Das jüdische Waisenkind Renée wird im letzten Kriegswinter vor den Deutschen versteckt - bei den Nonnen, dem Pfarrer und den Bauern in den Ardennen. Bis sie dem SS-Offizier Matthias in die Hände fällt. Er bringt Renée sofort in den Wald, um sie zu erschießen, doch dann nimmt alles einen ganz anderen Verlauf. Dieses Mädchen mit den tiefschwarzen Augen wird Matthias' Leben für immer verändern. Emmanuelle Pirotte hat es gewagt, zwei Gegensätze zu einer sich ergänzenden Einheit zusammenzudenken. Gelungen ist ihr ein Werk, das uns den Glauben an die Menschlichkeit zurückgibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2018SS-Superheld mit Skrupeln
Emmanuelle Pirottes Zweiter-Weltkrieg-Roman "Heute leben wir" setzt vor allem aufs Klischee
Unerbittliche SS-Kampfmaschine mit Trapper-Vergangenheit rettet jüdisches Mädchen: So kann man den Erstling "Heute leben wir" von Emmanuelle Pirotte resümieren. Das klingt reißerisch und ist es auch. Der handlungsgetriebene Roman spielt im Dezember 1944, mitten in der deutschen Ardennenoffensive. Matthias Strauss, 35 Jahre alt, ist Teil des (historisch belegten) Unternehmens "Greif", geleitet von Otto Skorzeny. SS-Elitesoldaten, getarnt als amerikanische Befreier, werden hinter die feindlichen Linien geschickt. Matthias fällt Renée in die Hände, ein etwa sieben Jahre altes jüdisches Mädchen. Statt kurzen Prozess mit ihr zu machen, tötet er seinen Mitstreiter und versteckt sich in einer Hütte mit ihr; das Kind fühlt sich bei ihm erstmals wirklich geborgen. Als die Deutschen anrücken, gibt er es in die Obhut von Jules Paquet, eines gutmütigen, charismatischen Bauern. Da er jedoch bald merkt, dass er sich nicht von Renée trennen kann, gesellt er sich zu den Dorfbewohnern und einer Gruppe amerikanischer Soldaten, die sich im Keller des Bauernhofs verstecken.
Der Großteil des Romans entwickelt das huis clos im Hofkeller: Die Bewohner umkreisen einander in einem Reigen von Anziehung und Hass. Matthias und der amerikanische Soldat Dan buhlen um die Gunst der Bauerntochter Jeanne, die eindeutig Matthias bevorzugt. Dan argwöhnt, der Rivale könne zum Feind gehören, kann ihm aber nichts nachweisen, weil Matthias dank einer kanadischen Mutter akzentfrei Englisch spricht und die kulturellen Codes beherrscht; Jules und sein Sohn Albert ahnen ebenfalls, dass Matthias nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Am Weihnachtsabend, als die festliche Stimmung die Gemüter löst, verrät sich Matthias beim Walzertanz. Der Hinrichtung entkommt er schwerverletzt - und kann Renée vor den heranrückenden Deutschen ebenfalls in letzter Minute retten.
"Heute leben wir" ist in mehrfacher Hinsicht eher Film als Buch. Der Roman ist aus einem Drehbuch hervorgegangen (die Verfilmung war für 2017 angesetzt), und das merkt man ihm an. Hinzu kommt, dass Emmanuelle Pirotte, die Tochter des belgischen Schriftstellers und Dichters Jean-Claude Pirotte, ihren Text an zwei großen Kriegsfilmen orientiert. Da wäre "Today we live" von Howard Hawks (1933), dem das Buch seinen Titel verdankt, sowie "Die große Illusion" (1937) von Jean Renoir, denn Matthias ist ein Wiedergänger des Majors von Rauffenstein, gespielt von Erich von Stroheim. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die historische Lage eine andere ist: Die Filme von Hawks und Renoir handeln vom Ersten Weltkrieg, und wenn Renoir die Gegnerschaft zwischen Franzosen und Deutschen pazifistisch relativiert, dann ist das im Zweiten Weltkrieg, unter den Vorzeichen des NS-Totalitarismus, problematisch; da helfen explizite Verweise auf Auschwitz wenig.
Als Hollywood-Schinken wäre "Heute leben wir" vielleicht passabel, der Roman überzeugt nicht. Hauptgrund ist der Held Matthias, ein Berliner Raufbold aus bestem Hause, später kanadischer Trapper mit dem Cree-Namen "Töte-Viel" und nun Teil "der Crème der Superhelden des Nationalsozialismus": Die Figur ist wenig glaubhaft. "Er hatte Hummeln im Hintern, er war neugierig, darum. Und verrückt genug, gestört genug, um sich in einen Krieg zu stürzen." Viele Gemetzel später: "Er hat die Schnauze gestrichen voll. Dieser Krieg hat aufgehört, ihn zu amüsieren, seit seiner letzten Tarnoperation in der französischen Résistance, wo er auf einem Dorfplatz drei Jugendliche erschießen musste, zwei siebzehnjährige Jungen und ein achtzehnjähriges Mädchen." Ist die Banalität des Bösen noch halbwegs nachvollziehbar, gilt dies für die Stilisierung zum Ausnahmekrieger nicht. Sie entspricht der Mischung aus Dämonisierung und Heroisierung anderer Nazifiguren, wie jenes Offiziers, der Juden geradezu riechen kann; die perspektivische Bindung, hier an Renées Phantasie, macht das kaum besser. Ein bisschen selbstreflexive Ironie - "Das war sogar derart klischeehaft, dass man nur lachen konnte" - ist vielleicht gut fürs Gewissen, rettet aber den Roman nicht. Das Klischee ist dessen Substanz: "Nur stirbt man eben nicht so leicht, wenn man ein übertrainiertes Kriegstier ist."
Etwas psychologisches Interesse bekommt der Roman durch die wechselseitige Faszination zwischen Matthias und Renée. Das Kind ist die weitaus spannendere Figur: "Das Gesicht des kleinen Mädchens tauchte vor ihm auf, mit dem abrupt wechselnden Ausdruck, jener entwaffnenden Arglosigkeit, die so schnell einem tiefen Ernst weichen konnte. Etwas Starkes und Unergründliches, wie Matthias es noch nie bei jemandem erlebt hatte." Von Natur aus "hart gegen sich selbst und genauso hart gegen andere", ist Renée gnadenlos aufrichtig und stößt andere vor den Kopf. Durch Jahre der Flucht und des Verbergens ist sie völlig abgebrüht. Insofern stellt sie das ideale Pendant zu Matthias dar.
Gedanklich am anregendsten sind Passagen wie jene, in der Renée über das Judentum nachdenkt: "Das Wort ,Jude' stellte ein echtes Geheimnis dar. Renée hatte sich geschworen, es eines Tages zu lüften und vor allem zu verstehen, weshalb die Menschen bei diesem Wort bald feige wurden, wie der Vater von Marcel und Henri, bald böse, wie Françoise oder Marie-Jeanne, und dann wieder mutig und freundschaftlich, wie die Bauersleute in der anderen Gegend, wie Schwester Marthe vom Sacré-Coeur-Orden, der Pfarrer oder Jules Paquet. Das machte ihr am meisten Kopfzerbrechen: was dieses Wort an Emotionen auslöste." Andererseits: Das war es bereits mit der intellektuellen Mühe.
NIKLAS BENDER
Emmanuelle Pirotte: "Heute leben wir". Roman.
Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuelle Pirottes Zweiter-Weltkrieg-Roman "Heute leben wir" setzt vor allem aufs Klischee
Unerbittliche SS-Kampfmaschine mit Trapper-Vergangenheit rettet jüdisches Mädchen: So kann man den Erstling "Heute leben wir" von Emmanuelle Pirotte resümieren. Das klingt reißerisch und ist es auch. Der handlungsgetriebene Roman spielt im Dezember 1944, mitten in der deutschen Ardennenoffensive. Matthias Strauss, 35 Jahre alt, ist Teil des (historisch belegten) Unternehmens "Greif", geleitet von Otto Skorzeny. SS-Elitesoldaten, getarnt als amerikanische Befreier, werden hinter die feindlichen Linien geschickt. Matthias fällt Renée in die Hände, ein etwa sieben Jahre altes jüdisches Mädchen. Statt kurzen Prozess mit ihr zu machen, tötet er seinen Mitstreiter und versteckt sich in einer Hütte mit ihr; das Kind fühlt sich bei ihm erstmals wirklich geborgen. Als die Deutschen anrücken, gibt er es in die Obhut von Jules Paquet, eines gutmütigen, charismatischen Bauern. Da er jedoch bald merkt, dass er sich nicht von Renée trennen kann, gesellt er sich zu den Dorfbewohnern und einer Gruppe amerikanischer Soldaten, die sich im Keller des Bauernhofs verstecken.
Der Großteil des Romans entwickelt das huis clos im Hofkeller: Die Bewohner umkreisen einander in einem Reigen von Anziehung und Hass. Matthias und der amerikanische Soldat Dan buhlen um die Gunst der Bauerntochter Jeanne, die eindeutig Matthias bevorzugt. Dan argwöhnt, der Rivale könne zum Feind gehören, kann ihm aber nichts nachweisen, weil Matthias dank einer kanadischen Mutter akzentfrei Englisch spricht und die kulturellen Codes beherrscht; Jules und sein Sohn Albert ahnen ebenfalls, dass Matthias nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Am Weihnachtsabend, als die festliche Stimmung die Gemüter löst, verrät sich Matthias beim Walzertanz. Der Hinrichtung entkommt er schwerverletzt - und kann Renée vor den heranrückenden Deutschen ebenfalls in letzter Minute retten.
"Heute leben wir" ist in mehrfacher Hinsicht eher Film als Buch. Der Roman ist aus einem Drehbuch hervorgegangen (die Verfilmung war für 2017 angesetzt), und das merkt man ihm an. Hinzu kommt, dass Emmanuelle Pirotte, die Tochter des belgischen Schriftstellers und Dichters Jean-Claude Pirotte, ihren Text an zwei großen Kriegsfilmen orientiert. Da wäre "Today we live" von Howard Hawks (1933), dem das Buch seinen Titel verdankt, sowie "Die große Illusion" (1937) von Jean Renoir, denn Matthias ist ein Wiedergänger des Majors von Rauffenstein, gespielt von Erich von Stroheim. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die historische Lage eine andere ist: Die Filme von Hawks und Renoir handeln vom Ersten Weltkrieg, und wenn Renoir die Gegnerschaft zwischen Franzosen und Deutschen pazifistisch relativiert, dann ist das im Zweiten Weltkrieg, unter den Vorzeichen des NS-Totalitarismus, problematisch; da helfen explizite Verweise auf Auschwitz wenig.
Als Hollywood-Schinken wäre "Heute leben wir" vielleicht passabel, der Roman überzeugt nicht. Hauptgrund ist der Held Matthias, ein Berliner Raufbold aus bestem Hause, später kanadischer Trapper mit dem Cree-Namen "Töte-Viel" und nun Teil "der Crème der Superhelden des Nationalsozialismus": Die Figur ist wenig glaubhaft. "Er hatte Hummeln im Hintern, er war neugierig, darum. Und verrückt genug, gestört genug, um sich in einen Krieg zu stürzen." Viele Gemetzel später: "Er hat die Schnauze gestrichen voll. Dieser Krieg hat aufgehört, ihn zu amüsieren, seit seiner letzten Tarnoperation in der französischen Résistance, wo er auf einem Dorfplatz drei Jugendliche erschießen musste, zwei siebzehnjährige Jungen und ein achtzehnjähriges Mädchen." Ist die Banalität des Bösen noch halbwegs nachvollziehbar, gilt dies für die Stilisierung zum Ausnahmekrieger nicht. Sie entspricht der Mischung aus Dämonisierung und Heroisierung anderer Nazifiguren, wie jenes Offiziers, der Juden geradezu riechen kann; die perspektivische Bindung, hier an Renées Phantasie, macht das kaum besser. Ein bisschen selbstreflexive Ironie - "Das war sogar derart klischeehaft, dass man nur lachen konnte" - ist vielleicht gut fürs Gewissen, rettet aber den Roman nicht. Das Klischee ist dessen Substanz: "Nur stirbt man eben nicht so leicht, wenn man ein übertrainiertes Kriegstier ist."
Etwas psychologisches Interesse bekommt der Roman durch die wechselseitige Faszination zwischen Matthias und Renée. Das Kind ist die weitaus spannendere Figur: "Das Gesicht des kleinen Mädchens tauchte vor ihm auf, mit dem abrupt wechselnden Ausdruck, jener entwaffnenden Arglosigkeit, die so schnell einem tiefen Ernst weichen konnte. Etwas Starkes und Unergründliches, wie Matthias es noch nie bei jemandem erlebt hatte." Von Natur aus "hart gegen sich selbst und genauso hart gegen andere", ist Renée gnadenlos aufrichtig und stößt andere vor den Kopf. Durch Jahre der Flucht und des Verbergens ist sie völlig abgebrüht. Insofern stellt sie das ideale Pendant zu Matthias dar.
Gedanklich am anregendsten sind Passagen wie jene, in der Renée über das Judentum nachdenkt: "Das Wort ,Jude' stellte ein echtes Geheimnis dar. Renée hatte sich geschworen, es eines Tages zu lüften und vor allem zu verstehen, weshalb die Menschen bei diesem Wort bald feige wurden, wie der Vater von Marcel und Henri, bald böse, wie Françoise oder Marie-Jeanne, und dann wieder mutig und freundschaftlich, wie die Bauersleute in der anderen Gegend, wie Schwester Marthe vom Sacré-Coeur-Orden, der Pfarrer oder Jules Paquet. Das machte ihr am meisten Kopfzerbrechen: was dieses Wort an Emotionen auslöste." Andererseits: Das war es bereits mit der intellektuellen Mühe.
NIKLAS BENDER
Emmanuelle Pirotte: "Heute leben wir". Roman.
Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Toll gemacht, Emmanuelle Pirotte! Barbara 201705