Im Jahr 1939 reist Kapitän Marlow zum letzten blinden Fleck dieser Erde. Er soll den verschollenen Elfenbeinhändler Kurtz suchen, der im »Herz der Finsternis«, am Ufer des Kongo, ein zügelloses Leben führt. Marlow reist immer tiefer in die Wildnis des afrikanischen Dschungels, dorthin, wo die vermeintliche Zivilisation des weißen Mannes zu bröckeln beginnt und sich das Böse offenbart. Conrads Meisterwerk diente nicht nur Francis Ford Coppola als Vorlage zu »Apocalypse Now«, bereits 1939 schrieb Welles dazu ein nie verfilmtes Drehbuch. Nun kann man diese Adaption als Hörspiel entdecken - ein imaginärer Film über die Abgründe des Kolonialismus.Hörspiel mit Sylvester Groth, Ulrich Matthes, Sandra Hüller2 CDs ca. 2 h 30 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Eine Reise im Jahr 1939
Orson Welles konnte „Herz der Finsternis“ nie verfilmen. Walter Adler hat nun das Drehbuch als Hörspiel inszeniert
Es beginnt mit einer Ansprache an das Publikum. Orson Welles, der Star und Direktor des Mercury Theatre, sagt „Guten Abend“ und redet dann über Joseph Conrad und dessen beschwörendes Meisterwerk „Herz der Finsternis“. Welles bewunderte das Englisch Conrads, der 1857 als Józef Korzeniowski in einer Familie polnischer Patrioten geboren wurde, er schätzte dessen Prosakunst, die Fähigkeit, Stimmungen zu schildern und zu erregen, ohne dass man sofort zu sagen wüsste, wie er das gemacht hat. Daher schienen ihm die Werke Joseph Conrads für eine Verfilmung bestens geeignet.
Welles war 23, als die Ausstrahlung des Hörspiels „Krieg der Welten“ am Vorabend von Halloween 1938 für Aufsehen sorgte. Der Legende nach hielten viele Hörer die fiktive für eine echte Reportage und gerieten in Panik. Wahrscheinlich war auch diese Meldung wiederum nur Teil einer geschickten Inszenierung. Auf jeden Fall verpflichtete RKO Pictures den Schauspieler, Regisseur und Autor Welles nach Hollywood. Man lockte ihn auch mit dem Versprechen unbegrenzter künstlerischer Freiheit. Er plante, Conrads „Herz der Finsternis“ zu verfilmen und schrieb ein ausführliches Drehbuch. RKO Pictures aber scheute das Risiko: zu teuer wäre geworden, was Welles vorhatte, ästhetisch zu ungewohnt, zu gewagt und obendrein wohl politisch anstößig.
Der Film wurde nie gedreht. Nach dem Drehbuch, übersetzt von Jochen Stremmel, hat der Regisseur und Autor Walter Adler ein Hörspiel inszeniert, eine Reise zum Bösen und zugleich ein Experiment mit Stimmungen. Virtuos vergegenwärtigt es die besondere Orson-Welles-Atmosphäre, doch kann sich der Hörer nicht in Sicherheit wiegen. Zwar klingt alles nach längst vergangenen Zeiten, als die Melodramen Hollywoods noch schwarz-weiß waren, und doch ist das Grauen, der verlässliche Begleiter des Menschen, hier außergewöhnlich präsent. Der Elfenbeinhändler Kurtz, der rätselhafte, gewalttätige Kolonialherr, der in „Herz der Finsternis“ gesucht und entsetzlicherweise auch gefunden wird, könnte ein Nachbar sein.
Von all den Voraussetzungen dieser Geschichte, von Joseph Conrads Erlebnissen im Kongo, von der 1899 erschienenen Erzählung und vom gescheiterten Filmprojekt des Jahres 1939 muss der Hörer nichts wissen. Eine Folge von Eröffnungsszenen führt sie vor. Robert Dölle spricht die detaillierten Regieanweisungen wie ein Reiseführer, der seine Freude daran hat, dass man ihm vertraut, der genau weiß, welche Überraschungen von ihm erwartet werden. So fordert er, die Augen zu schließen, sie wieder zu öffnen und eine andere Art des Sehens zu erproben. Das Innere eines Vogelkäfigs, hinter den Gitterstäben, heißt es, seien Mund und Kinn des Erzählers zu sehen, ungeheuer vergrößert. Der Zuschauer, der Hörer spielt die Rolle eines Kanarienvogels, dem zu singen befohlen wird. Da er es nicht tut, wird er erschossen.
Orson Welles hatte Ungewöhnliches geplant, wollte den gesamten Film in sehr langen Einstellungen drehen und aus der Sicht der Hauptfigur, also mit subjektiver Kamera. Er hatte vor, beide Protagonisten zu spielen: den Kapitän Marlowe, der im Auftrag einer Firma nach dem verschollenen Kurtz sucht, und diesen Verschollenen, der in Afrika sein kleines Reich der Gewalt errichtete. Dank der subjektiven Kamera hätten die Zuschauer Marlowe nur in Spiegelungen erblickt, es wäre ihnen ergangen wie dem Kanarienvogel im Käfig.
Es lässt sich nur spekulieren, ob Welles diese radikale Überwältigungsstrategie während der Dreharbeiten durchgehalten oder variiert hätte. Im Hörspiel stehen die suggestiven Berichte und die bis zum Zerreißen gespannten Dialoge neben den technischen Termini der Regieanweisungen. Hinzu kommt die Musik zu „Citizen Kane“, dem Filmdrama, mit dem Orson Welles 1941 zur Regielegende wurde. Das Nebeneinander der verschiedenen Klangatmosphären verstärkt in Walter Adlers Inszenierung den Sog der Geschichte, die Herrschaft der Stimmungen.
Vor der Kulisse Manhattans erinnert Marlowe an den Fluss, die Reise zum letzten weißen Fleck auf der Landkarte. Sylvester Groths Marlowe spricht vom ersten Wort an wie einer, der nicht zu laut werden will, als fürchte er, man könne auf ihn aufmerksam werden. Er ist einer, für den es keine Normalität mehr gibt, nichts Selbstverständliches, nur lauerndes Unheil.
Vor der Reise wird Marlowe von einem Arzt untersucht, dies ist die letzte Szene der Exposition. Welles hat – wie später Francis Ford Coppola für „Apocalypse Now“ – Conrads Geschichte aktualisiert. Er lässt sie im Jahr 1939 spielen, der Arzt ist ein Deutscher, so wie Mannschaft und Begleiter Marlowes in Afrika Deutsche sind. Der Arzt vermisst den Schädel, faselt von nordischer Rasse und von Kurtz als dem kommenden Führer. Aber diese zeitgeschichtlichen Anspielungen bleiben dem Geschehen ebenso äußerlich wie das Sächsische und andere Spielarten des Deutschen auf der Fahrt zum Grauen.
„Sie werden diesen Film nicht sehen, dieser Film wird ihnen zustoßen“, heißt es in der Kanarienvogelszene. Dem Hörspiel folgt man gebannt, begeistert von der Sorgfalt der Produktion, dem Können der Schauspieler, dem klugen Einsatz von Musik und Geräuschsignalen. Aber die Frage bleibt, ob diese Ästhetik, die Vergegenwärtigung des Grauens in Stimmungsbildern, nicht längst anachronistisch geworden ist, seltsam vertraut, bloß gespielte Verstörung.
JENS BISKY
„Sie werden diesen Film
nicht sehen, dieser Film
wird ihnen zustoßen.“
Orson Welles:
Herz der
Finsternis. Nach
einer Erzählung
von Joseph
Conrad. Der
Audio Verlag,
Berlin 2016.
2 CDs, ca.
150 Minuten,
16,99 Euro.
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Orson Welles konnte „Herz der Finsternis“ nie verfilmen. Walter Adler hat nun das Drehbuch als Hörspiel inszeniert
Es beginnt mit einer Ansprache an das Publikum. Orson Welles, der Star und Direktor des Mercury Theatre, sagt „Guten Abend“ und redet dann über Joseph Conrad und dessen beschwörendes Meisterwerk „Herz der Finsternis“. Welles bewunderte das Englisch Conrads, der 1857 als Józef Korzeniowski in einer Familie polnischer Patrioten geboren wurde, er schätzte dessen Prosakunst, die Fähigkeit, Stimmungen zu schildern und zu erregen, ohne dass man sofort zu sagen wüsste, wie er das gemacht hat. Daher schienen ihm die Werke Joseph Conrads für eine Verfilmung bestens geeignet.
Welles war 23, als die Ausstrahlung des Hörspiels „Krieg der Welten“ am Vorabend von Halloween 1938 für Aufsehen sorgte. Der Legende nach hielten viele Hörer die fiktive für eine echte Reportage und gerieten in Panik. Wahrscheinlich war auch diese Meldung wiederum nur Teil einer geschickten Inszenierung. Auf jeden Fall verpflichtete RKO Pictures den Schauspieler, Regisseur und Autor Welles nach Hollywood. Man lockte ihn auch mit dem Versprechen unbegrenzter künstlerischer Freiheit. Er plante, Conrads „Herz der Finsternis“ zu verfilmen und schrieb ein ausführliches Drehbuch. RKO Pictures aber scheute das Risiko: zu teuer wäre geworden, was Welles vorhatte, ästhetisch zu ungewohnt, zu gewagt und obendrein wohl politisch anstößig.
Der Film wurde nie gedreht. Nach dem Drehbuch, übersetzt von Jochen Stremmel, hat der Regisseur und Autor Walter Adler ein Hörspiel inszeniert, eine Reise zum Bösen und zugleich ein Experiment mit Stimmungen. Virtuos vergegenwärtigt es die besondere Orson-Welles-Atmosphäre, doch kann sich der Hörer nicht in Sicherheit wiegen. Zwar klingt alles nach längst vergangenen Zeiten, als die Melodramen Hollywoods noch schwarz-weiß waren, und doch ist das Grauen, der verlässliche Begleiter des Menschen, hier außergewöhnlich präsent. Der Elfenbeinhändler Kurtz, der rätselhafte, gewalttätige Kolonialherr, der in „Herz der Finsternis“ gesucht und entsetzlicherweise auch gefunden wird, könnte ein Nachbar sein.
Von all den Voraussetzungen dieser Geschichte, von Joseph Conrads Erlebnissen im Kongo, von der 1899 erschienenen Erzählung und vom gescheiterten Filmprojekt des Jahres 1939 muss der Hörer nichts wissen. Eine Folge von Eröffnungsszenen führt sie vor. Robert Dölle spricht die detaillierten Regieanweisungen wie ein Reiseführer, der seine Freude daran hat, dass man ihm vertraut, der genau weiß, welche Überraschungen von ihm erwartet werden. So fordert er, die Augen zu schließen, sie wieder zu öffnen und eine andere Art des Sehens zu erproben. Das Innere eines Vogelkäfigs, hinter den Gitterstäben, heißt es, seien Mund und Kinn des Erzählers zu sehen, ungeheuer vergrößert. Der Zuschauer, der Hörer spielt die Rolle eines Kanarienvogels, dem zu singen befohlen wird. Da er es nicht tut, wird er erschossen.
Orson Welles hatte Ungewöhnliches geplant, wollte den gesamten Film in sehr langen Einstellungen drehen und aus der Sicht der Hauptfigur, also mit subjektiver Kamera. Er hatte vor, beide Protagonisten zu spielen: den Kapitän Marlowe, der im Auftrag einer Firma nach dem verschollenen Kurtz sucht, und diesen Verschollenen, der in Afrika sein kleines Reich der Gewalt errichtete. Dank der subjektiven Kamera hätten die Zuschauer Marlowe nur in Spiegelungen erblickt, es wäre ihnen ergangen wie dem Kanarienvogel im Käfig.
Es lässt sich nur spekulieren, ob Welles diese radikale Überwältigungsstrategie während der Dreharbeiten durchgehalten oder variiert hätte. Im Hörspiel stehen die suggestiven Berichte und die bis zum Zerreißen gespannten Dialoge neben den technischen Termini der Regieanweisungen. Hinzu kommt die Musik zu „Citizen Kane“, dem Filmdrama, mit dem Orson Welles 1941 zur Regielegende wurde. Das Nebeneinander der verschiedenen Klangatmosphären verstärkt in Walter Adlers Inszenierung den Sog der Geschichte, die Herrschaft der Stimmungen.
Vor der Kulisse Manhattans erinnert Marlowe an den Fluss, die Reise zum letzten weißen Fleck auf der Landkarte. Sylvester Groths Marlowe spricht vom ersten Wort an wie einer, der nicht zu laut werden will, als fürchte er, man könne auf ihn aufmerksam werden. Er ist einer, für den es keine Normalität mehr gibt, nichts Selbstverständliches, nur lauerndes Unheil.
Vor der Reise wird Marlowe von einem Arzt untersucht, dies ist die letzte Szene der Exposition. Welles hat – wie später Francis Ford Coppola für „Apocalypse Now“ – Conrads Geschichte aktualisiert. Er lässt sie im Jahr 1939 spielen, der Arzt ist ein Deutscher, so wie Mannschaft und Begleiter Marlowes in Afrika Deutsche sind. Der Arzt vermisst den Schädel, faselt von nordischer Rasse und von Kurtz als dem kommenden Führer. Aber diese zeitgeschichtlichen Anspielungen bleiben dem Geschehen ebenso äußerlich wie das Sächsische und andere Spielarten des Deutschen auf der Fahrt zum Grauen.
„Sie werden diesen Film nicht sehen, dieser Film wird ihnen zustoßen“, heißt es in der Kanarienvogelszene. Dem Hörspiel folgt man gebannt, begeistert von der Sorgfalt der Produktion, dem Können der Schauspieler, dem klugen Einsatz von Musik und Geräuschsignalen. Aber die Frage bleibt, ob diese Ästhetik, die Vergegenwärtigung des Grauens in Stimmungsbildern, nicht längst anachronistisch geworden ist, seltsam vertraut, bloß gespielte Verstörung.
JENS BISKY
„Sie werden diesen Film
nicht sehen, dieser Film
wird ihnen zustoßen.“
Orson Welles:
Herz der
Finsternis. Nach
einer Erzählung
von Joseph
Conrad. Der
Audio Verlag,
Berlin 2016.
2 CDs, ca.
150 Minuten,
16,99 Euro.
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»Kaum ein Roman hat unsere Sicht auf den afrikanischen Kontinent mehr geprägt.« rbb kulturradio