen Sätzen voll funkelnder Ironie, derber Komik und literarischen Déjà-vus. Das Happy End ist wenig originell und ziemlich süßlich; aber man hat sich zu gut mit dem Minneritter von der traurigen Gestalt unterhalten, um dem edlen Gönner nicht wenigstens die sentimentale Läuterung zu gönnen. Mark Sarvas ist kein zweiter Updike. Aber wie "Harry der Zweite" sich auf der Suche nach Liebe, Glück und Vergebung der Sünden immer wieder verrennt, erinnert manchmal schon an dessen Harry: "Rabbit" Angstrom.
Mark Sarvas: "Harry, die Zweite". Roman. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 351 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Updike im Sinn: Das späte Debüt des Mark Sarvas
Von Martin Halter
Harry Rent ist ein liebenswerter, herzensguter Tolpatsch. Seine "Weltklassebauchlandungen" im Fitnessstudio, beim Fremdgehen oder auf der Charity-Party der reichen Schwiegereltern sind rasend komisch, und wenn er sich dann ordentlich schämt, ernstlich an sich zweifelt, seine Missgeschicke umständlich vertuschen und seine Dummheiten wiedergutmachen will, wird es noch lustiger. Aber eigentlich ist Harry kein harmloser Trottel, sondern ein Lügner und Betrüger, der mit Faxen, Fauxpas und faulen Ausreden seine Frau ins Grab gebracht und sein Leben verpfuscht hat. Weil er nicht glauben konnte, dass Anna, Tochter hochnäsiger, kaltherziger Ostküstenaristokraten, einen Versager seines Kalibers lieben könnte, hat er sie schamlos belogen und betrogen und nie bemerkt, wie sie unter seinen Minderwertigkeits- und Schuldkomplexen litt.
Anna starb, als sie sich Harry zuliebe einer Routine-Schönheitsoperation unterzog, aber nicht einmal der Kunstfehler bringt ihn zur Besinnung. Unfähig selbst zur Trauer, bekleckert sich der "emotional verstopfte" Witwer am Grab der Frau, die sich seinetwegen neu erfinden wollte, mehr mit Marmelade als mit Pietät, als er sich mit dem Bestatter darüber streitet, ob die teuren Kissen "Beige Ruhe" auch tatsächlich im Sarg liegen, und beim heimlichen Nachsehen seine Krawatte im Sargdeckel einklemmt. Kein Wunder, dass die Trauergesellschaft tuschelt, Claire dem Mörder ihrer Schwester Rache schwört und Max, sein einziger Freund, bedenklich den Kopf schüttelt.
So weit ist "Harry, die Zweite" nur ein normaler Netter-Versager-Roman. Aber Mark Sarvas, Literaturkritiker beim "Guardian" und Betreiber des preisgekrönten Literaturblogs "The Elegant Variation", treibt in seinem späten Prosadebüt Klamauk und Slapstick immer weiter, bis aus der Komödie eines Arztes in der Midlife-Crisis eine Tragödie von verfehlter Liebe, Schuld und verzweifelter Sühne wird. Das ist vielleicht nicht ganz so feinsinnig wie Ian McEwans "Abbitte" oder bei Sarvas' Vorbild John Banville, aber doch eine ziemlich elegante Variation von "Der Graf von Monte Christo": Ein Gefangener erzählt in kunstvollen Rückblenden und im originalgetreuen Dumas-Retrodesign von einer ehrlichen Haut, die lügt, von einem großen Kind, das sich aus Angst vor der Blamage blamiert, von einem Narren, der das Gute will und immer nur Böses schafft und sich am Ende dann doch, einer Frau zuliebe, mit Hilfe einer alten Schmonzette neu erfindet.
Der trauerunfähige Witwer hat ein Auge auf Molly, die kellnernde Literaturstudentin, geworfen. Für den direkten Weg ist er zu schüchtern, und so wählt er wie immer den Umweg, der erst recht ins Schlammassel führt: Der widerlich süßliche "Monte-Christo-Toast", den er sich von Molly aufschwatzen lässt, zieht eine Kettenreaktion absurder Missverständnisse und süßsaurer Lernprozesse nach sich. Harry kauft sich den "Graf von Monte Christo" (die gekürzte Ausgabe, nicht die Originalfassung) und beschließt, ein neues Leben als Edmond Dantès zu beginnen: Wie Dumas' geschundener Graf will "Harry 2.0" sich aus tiefster Kerkernacht ans Tageslicht wühlen, Unrecht großzügig vergelten, um am Ende als selbstlos strafender und belohnender Wohltäter das Herz Mollys zu gewinnen. Der direkte Weg ist eines Abenteuer-Grafen unwürdig, darum überschüttet Harry zunächst ihre pummelige, fußkranke Kollegin Lucille mit Freundlichkeiten und orthopädischen Schuhen. Natürlich riecht Lucille den Braten und ist verstimmt. Zwar kommt Harry bei Molly mit tölpelhaftem Charme voran, aber nur, um am Ende zu erkennen, dass er die Rolle seines Lebens vor dem falschen Publikum, wenn nicht vor leerem Haus gespielt hat: Liebe lässt sich nicht erkaufen, Trauer nicht erzwingen, Unrecht nicht mit trivialliterarischem Kitsch sühnen. Harry ist nicht der Graf von Monte Christo, nur ein linkischer Mittvierziger aus Los Angeles, der mit seinem größten Versagen ins Reine kommen muss. Ja, Anna hat sich für ihn geschämt; aber nicht, weil er ein armer Schlucker oder peinlicher Tolpatsch war, sondern weil sie ihn liebte.
Sarvas erzählt die Geschichte von Harrys langem Weg zu sich selbst in gewundenen Sätzen voll funkelnder Ironie, derber Komik und literarischen Déjà-vus. Das Happy End ist wenig originell und ziemlich süßlich; aber man hat sich zu gut mit dem Minneritter von der traurigen Gestalt unterhalten, um dem edlen Gönner nicht wenigstens die sentimentale Läuterung zu gönnen. Mark Sarvas ist kein zweiter Updike. Aber wie "Harry der Zweite" sich auf der Suche nach Liebe, Glück und Vergebung der Sünden immer wieder verrennt, erinnert manchmal schon an dessen Harry: "Rabbit" Angstrom.
Mark Sarvas: "Harry, die Zweite". Roman. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 351 S., geb., 19,95 [Euro].
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