Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2005Seele in sieben Portionen
Dreizehn Exemplare in der Sekunde: Der neue "Harry Potter"
LONDON, 17. Juli
Das letzte Wort des letzten Bandes sei "scar", Narbe, hat J. K. Rowling einmal verlauten lassen. Es ist keineswegs ausgemacht, daß es sich dabei allein um jenes Mal handeln wird, das ihr Held Harry Potter in Form eines Blitzes auf der Stirn trägt. Möglicherweise wird "Harry Potter" noch ganz andere Narben hinterlassen.
Am Freitag nachmittag ist die Lektüre in der ungewohnt leeren Londoner U-Bahn noch geprägt von den Ereignissen der vorangegangenen Woche. Eine junge Frau hat sich in ein schwarzes Penguin-Taschenbuch vertieft, auf dem in weißen Lettern der Titel "On Forgetting" prangt. Der Autor: Sigmund Freud. Die meisten Mitfahrenden lesen Zeitung, wo an ein Vergessen der Anschläge nicht zu denken ist. Der Minutenschlaf, der sonst so gern in der U-Bahn gehalten wird, ist trotz der ermüdenden Hitze nicht zu beobachten. Statt dessen wird jeder zusteigende Fahrgast durchdringend gemustert.
Am Tag darauf hat sich das Bild gewandelt. Diejenigen, die gerade nicht die neuesten Nachrichten lesen, widmen sich in der Mehrzahl vor allem einem Buch: "Harry Potter and the Half-Blood Prince", teils im vertraut grünblauen Gewand der Jugendbuchaufmachung oder in der dunklen Umschlagversion mit Thrilleranmutung, die manche erwachsene Leser bevorzugen. Die Aufregung aber um den neuen "Harry Potter" war verhalten. Nicht nur in Großbritannien war schon vor dem eigentlichen Erscheinen an diesem Samstag Ermüdung zu spüren gewesen. Zu gut kennt man inzwischen die erbitterten Preisschlachten, die auch diesmal unweigerlich ausbrachen (F.A.Z. vom 9. Juli), und die Marketinghysterie des Bloomsbury-Verlags (F.A.Z. vom 12. Juli). Die Traditionsbuchhandlung Hatchard's will zwar am Samstagmorgen bereits um acht statt wie sonst um zehn Uhr die Pforten öffnen, bleibt jedoch um Mitternacht geschlossen. Den Nachtverkauf am Piccadilly Circus hat Waterstone's übernommen, deren sämtliche Läden um null Uhr mit dem Verkauf beginnen werden, doch auch hier ist außer einigen Plakaten kein Aufwand für den sicheren Bestseller betrieben worden. In der Schlange vor der Filiale in Notting Hill hält sich die Spannung selbst unmittelbar nach Verkaufsbeginn in Grenzen. Es scheint, als folgten die gut hundert Menschen, die hier noch um ein Uhr nachts anstehen, eher dem Gesetz der Serie als der Neugier. Ob die Buchmacher recht behalten werden mit ihrer Prognose, daß Harrys Mentor, der Zauberer Albus Dumbledore, sterben wird, bewegt in diesen Minuten offenbar niemanden.
Eine Harry-Potter-Party bringt nicht viel, da die meisten nicht feiern, sondern lesen wollen - Kostümfeste, wie sie aus den Vereinigten Staaten zuhauf gemeldet werden, gelten den Londonern als überflüssiges Brimborium. Wem der Band mit 11,99 Pfund bei Waterstone's zu teuer und das Warten zu langweilig ist, bekommt ihn um die Ecke bei Books Etc. für zehn Pfund sozusagen im Vorbeigehen in die Hand gedrückt. Andere gedulden sich lieber bis zum nächsten Morgen und nehmen dann das 607 Seiten starke Werk beim Wochenendeinkauf mit: Bei den Supermärkten Tesco und Sainsbury's schlägt der neue Potter mit 7,97 respektive 8,99 Pfund zu Buche. So oder so soll J. K. Rowling allein am ersten Verkaufstag vierzig Millionen Pfund an ihrem neuesten Werk verdient haben.
Wieder haben sich also einige neue Superlative zu den früheren Rekorden gesellt, welche die Romanserie, von der sich bereits vor 0.01 Uhr am 16. Juli 270 Millionen Exemplare in 62 Sprachen verkauft haben, aufgestellt hat. Die neueste Lieferung fand schon in den ersten vierundzwanzig Stunden weltweit gut zehn Millionen Käufer; allein in Großbritannien sollen dreizehn Exemplare pro Sekunde über den Ladentisch gegangen sein. Damit nicht genug: "Harry Potter and the Half-Blood Prince" ist der erste Roman, der in England zugleich in Blindenschrift veröffentlicht wurde. Die deutsche, preisgebundene Ausgabe ist für den 1. Oktober angekündigt.
Für den treuen und begeisterungswilligen "Harry Potter"-Leser jedoch zählen weder Auflagenzahlen noch Preisgefälle, sondern einzig das Buch. J. K. Rowling hat ihre Anhänger noch mit jedem Band überrascht, denn ihre große Kunst liegt darin, Spuren auszulegen, die oft erst viel später, aber mit Sicherheit auf unerwartete Weise wieder aufgenommen werden. Teil sechs jedoch wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Zum Teil liegt es daran, daß "Harry Potter und der Halbblut-Prinz" im Gesamtzusammenhang die so schwierige wie undankbare Aufgabe zukommt, all das, was bisher geschah, zusammenzufassen und zugleich das Fundament für den siebten und letzten Band zu bereiten. Doch nachdem schon Teil fünf, "Harry Potter und der Orden des Phönix", mehr der Ankündigung des eigentlichen Kampfes gegen das von Lord Voldemort personifizierte Böse diente als dem Vorantreiben der Handlung, tritt dieser Band nun regelrecht auf der Stelle.
Der gigantische Erfolg der "Harry Potter"-Bücher, ebenso wie die anhaltende Faszination etwa von Tolkiens "Herr der Ringe", der "Narnia Chronicles" von C. S. Lewis oder der "Dark Materials"-Trilogie von Philip Pullman, deren Anhängerschaft sich ebenfalls von der Jugendkultur auf die erwachsenen Leser ausdehnte, rührt aus der Sehnsucht vieler Menschen, der Gegenwart zu entfliehen, sich in völlig fremde Welt versetzen zu lassen. Diese Tendenz zum Eskapismus und die lesende Lust an kindlicher Regression zeigte sich in England und Deutschland bereits in den nationalen Lieblingsbüchern. Das Bedürfnis danach, sich in Hobbithäusern und Kleiderschränken zu verkriechen, wo der kreischende Lärm der Moderne nur gedämpft zu vernehmen ist, wird indes ausgerechnet von "Harry Potter" immer weniger gestillt.
Denn J. K. Rowling bohrt zusehends Löcher in ihre zu Beginn so hermetische und gerade deshalb überzeugende Zauberwelt. In "Harry Potter und der Orden des Phönix" machte sich diese Tendenz vor allem zum Ende hin ungut bemerkbar; diesmal bildet sie den Auftakt: Der englische Premierminister bekommt Besuch vom seinem Kollegen, dem Zaubereiminister, der ihn von Voldemorts neuerlichem Machtgewinn in Kenntnis setzt und zur Zusammenarbeit gegen die Kräfte der Bösen auffordert. Der Krieg gegen den Terror hat auch hier längst begonnen, und auch in dieser Welt ist man uneins über die Wahl der Mittel. Der mittlerweile sechzehnjährige Harry nimmt sein Schicksal, gegen das er sich zuvor wehrte, auf sich. Nicht mehr nur der "Daily Prophet", die Zeitung der magischen Zirkel, und die Schülerschaft im Zauberinternat Hogwarts, sondern auch Harry selbst nimmt seine Rolle als Auserwählter endlich an. Das letzte der symbolträchtigen sieben Jahre, soviel ist am Ende dieses sechsten Bandes klar, wird er nicht in Hogwarts verbringen. Die Konfrontation mit dem Erzfeind Voldemort, den er allein vernichten kann, wird an einem neuen Schauplatz stattfinden müssen: Wie es zu dieser, für "Harry Potter"-Leser nicht eben überraschenden Entwicklung kommt, erzählt das Buch.
Gewidmet hat J. K. Rowling das Werk, den "Zwilling aus Tinte und Papier", ihrer zweiten Tochter Mackenzie, geboren zu Beginn dieses Jahres. Die starken Gefühle der Schwangerschaft sind in die Handlung eingeflossen: Nicht allein die pubertierenden Schüler, die sich allenthalben küssend in den Armen oder kabbelnd in den Ohren liegen, hat ein hormoneller Überschwang erfaßt. So kommt Ron endlich auf seine Knutschkosten, während Harry mit seiner einstigen Flamme Cho Chang das ganze Buch über kein Wort wechselt, sondern sich statt dessen nach einer früheren Verehrerin verzehrt. Das aufwallende Gefühlsleben sorgt für nachlassenden sportlichen Ehrgeiz; zwar ist Harry nun Kapitän des Quidditch-Teams, aber verglichen mit den anderen Bänden, kommt der beliebte Zaubersport diesmal ziemlich kurz. Überhaupt fehlen viele der liebenswerten Skurrilitäten, die man aus früheren Büchern kennt und schätzt. Die helfenden Elfen haben nur Kurzauftritte. Auch die magischen Kreaturen, die stets zur zauberischen Atmosphäre beitrugen, all die Einhörner und Kentauren, die Drachen des Wildhüters Hagrid und die Tiere des Verbotenen Waldes, selbst Voldemorts Schlange Nagini oder die Gartengnome der Weasleys, tauchen nicht auf. Der Hippogreif Buckbeak wird unter dem Decknamen Witherwings bei Hagrid vertäut und vergessen. Der Spinnenchef Aragog stirbt, und Harrys Eule Hedwig und Dumbledores Phönix Fawkes flattern nur kurz durch die Szenerie.
Wo Joanne K. Rowling sonst in bester britischer Whodunnit-Manier alle Fäden auf den letzten hundert Seiten zusammenführt, ähnelt Harrys Geschichte diesmal eher einem Bildungsroman als einer Detektivgeschichte. Zwar ist das Finale auch dieses Mal durchaus fesselnd, für Tüftler jedoch absolut unbefriedigend. Endlich erfahren wir, warum der große Zauberer Dumbledore dem Zaubertrank-Lehrer Severus Snape trotz dessen früherer Dienste für Voldemort stets vertraut hat - und sind erschrocken über die fadenscheinige Begründung; Harrys Mitschüler und Widersacher Draco Malfoy besinnt sich unvermittelt seiner nicht durch und durch schlechten Charaktereigenschaften; und die Mitglieder des Phönixordens, um die im vorangegangenen Band so ein Aufhebens gemacht wurde, wirken lediglich wie Staffage.
Auch die vielen finsteren Gestalten, die Voldemort seiner Armee von Todesessern hinzugefügt haben soll, treten einstweilen nicht auf. Überhaupt herrscht ein ständiges, nicht immer überzeugendes Kommen und Gehen der Figuren. Harrys Zieheltern, die gräßlichen Dursleys, haben selbst als Ferienheim fast ganz ausgedient. Der Schulkamerad und Freund Neville Longbottom taucht ebenfalls nur am Rande auf. Die auffallendste Fehlstelle jedoch bildet das Böse selbst: Zum ersten Mal hat Voldemort keinen Auftritt. Aber immerhin erfahren wir den perfiden Grund seiner Unsterblichkeit: Er hat seine Seele sieben Mal geteilt.
J. K. Rowling, die das Prinzip der Vorausdeutung sonst so glänzend und imponierend beherrscht, wird nun all ihre Fähigkeiten zusammennehmen müssen, damit die Serie nicht am Schluß einfach verpufft. Denn während zuvor jeder Band die Geschichte Harry Potters nicht nur fortschrieb, sondern auch immer weiter in seine Vergangenheit hineinleuchtete, beschäftigt sie sich diesmal vor allem mit der Herkunft seines Gegenspielers Voldemort.
"Harry Potter and the Half-Blood Prince" trägt seine Schwäche schon im Titel: Es ist das halbherzigste Buch der Serie, und es scheint, als sei die Vollblutschriftstellerin diesmal nur mit halbem Eifer bei der Sache gewesen. J. K. Rowling muß für den letzten Band zu ihrer früheren Form zurückfinden. Andernfalls wird die größte Narbe nicht Harry, sondern ihre enttäuschte Leserschaft davontragen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: J.K. Rowlings sechste Lieferung von "Harry Potter" hat sich allein in den ersten vierundzwanzig Stunden weltweit gut zehn Millionen Mal verkauft. Die Lektüre zeigt: Der Held wird erwachsener, aber auch langweiliger.
Dreizehn Exemplare in der Sekunde: Der neue "Harry Potter"
LONDON, 17. Juli
Das letzte Wort des letzten Bandes sei "scar", Narbe, hat J. K. Rowling einmal verlauten lassen. Es ist keineswegs ausgemacht, daß es sich dabei allein um jenes Mal handeln wird, das ihr Held Harry Potter in Form eines Blitzes auf der Stirn trägt. Möglicherweise wird "Harry Potter" noch ganz andere Narben hinterlassen.
Am Freitag nachmittag ist die Lektüre in der ungewohnt leeren Londoner U-Bahn noch geprägt von den Ereignissen der vorangegangenen Woche. Eine junge Frau hat sich in ein schwarzes Penguin-Taschenbuch vertieft, auf dem in weißen Lettern der Titel "On Forgetting" prangt. Der Autor: Sigmund Freud. Die meisten Mitfahrenden lesen Zeitung, wo an ein Vergessen der Anschläge nicht zu denken ist. Der Minutenschlaf, der sonst so gern in der U-Bahn gehalten wird, ist trotz der ermüdenden Hitze nicht zu beobachten. Statt dessen wird jeder zusteigende Fahrgast durchdringend gemustert.
Am Tag darauf hat sich das Bild gewandelt. Diejenigen, die gerade nicht die neuesten Nachrichten lesen, widmen sich in der Mehrzahl vor allem einem Buch: "Harry Potter and the Half-Blood Prince", teils im vertraut grünblauen Gewand der Jugendbuchaufmachung oder in der dunklen Umschlagversion mit Thrilleranmutung, die manche erwachsene Leser bevorzugen. Die Aufregung aber um den neuen "Harry Potter" war verhalten. Nicht nur in Großbritannien war schon vor dem eigentlichen Erscheinen an diesem Samstag Ermüdung zu spüren gewesen. Zu gut kennt man inzwischen die erbitterten Preisschlachten, die auch diesmal unweigerlich ausbrachen (F.A.Z. vom 9. Juli), und die Marketinghysterie des Bloomsbury-Verlags (F.A.Z. vom 12. Juli). Die Traditionsbuchhandlung Hatchard's will zwar am Samstagmorgen bereits um acht statt wie sonst um zehn Uhr die Pforten öffnen, bleibt jedoch um Mitternacht geschlossen. Den Nachtverkauf am Piccadilly Circus hat Waterstone's übernommen, deren sämtliche Läden um null Uhr mit dem Verkauf beginnen werden, doch auch hier ist außer einigen Plakaten kein Aufwand für den sicheren Bestseller betrieben worden. In der Schlange vor der Filiale in Notting Hill hält sich die Spannung selbst unmittelbar nach Verkaufsbeginn in Grenzen. Es scheint, als folgten die gut hundert Menschen, die hier noch um ein Uhr nachts anstehen, eher dem Gesetz der Serie als der Neugier. Ob die Buchmacher recht behalten werden mit ihrer Prognose, daß Harrys Mentor, der Zauberer Albus Dumbledore, sterben wird, bewegt in diesen Minuten offenbar niemanden.
Eine Harry-Potter-Party bringt nicht viel, da die meisten nicht feiern, sondern lesen wollen - Kostümfeste, wie sie aus den Vereinigten Staaten zuhauf gemeldet werden, gelten den Londonern als überflüssiges Brimborium. Wem der Band mit 11,99 Pfund bei Waterstone's zu teuer und das Warten zu langweilig ist, bekommt ihn um die Ecke bei Books Etc. für zehn Pfund sozusagen im Vorbeigehen in die Hand gedrückt. Andere gedulden sich lieber bis zum nächsten Morgen und nehmen dann das 607 Seiten starke Werk beim Wochenendeinkauf mit: Bei den Supermärkten Tesco und Sainsbury's schlägt der neue Potter mit 7,97 respektive 8,99 Pfund zu Buche. So oder so soll J. K. Rowling allein am ersten Verkaufstag vierzig Millionen Pfund an ihrem neuesten Werk verdient haben.
Wieder haben sich also einige neue Superlative zu den früheren Rekorden gesellt, welche die Romanserie, von der sich bereits vor 0.01 Uhr am 16. Juli 270 Millionen Exemplare in 62 Sprachen verkauft haben, aufgestellt hat. Die neueste Lieferung fand schon in den ersten vierundzwanzig Stunden weltweit gut zehn Millionen Käufer; allein in Großbritannien sollen dreizehn Exemplare pro Sekunde über den Ladentisch gegangen sein. Damit nicht genug: "Harry Potter and the Half-Blood Prince" ist der erste Roman, der in England zugleich in Blindenschrift veröffentlicht wurde. Die deutsche, preisgebundene Ausgabe ist für den 1. Oktober angekündigt.
Für den treuen und begeisterungswilligen "Harry Potter"-Leser jedoch zählen weder Auflagenzahlen noch Preisgefälle, sondern einzig das Buch. J. K. Rowling hat ihre Anhänger noch mit jedem Band überrascht, denn ihre große Kunst liegt darin, Spuren auszulegen, die oft erst viel später, aber mit Sicherheit auf unerwartete Weise wieder aufgenommen werden. Teil sechs jedoch wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Zum Teil liegt es daran, daß "Harry Potter und der Halbblut-Prinz" im Gesamtzusammenhang die so schwierige wie undankbare Aufgabe zukommt, all das, was bisher geschah, zusammenzufassen und zugleich das Fundament für den siebten und letzten Band zu bereiten. Doch nachdem schon Teil fünf, "Harry Potter und der Orden des Phönix", mehr der Ankündigung des eigentlichen Kampfes gegen das von Lord Voldemort personifizierte Böse diente als dem Vorantreiben der Handlung, tritt dieser Band nun regelrecht auf der Stelle.
Der gigantische Erfolg der "Harry Potter"-Bücher, ebenso wie die anhaltende Faszination etwa von Tolkiens "Herr der Ringe", der "Narnia Chronicles" von C. S. Lewis oder der "Dark Materials"-Trilogie von Philip Pullman, deren Anhängerschaft sich ebenfalls von der Jugendkultur auf die erwachsenen Leser ausdehnte, rührt aus der Sehnsucht vieler Menschen, der Gegenwart zu entfliehen, sich in völlig fremde Welt versetzen zu lassen. Diese Tendenz zum Eskapismus und die lesende Lust an kindlicher Regression zeigte sich in England und Deutschland bereits in den nationalen Lieblingsbüchern. Das Bedürfnis danach, sich in Hobbithäusern und Kleiderschränken zu verkriechen, wo der kreischende Lärm der Moderne nur gedämpft zu vernehmen ist, wird indes ausgerechnet von "Harry Potter" immer weniger gestillt.
Denn J. K. Rowling bohrt zusehends Löcher in ihre zu Beginn so hermetische und gerade deshalb überzeugende Zauberwelt. In "Harry Potter und der Orden des Phönix" machte sich diese Tendenz vor allem zum Ende hin ungut bemerkbar; diesmal bildet sie den Auftakt: Der englische Premierminister bekommt Besuch vom seinem Kollegen, dem Zaubereiminister, der ihn von Voldemorts neuerlichem Machtgewinn in Kenntnis setzt und zur Zusammenarbeit gegen die Kräfte der Bösen auffordert. Der Krieg gegen den Terror hat auch hier längst begonnen, und auch in dieser Welt ist man uneins über die Wahl der Mittel. Der mittlerweile sechzehnjährige Harry nimmt sein Schicksal, gegen das er sich zuvor wehrte, auf sich. Nicht mehr nur der "Daily Prophet", die Zeitung der magischen Zirkel, und die Schülerschaft im Zauberinternat Hogwarts, sondern auch Harry selbst nimmt seine Rolle als Auserwählter endlich an. Das letzte der symbolträchtigen sieben Jahre, soviel ist am Ende dieses sechsten Bandes klar, wird er nicht in Hogwarts verbringen. Die Konfrontation mit dem Erzfeind Voldemort, den er allein vernichten kann, wird an einem neuen Schauplatz stattfinden müssen: Wie es zu dieser, für "Harry Potter"-Leser nicht eben überraschenden Entwicklung kommt, erzählt das Buch.
Gewidmet hat J. K. Rowling das Werk, den "Zwilling aus Tinte und Papier", ihrer zweiten Tochter Mackenzie, geboren zu Beginn dieses Jahres. Die starken Gefühle der Schwangerschaft sind in die Handlung eingeflossen: Nicht allein die pubertierenden Schüler, die sich allenthalben küssend in den Armen oder kabbelnd in den Ohren liegen, hat ein hormoneller Überschwang erfaßt. So kommt Ron endlich auf seine Knutschkosten, während Harry mit seiner einstigen Flamme Cho Chang das ganze Buch über kein Wort wechselt, sondern sich statt dessen nach einer früheren Verehrerin verzehrt. Das aufwallende Gefühlsleben sorgt für nachlassenden sportlichen Ehrgeiz; zwar ist Harry nun Kapitän des Quidditch-Teams, aber verglichen mit den anderen Bänden, kommt der beliebte Zaubersport diesmal ziemlich kurz. Überhaupt fehlen viele der liebenswerten Skurrilitäten, die man aus früheren Büchern kennt und schätzt. Die helfenden Elfen haben nur Kurzauftritte. Auch die magischen Kreaturen, die stets zur zauberischen Atmosphäre beitrugen, all die Einhörner und Kentauren, die Drachen des Wildhüters Hagrid und die Tiere des Verbotenen Waldes, selbst Voldemorts Schlange Nagini oder die Gartengnome der Weasleys, tauchen nicht auf. Der Hippogreif Buckbeak wird unter dem Decknamen Witherwings bei Hagrid vertäut und vergessen. Der Spinnenchef Aragog stirbt, und Harrys Eule Hedwig und Dumbledores Phönix Fawkes flattern nur kurz durch die Szenerie.
Wo Joanne K. Rowling sonst in bester britischer Whodunnit-Manier alle Fäden auf den letzten hundert Seiten zusammenführt, ähnelt Harrys Geschichte diesmal eher einem Bildungsroman als einer Detektivgeschichte. Zwar ist das Finale auch dieses Mal durchaus fesselnd, für Tüftler jedoch absolut unbefriedigend. Endlich erfahren wir, warum der große Zauberer Dumbledore dem Zaubertrank-Lehrer Severus Snape trotz dessen früherer Dienste für Voldemort stets vertraut hat - und sind erschrocken über die fadenscheinige Begründung; Harrys Mitschüler und Widersacher Draco Malfoy besinnt sich unvermittelt seiner nicht durch und durch schlechten Charaktereigenschaften; und die Mitglieder des Phönixordens, um die im vorangegangenen Band so ein Aufhebens gemacht wurde, wirken lediglich wie Staffage.
Auch die vielen finsteren Gestalten, die Voldemort seiner Armee von Todesessern hinzugefügt haben soll, treten einstweilen nicht auf. Überhaupt herrscht ein ständiges, nicht immer überzeugendes Kommen und Gehen der Figuren. Harrys Zieheltern, die gräßlichen Dursleys, haben selbst als Ferienheim fast ganz ausgedient. Der Schulkamerad und Freund Neville Longbottom taucht ebenfalls nur am Rande auf. Die auffallendste Fehlstelle jedoch bildet das Böse selbst: Zum ersten Mal hat Voldemort keinen Auftritt. Aber immerhin erfahren wir den perfiden Grund seiner Unsterblichkeit: Er hat seine Seele sieben Mal geteilt.
J. K. Rowling, die das Prinzip der Vorausdeutung sonst so glänzend und imponierend beherrscht, wird nun all ihre Fähigkeiten zusammennehmen müssen, damit die Serie nicht am Schluß einfach verpufft. Denn während zuvor jeder Band die Geschichte Harry Potters nicht nur fortschrieb, sondern auch immer weiter in seine Vergangenheit hineinleuchtete, beschäftigt sie sich diesmal vor allem mit der Herkunft seines Gegenspielers Voldemort.
"Harry Potter and the Half-Blood Prince" trägt seine Schwäche schon im Titel: Es ist das halbherzigste Buch der Serie, und es scheint, als sei die Vollblutschriftstellerin diesmal nur mit halbem Eifer bei der Sache gewesen. J. K. Rowling muß für den letzten Band zu ihrer früheren Form zurückfinden. Andernfalls wird die größte Narbe nicht Harry, sondern ihre enttäuschte Leserschaft davontragen.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: J.K. Rowlings sechste Lieferung von "Harry Potter" hat sich allein in den ersten vierundzwanzig Stunden weltweit gut zehn Millionen Mal verkauft. Die Lektüre zeigt: Der Held wird erwachsener, aber auch langweiliger.
'For her success in creating what will undoubtedly be a highly literate generation Rowling deserves great praise.' The Spectator