Wenn man noch nicht mal elf ist, eine Vollwaise und bei hartherzigen neureichen Verwandten im Besenschrank unter der Treppe leben muss, hat einen das Leben schon ziemlich gebeutelt. Das findet Harry Potter auch, und trotz allem hat er sich eine unerschütterliche Zuversicht bewahrt, die eigentlich durch nichts begründet ist. Doch dann, an seinem elften Geburtstag, wird Harry in das Internat Hogwarts beordert, der Schule für Hexerei und Zauberei, wo er nicht nur Fächer wie Zaubertrankkunde und Verwandlungsunterricht hat, sondern auch erfährt, dass er selbst eine Berühmtheit ist...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2000Der Pokal spricht, ich muss träumen
In Harry Potters Hexenküche vollbringt der Zitierfix wahre Wunder: Quellen eines phantastischen Bestsellers / Von Stephen King
Eltern, die ihre Kinder schon an Videospiele und Kabelsender verloren glaubten, danken J. K. Rowling Tag für Tag: Unter den klassischen Jugendbüchern wird neben dem "Robinson" und dem "Lederstrumpf" fortan auch die Harry-Potter-Serie erwähnt werden. Aber breiten die Romane um den kleinen Zauberer nicht denselben hirnverbrannten Blödsinn aus wie Science-Fiction-Serien im Fernsehen? Ist eine Welt, in der alles möglich ist, eine Schule fürs Leben? Auch Lewis Carroll hat man ausgelacht wie den Grafen Zeppelin, weil er das Luftschiff seiner Einbildungskraft über die viktorianische Konvention hinweggleiten ließ. Die Phantastik hat in der Kinderliteratur eine ehrwürdige, man könnte sogar sagen orthodoxe Tradition. Stephen King, begnadeter Spurenleser und Spurenleger, verfolgt diese Motive im Werk von J. K. Rowling.
F.A.Z.
Den ersten Roman der Harry-Potter-Serie, "Harry Potter und der Stein der Weisen", habe ich im April 1999 gelesen; ich war nur mäßig beeindruckt. Aber im April 1999 ging es mir ja auch gut. Zwei Monate später wurde ich in einen schweren Autounfall verwickelt, und meine Genesung war lange und schmerzhaft. Zu Beginn dieser Phase las ich die beiden nächsten Bände ("Harry Potter und die Kammer des Schreckens", "Harry Potter und der Gefangene von Askaban") und war nun durchaus mehr als nur mäßig hingerissen. In diesem elenden heißen Sommer 1999 wurde die Lektüre der Harry-Potter-Bücher (sowie der exzellenten Kriminalromane von Dennis Lehane) für mich zu einer Art Überlebensstrategie. Im Juli und August stand ich meinen unangenehmen Tageslauf im Wesentlichen so durch, dass ich meine ganzen Erwartungen auf den Abend konzentrierte: Da würde ich mein mit reichlich Metallarmaturen versehenes Bein in die Küche schleppen, frisches Obst und Eis verzehren und von Harry Potters Abenteuern in Hogwarts lesen, einer Schule für junge Zauberer (Schulmotto: Kitzle nie einen schlafenden Drachen).
Aus diesem Grunde habe ich die jüngst erschienene neue Fortsetzung von Joanne K. Rowlings magischer Saga mit fast ebenso viel Spannung erwartet wie nur irgendein nach Harry Potter verrücktes Kind. Die ersten drei hatten mir durchaus gefallen, allerdings hatte ich Band zwei und drei, wie gesagt, gelesen, während ich genug Schmerzmittel nahm, um ein Pferd schwerelos zu machen. In diesem Sommer sieht es nun anders aus.
Zu meiner Erleichterung kann ich berichten, dass Potter IV - "Harry Potter and the Goblet of Fire" - so gut ist wie die bisherigen Bände. Allerdings sehr viel länger. Der neue Band ist so umfangreich wie die beiden vorhergegangenen zusammen. Ist er dichter geschrieben als die ersten drei? Regt er stärker zum Nachdenken an? Nein, tut mir Leid. Und wäre denn so etwas bei einem Fantasy-Abenteuer notwendig, das hauptsächlich für Kinder gedacht ist und im üppig-grünen Herzen der Sommerferien erscheint? Natürlich nicht. Was Kinder in den Ferien wollen und verdienen, das ist schlichter, unkomplizierter Spaß. "Harry Potter and the Goblet of Fire" liefert derartigen Spaß, und zwar nicht in kleinlichen Portionen - mit 734 Seiten kippt der Band eine Lastwagenladung vor dem Leser aus.
Das Bemerkenswerteste an diesem Buch ist die Tatsache, dass Rowlings verspielter, dem Leser permanent zuzwinkernder Humor diese Langstrecke durchhält. Bei über siebenhundert Seiten sollte man eigentlich irgendwann die schwedischen Kurzschnauzendrachen und so weiter satt haben - oder Gerätschaften wie den "Quick-Quotes Quill" (den Zitierfix-Gänsekiel, eine Art magischen Tonbandgeräts, das die adäquat widerlich gezeichnete Reporterin des "Daily Prophet", Rita Skeeter, mit sich führt), aber das ist nicht der Fall. Zumindest ging es mir nicht so. Vielleicht deshalb, weil die Autorin nie lange bei solchen amüsanten Erfindungen wie dem Zitierfix verweilt, der in der Luft schwebt und immer wieder plötzlich barocke Streifen Boulevardpressenprosa loslässt. Sie zwinkert dem Leser kurz kichernd zu und drängt ihn dann rasch weiter: Sie erzählt ihre Geschichte immer in raschem Tempo. Wir lassen uns willig genug weiterschieben, lächeln betäubt und warten auf den nächsten kleinen Rippenstoß.
Von Witzchen und Gekicher einmal abgesehen - die Geschichte ist nicht schlecht. In einem "Newsweek"-Interview hat J. K. Rowling eingeräumt, dass sie Tolkien erst recht spät gelesen hat, aber man mag kaum glauben, dass sie nicht ausführlich Agatha Christie und Dorothy Sayers studiert hätte. Obwohl der Requisitenapparat der Fantasy aufgefahren wird und die Vermengung der realen Welt und der Gegenwelt der Zauberer und fliegenden Besen sehr schön funktioniert, sind die Harry-Potter-Bücher im Grunde klug konstruierte Detektivgeschichten - im Sinne von Erzählungen, bei denen ein Rätsel gelöst wird. Potter III hat uns von Harrys Eltern erzählt (wie alle guten heldischen Knaben ist Harry ein Waisenkind) und hat die diversen Geheimnisse um ihren Tod auf eine Art und Weise aufgedeckt, die Ross Macdonald, dem Doyen des Kriminalromans der verborgenen Vergangenheiten und krummen Stammbäume, gefallen hätte.
Jetzt sind Harry und seine Freunde nach der Quidditch-Weltmeisterschaft wieder in Hogwarts angelangt, und es herrscht große Aufregung, als sie erfahren, dass das Dreizaubererturnier nach einer Pause von etwa hundert Jahren (anscheinend waren einfach zu viele der jungen Teilnehmer gestorben) wieder ausgetragen werden soll. Zauberlehrlinge aus zwei anderen Schulen sind eingeladen worden, ein Jahr in Hogwarts zu verbringen und dann an dem Turnier teilzunehmen, das aus drei - sehr schön ersonnenen - Zauberaufgaben besteht. Diese können nur von jenen Teilnehmern vollbracht werden, welche die den Aufgaben zugeordneten Rätsel zu lösen vermögen; sowohl Kindern wie Kennern der griechischen Mythologie wird dieser Aspekt von J. K. Rowlings Erzählung Vergnügen bereiten.
Wie der Sprechende Hut, der die Neuankömmlinge in Hogwarts einem der vier Häuser zuweist (eine der frühen originellen Pointen von J. K. Rowlings Phantasie), ist der Feuerpokal, dem wir im Titel des vierten Bandes begegnen, im Wesentlichen ein magischer Auswahlmechanismus. Er soll drei flammende Pergamentstücke ausspeien, auf denen die Namen der drei Teilnehmer am Turnier verzeichnet sind - einer aus jeder Schule. In einer schön spannend geschilderten Szene gibt der Feuerpokal vier Pergamentstückchen von sich anstatt drei. Das vierte trägt - natürlich - den Namen unseres Helden. Obwohl Harry angeblich eigentlich zu jung für ein so gefährliches Turnier ist, hat der Pokal gesprochen, und selbstverständlich muss Harry in die Arena. Falls Sie glauben, dass das niemand schluckt, haben Sie nie einen Harry-Potter-Leser im Haus gehabt. Erwachsene sind wohl eher an der Frage interessiert, wie denn Harrys Name überhaupt in den Pokal geraten ist. Dies ist ein Geheimnis, dessen Lösung die Autorin flott und elegant inszeniert. Und im Gegensatz zu den Schlusskapiteln, an die ich mich aus den "Nancy Drew"- oder "The Hardy Boys"-Geschichten meiner Kindheit erinnere, wo der Schuldige am Ende in der Regel irgendeine zwielichtige Existenz aus der Unterschicht war, erschien mir die Auflösung des Pokalgeheimnisses (wie die Antworten auf die Turnierrätsel) als eine durchaus faire.
Im Verlauf der Geschichte lässt uns J. K. Rowling an Harrys erstem Rendezvous teilhaben; es gibt mindestens eine originelle Nebenhandlung, bei der es um Hauselfen geht, die ihren Status als Küchensklaven eigentlich eher genießen, und eine sehr hohe Dosis pubertären Humors. Ein leicht lasziver Witz, bei dem es um den Kalauer "Uranus/your anus" geht, wird wahrscheinlich den meisten jüngeren Lesern unbegreiflich bleiben und dafür die gewitzten High-School-Kids amüsieren.
Kann man noch staunen über den ungeheuren Verkaufserfolg dieser Bücher? Die Harry-Potter-Serie ist eine übernatürliche Version des legendären britischen Schulromans "Tom Brown's Schooldays", auf den Stand der Gegenwart gebracht und mit einem schicken "So-ist-die-Jugend-wirklich"-Firnis lackiert. Und Harry ist der Jugendliche, mit dem die meisten Jugendlichen fühlen, unsicher in einer Welt phantasieloser und oft sehr unangenehmer Erwachsener, welche die Kinder weder verstehen noch verstehen wollen. Tatsächlich ist Harry ein männliches Aschenputtel, das endlos darauf gewartet hat, dass jemand es zum Ball einlädt. In Potter I erfolgt diese Einladung erst per Eule (in der magischen Welt werden Briefe durch Eulen befördert), und dann ergeht sie durch den Hut; im nun vorliegenden Band kommt sie aus dem Feuerpokal, der glüht und zischt und glamouröse Funken sprüht. Wie wunderbar, wenn man zum Ball eingeladen wird! Selbst für ein älteres Semester wie mich ist es immer noch sehr hübsch, zum Ball eingeladen zu werden.
Es wäre ja wirklich deprimierend, hätte man verkünden müssen, dass der größte Bestseller aller Zeiten - eine Position, die das neue Buch wahrscheinlich bis zum Erscheinen von Potter V innehaben wird - ein spottschlechtes Buch ist. Das ist "Harry Potter and the Goblet of Fire" durchaus nicht. Ehe Harry erschien, mussten sich tagtraumhungrige Kinder mit R. L. Stine behelfen, dem unoriginellen, aber verrückt erfolgreichen Durchschnittsprofi, dem wir das "Goosebumps"-Phänomen verdanken. Da sind die Bücher von Joanne K. Rowling besser gelaunt, besser konstruiert und besser geschrieben. Sie stecken voller spielerischer Details, wie sie nur britischen Phantastikautoren zu Gebote zu stehen scheinen - die Peitschenweide, die einem das Auto zerbeult (oder auch auf einen selbst losgeht), wenn man ihr zu nahe kommt; Süßkram wie Cauldron Cakes oder Lakritzzauberstäbchen; der superb böse Lord Voldemort, der so böse ist, dass die meisten Figuren bei J. K. Rowling von ihm nur als "Du weist schon, wer" zu sprechen bereit sind.
Die Dursleys, Harrys unappetitliche Stiefeltern, erklären ihren Bekannten die langen Abwesenheiten des Jungen in Hogwarts mit dem Hinweis, Harry besuche das St.-Brutus-Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Knaben. Das neue Buch beginnt mit der Ermordung (hinter den Kulissen, keine Angst) einer Hexe namens Bertha Jarkins: Die Autorin sagt es nicht geradeheraus, dass die unselige Bertha nichts Besseres verdient hat, weil sie unbedingt in Albanien Urlaub machen musste, aber zwischen den Zeilen ist es deutlich zu lesen.
Findet hier über den soliden Spaß hinaus noch mehr statt? Nicht viel, muss man sagen. In einem großen Teil des britischen Fantasy-Erzählens haben die amüsanten Erfindungen ihr Gegengewicht im Thema eines sich verdichtenden, bedrohlichen Dunkels - Tolkiens "Herr der Ringe"-Trilogie beispielsweise, wo der Faschismus Mordors als schwacher, ferner Gestank im Wind beginnt und sich zu einer allgegenwärtigen Atmosphäre der Furcht zusammenzieht, oder die "Narnia"-Bücher von C. S. Lewis, in denen das religiöse Anliegen des Autors den anfänglich harmlosen Phantasieabenteuern eine tiefere Bedeutung gibt, deren Intensität am Ende fast nicht zu ertragen ist (und, auf mich zumindest, langweilig wirkt). Im Extremfall produziert das Unbewusste der britischen Fantasy einen Autor wie Richard Adams, in dessen Büchern die unglückseligen redenden Hunde Snitter und Rowf unsägliche Mühsal durchleiden müssen und die Bärengottheit Shardik schließlich alle Versprechungen verkörpert, die je Religion gemacht und gebrochen hat; wo auf jeder sonnenbeschienenen Wiese voll herumhüpfender Kaninchen der glänzende Draht des Todes verborgen ist.
Bei J. K. Rowling lassen sich solche Schatten auch ausmachen, aber sie sind nur dünn und werden rasch wieder zerstreut. Harrys Abenteuer bleiben zum größten Teil fröhlich und sonnig, trotz gelegentlicher Kälteeinbrüche - mehr Lewis Carroll als George Orwell. Der britische Fantasy-Text, dem sie am nächsten stehen mögen, ist J. M. Barries "Peter Pan". Wie jede immer aufs Neue von Kindern bevölkerte Schule, wo selbst die Lehrer nach und nach die Züge psychologischer Unreife von ihren Schülern übernehmen, ist auch Hogwarts so etwas Ähnliches wie Barries Never-Never-Land. Immerhin weisen Harry und seine Freunde manche beruhigende Symptome dafür auf, dass sie schließlich älter werden. In diesem neuen Band wird diskret ein wenig geschmust, und es gibt wenigstens einige Sorgen und Enttäuschungen, mit denen man fertig werden muss.
Die Aufgabe des Fantasy-Autors ist es, den willigen Leser aus dem Alltäglichen ins Zauberische zu geleiten. Das ist eine Leistung, die nur eine außergewöhnliche Phantasie vollbringen kann, und damit ist J. K. Rowling ausgerüstet. Sie hat wiederholt gesagt, dass sich die Harry-Potter-Romane nicht bewusst an ein bestimmtes Publikum oder eine bestimmte Altersgruppe richten. Es steht außer Frage, dass ihre Weigerung, die Sprache der Bücher zu nivellieren, ihren Geschichten eine Attraktivität für Erwachsene verleiht, welche die meisten Romane für Kinder einfach nicht besitzen.
Nicht alle Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Harry Potter wird bald in einem Kinopalast in ihrer Nähe auftauchen. Das Startprojekt wird von Chris Columbus betrieben, einem Filmemacher ohne irgendwelche nachweisbare Originalität - man muss doch stark bezweifeln, ob der Regisseur von "The Goobies", einem der lautesten, kreischendsten, blödesten Kinderfilme, die je gedreht wurden, in der Lage sein wird, den schrägen Witz von J. K. Rowling und ihre lebhafte Phantasie auf die Leinwand zu bringen. Fantasy, selbst in so robuster und unkomplizierter Form wie bei dieser éducation sentimentale eines jungen Zauberers, ist schwer zu verfilmen - im Film neigen die Wunder dazu, zur Banalität zusammenzuschnurren. Vielleicht ist der Platz Harry Potters in der Phantasie seiner Leser. Und wenn diese Millionen von Lesern im Alter von elf oder zwölf Jahren einmal die Wunder und die Reichtümer der Fantasy entdeckt haben . . . na ja, wenn sie sechzehn sind oder so, dann gibt's da diesen gewissen King.
Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Harry Potters Hexenküche vollbringt der Zitierfix wahre Wunder: Quellen eines phantastischen Bestsellers / Von Stephen King
Eltern, die ihre Kinder schon an Videospiele und Kabelsender verloren glaubten, danken J. K. Rowling Tag für Tag: Unter den klassischen Jugendbüchern wird neben dem "Robinson" und dem "Lederstrumpf" fortan auch die Harry-Potter-Serie erwähnt werden. Aber breiten die Romane um den kleinen Zauberer nicht denselben hirnverbrannten Blödsinn aus wie Science-Fiction-Serien im Fernsehen? Ist eine Welt, in der alles möglich ist, eine Schule fürs Leben? Auch Lewis Carroll hat man ausgelacht wie den Grafen Zeppelin, weil er das Luftschiff seiner Einbildungskraft über die viktorianische Konvention hinweggleiten ließ. Die Phantastik hat in der Kinderliteratur eine ehrwürdige, man könnte sogar sagen orthodoxe Tradition. Stephen King, begnadeter Spurenleser und Spurenleger, verfolgt diese Motive im Werk von J. K. Rowling.
F.A.Z.
Den ersten Roman der Harry-Potter-Serie, "Harry Potter und der Stein der Weisen", habe ich im April 1999 gelesen; ich war nur mäßig beeindruckt. Aber im April 1999 ging es mir ja auch gut. Zwei Monate später wurde ich in einen schweren Autounfall verwickelt, und meine Genesung war lange und schmerzhaft. Zu Beginn dieser Phase las ich die beiden nächsten Bände ("Harry Potter und die Kammer des Schreckens", "Harry Potter und der Gefangene von Askaban") und war nun durchaus mehr als nur mäßig hingerissen. In diesem elenden heißen Sommer 1999 wurde die Lektüre der Harry-Potter-Bücher (sowie der exzellenten Kriminalromane von Dennis Lehane) für mich zu einer Art Überlebensstrategie. Im Juli und August stand ich meinen unangenehmen Tageslauf im Wesentlichen so durch, dass ich meine ganzen Erwartungen auf den Abend konzentrierte: Da würde ich mein mit reichlich Metallarmaturen versehenes Bein in die Küche schleppen, frisches Obst und Eis verzehren und von Harry Potters Abenteuern in Hogwarts lesen, einer Schule für junge Zauberer (Schulmotto: Kitzle nie einen schlafenden Drachen).
Aus diesem Grunde habe ich die jüngst erschienene neue Fortsetzung von Joanne K. Rowlings magischer Saga mit fast ebenso viel Spannung erwartet wie nur irgendein nach Harry Potter verrücktes Kind. Die ersten drei hatten mir durchaus gefallen, allerdings hatte ich Band zwei und drei, wie gesagt, gelesen, während ich genug Schmerzmittel nahm, um ein Pferd schwerelos zu machen. In diesem Sommer sieht es nun anders aus.
Zu meiner Erleichterung kann ich berichten, dass Potter IV - "Harry Potter and the Goblet of Fire" - so gut ist wie die bisherigen Bände. Allerdings sehr viel länger. Der neue Band ist so umfangreich wie die beiden vorhergegangenen zusammen. Ist er dichter geschrieben als die ersten drei? Regt er stärker zum Nachdenken an? Nein, tut mir Leid. Und wäre denn so etwas bei einem Fantasy-Abenteuer notwendig, das hauptsächlich für Kinder gedacht ist und im üppig-grünen Herzen der Sommerferien erscheint? Natürlich nicht. Was Kinder in den Ferien wollen und verdienen, das ist schlichter, unkomplizierter Spaß. "Harry Potter and the Goblet of Fire" liefert derartigen Spaß, und zwar nicht in kleinlichen Portionen - mit 734 Seiten kippt der Band eine Lastwagenladung vor dem Leser aus.
Das Bemerkenswerteste an diesem Buch ist die Tatsache, dass Rowlings verspielter, dem Leser permanent zuzwinkernder Humor diese Langstrecke durchhält. Bei über siebenhundert Seiten sollte man eigentlich irgendwann die schwedischen Kurzschnauzendrachen und so weiter satt haben - oder Gerätschaften wie den "Quick-Quotes Quill" (den Zitierfix-Gänsekiel, eine Art magischen Tonbandgeräts, das die adäquat widerlich gezeichnete Reporterin des "Daily Prophet", Rita Skeeter, mit sich führt), aber das ist nicht der Fall. Zumindest ging es mir nicht so. Vielleicht deshalb, weil die Autorin nie lange bei solchen amüsanten Erfindungen wie dem Zitierfix verweilt, der in der Luft schwebt und immer wieder plötzlich barocke Streifen Boulevardpressenprosa loslässt. Sie zwinkert dem Leser kurz kichernd zu und drängt ihn dann rasch weiter: Sie erzählt ihre Geschichte immer in raschem Tempo. Wir lassen uns willig genug weiterschieben, lächeln betäubt und warten auf den nächsten kleinen Rippenstoß.
Von Witzchen und Gekicher einmal abgesehen - die Geschichte ist nicht schlecht. In einem "Newsweek"-Interview hat J. K. Rowling eingeräumt, dass sie Tolkien erst recht spät gelesen hat, aber man mag kaum glauben, dass sie nicht ausführlich Agatha Christie und Dorothy Sayers studiert hätte. Obwohl der Requisitenapparat der Fantasy aufgefahren wird und die Vermengung der realen Welt und der Gegenwelt der Zauberer und fliegenden Besen sehr schön funktioniert, sind die Harry-Potter-Bücher im Grunde klug konstruierte Detektivgeschichten - im Sinne von Erzählungen, bei denen ein Rätsel gelöst wird. Potter III hat uns von Harrys Eltern erzählt (wie alle guten heldischen Knaben ist Harry ein Waisenkind) und hat die diversen Geheimnisse um ihren Tod auf eine Art und Weise aufgedeckt, die Ross Macdonald, dem Doyen des Kriminalromans der verborgenen Vergangenheiten und krummen Stammbäume, gefallen hätte.
Jetzt sind Harry und seine Freunde nach der Quidditch-Weltmeisterschaft wieder in Hogwarts angelangt, und es herrscht große Aufregung, als sie erfahren, dass das Dreizaubererturnier nach einer Pause von etwa hundert Jahren (anscheinend waren einfach zu viele der jungen Teilnehmer gestorben) wieder ausgetragen werden soll. Zauberlehrlinge aus zwei anderen Schulen sind eingeladen worden, ein Jahr in Hogwarts zu verbringen und dann an dem Turnier teilzunehmen, das aus drei - sehr schön ersonnenen - Zauberaufgaben besteht. Diese können nur von jenen Teilnehmern vollbracht werden, welche die den Aufgaben zugeordneten Rätsel zu lösen vermögen; sowohl Kindern wie Kennern der griechischen Mythologie wird dieser Aspekt von J. K. Rowlings Erzählung Vergnügen bereiten.
Wie der Sprechende Hut, der die Neuankömmlinge in Hogwarts einem der vier Häuser zuweist (eine der frühen originellen Pointen von J. K. Rowlings Phantasie), ist der Feuerpokal, dem wir im Titel des vierten Bandes begegnen, im Wesentlichen ein magischer Auswahlmechanismus. Er soll drei flammende Pergamentstücke ausspeien, auf denen die Namen der drei Teilnehmer am Turnier verzeichnet sind - einer aus jeder Schule. In einer schön spannend geschilderten Szene gibt der Feuerpokal vier Pergamentstückchen von sich anstatt drei. Das vierte trägt - natürlich - den Namen unseres Helden. Obwohl Harry angeblich eigentlich zu jung für ein so gefährliches Turnier ist, hat der Pokal gesprochen, und selbstverständlich muss Harry in die Arena. Falls Sie glauben, dass das niemand schluckt, haben Sie nie einen Harry-Potter-Leser im Haus gehabt. Erwachsene sind wohl eher an der Frage interessiert, wie denn Harrys Name überhaupt in den Pokal geraten ist. Dies ist ein Geheimnis, dessen Lösung die Autorin flott und elegant inszeniert. Und im Gegensatz zu den Schlusskapiteln, an die ich mich aus den "Nancy Drew"- oder "The Hardy Boys"-Geschichten meiner Kindheit erinnere, wo der Schuldige am Ende in der Regel irgendeine zwielichtige Existenz aus der Unterschicht war, erschien mir die Auflösung des Pokalgeheimnisses (wie die Antworten auf die Turnierrätsel) als eine durchaus faire.
Im Verlauf der Geschichte lässt uns J. K. Rowling an Harrys erstem Rendezvous teilhaben; es gibt mindestens eine originelle Nebenhandlung, bei der es um Hauselfen geht, die ihren Status als Küchensklaven eigentlich eher genießen, und eine sehr hohe Dosis pubertären Humors. Ein leicht lasziver Witz, bei dem es um den Kalauer "Uranus/your anus" geht, wird wahrscheinlich den meisten jüngeren Lesern unbegreiflich bleiben und dafür die gewitzten High-School-Kids amüsieren.
Kann man noch staunen über den ungeheuren Verkaufserfolg dieser Bücher? Die Harry-Potter-Serie ist eine übernatürliche Version des legendären britischen Schulromans "Tom Brown's Schooldays", auf den Stand der Gegenwart gebracht und mit einem schicken "So-ist-die-Jugend-wirklich"-Firnis lackiert. Und Harry ist der Jugendliche, mit dem die meisten Jugendlichen fühlen, unsicher in einer Welt phantasieloser und oft sehr unangenehmer Erwachsener, welche die Kinder weder verstehen noch verstehen wollen. Tatsächlich ist Harry ein männliches Aschenputtel, das endlos darauf gewartet hat, dass jemand es zum Ball einlädt. In Potter I erfolgt diese Einladung erst per Eule (in der magischen Welt werden Briefe durch Eulen befördert), und dann ergeht sie durch den Hut; im nun vorliegenden Band kommt sie aus dem Feuerpokal, der glüht und zischt und glamouröse Funken sprüht. Wie wunderbar, wenn man zum Ball eingeladen wird! Selbst für ein älteres Semester wie mich ist es immer noch sehr hübsch, zum Ball eingeladen zu werden.
Es wäre ja wirklich deprimierend, hätte man verkünden müssen, dass der größte Bestseller aller Zeiten - eine Position, die das neue Buch wahrscheinlich bis zum Erscheinen von Potter V innehaben wird - ein spottschlechtes Buch ist. Das ist "Harry Potter and the Goblet of Fire" durchaus nicht. Ehe Harry erschien, mussten sich tagtraumhungrige Kinder mit R. L. Stine behelfen, dem unoriginellen, aber verrückt erfolgreichen Durchschnittsprofi, dem wir das "Goosebumps"-Phänomen verdanken. Da sind die Bücher von Joanne K. Rowling besser gelaunt, besser konstruiert und besser geschrieben. Sie stecken voller spielerischer Details, wie sie nur britischen Phantastikautoren zu Gebote zu stehen scheinen - die Peitschenweide, die einem das Auto zerbeult (oder auch auf einen selbst losgeht), wenn man ihr zu nahe kommt; Süßkram wie Cauldron Cakes oder Lakritzzauberstäbchen; der superb böse Lord Voldemort, der so böse ist, dass die meisten Figuren bei J. K. Rowling von ihm nur als "Du weist schon, wer" zu sprechen bereit sind.
Die Dursleys, Harrys unappetitliche Stiefeltern, erklären ihren Bekannten die langen Abwesenheiten des Jungen in Hogwarts mit dem Hinweis, Harry besuche das St.-Brutus-Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Knaben. Das neue Buch beginnt mit der Ermordung (hinter den Kulissen, keine Angst) einer Hexe namens Bertha Jarkins: Die Autorin sagt es nicht geradeheraus, dass die unselige Bertha nichts Besseres verdient hat, weil sie unbedingt in Albanien Urlaub machen musste, aber zwischen den Zeilen ist es deutlich zu lesen.
Findet hier über den soliden Spaß hinaus noch mehr statt? Nicht viel, muss man sagen. In einem großen Teil des britischen Fantasy-Erzählens haben die amüsanten Erfindungen ihr Gegengewicht im Thema eines sich verdichtenden, bedrohlichen Dunkels - Tolkiens "Herr der Ringe"-Trilogie beispielsweise, wo der Faschismus Mordors als schwacher, ferner Gestank im Wind beginnt und sich zu einer allgegenwärtigen Atmosphäre der Furcht zusammenzieht, oder die "Narnia"-Bücher von C. S. Lewis, in denen das religiöse Anliegen des Autors den anfänglich harmlosen Phantasieabenteuern eine tiefere Bedeutung gibt, deren Intensität am Ende fast nicht zu ertragen ist (und, auf mich zumindest, langweilig wirkt). Im Extremfall produziert das Unbewusste der britischen Fantasy einen Autor wie Richard Adams, in dessen Büchern die unglückseligen redenden Hunde Snitter und Rowf unsägliche Mühsal durchleiden müssen und die Bärengottheit Shardik schließlich alle Versprechungen verkörpert, die je Religion gemacht und gebrochen hat; wo auf jeder sonnenbeschienenen Wiese voll herumhüpfender Kaninchen der glänzende Draht des Todes verborgen ist.
Bei J. K. Rowling lassen sich solche Schatten auch ausmachen, aber sie sind nur dünn und werden rasch wieder zerstreut. Harrys Abenteuer bleiben zum größten Teil fröhlich und sonnig, trotz gelegentlicher Kälteeinbrüche - mehr Lewis Carroll als George Orwell. Der britische Fantasy-Text, dem sie am nächsten stehen mögen, ist J. M. Barries "Peter Pan". Wie jede immer aufs Neue von Kindern bevölkerte Schule, wo selbst die Lehrer nach und nach die Züge psychologischer Unreife von ihren Schülern übernehmen, ist auch Hogwarts so etwas Ähnliches wie Barries Never-Never-Land. Immerhin weisen Harry und seine Freunde manche beruhigende Symptome dafür auf, dass sie schließlich älter werden. In diesem neuen Band wird diskret ein wenig geschmust, und es gibt wenigstens einige Sorgen und Enttäuschungen, mit denen man fertig werden muss.
Die Aufgabe des Fantasy-Autors ist es, den willigen Leser aus dem Alltäglichen ins Zauberische zu geleiten. Das ist eine Leistung, die nur eine außergewöhnliche Phantasie vollbringen kann, und damit ist J. K. Rowling ausgerüstet. Sie hat wiederholt gesagt, dass sich die Harry-Potter-Romane nicht bewusst an ein bestimmtes Publikum oder eine bestimmte Altersgruppe richten. Es steht außer Frage, dass ihre Weigerung, die Sprache der Bücher zu nivellieren, ihren Geschichten eine Attraktivität für Erwachsene verleiht, welche die meisten Romane für Kinder einfach nicht besitzen.
Nicht alle Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Harry Potter wird bald in einem Kinopalast in ihrer Nähe auftauchen. Das Startprojekt wird von Chris Columbus betrieben, einem Filmemacher ohne irgendwelche nachweisbare Originalität - man muss doch stark bezweifeln, ob der Regisseur von "The Goobies", einem der lautesten, kreischendsten, blödesten Kinderfilme, die je gedreht wurden, in der Lage sein wird, den schrägen Witz von J. K. Rowling und ihre lebhafte Phantasie auf die Leinwand zu bringen. Fantasy, selbst in so robuster und unkomplizierter Form wie bei dieser éducation sentimentale eines jungen Zauberers, ist schwer zu verfilmen - im Film neigen die Wunder dazu, zur Banalität zusammenzuschnurren. Vielleicht ist der Platz Harry Potters in der Phantasie seiner Leser. Und wenn diese Millionen von Lesern im Alter von elf oder zwölf Jahren einmal die Wunder und die Reichtümer der Fantasy entdeckt haben . . . na ja, wenn sie sechzehn sind oder so, dann gibt's da diesen gewissen King.
Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main