Ein Spiel mit Schein und Sein
Sie erreichen London um 16.50 Uhr an der Paddington Station. Der fast 70-jährige Leonard Vernim und seine amerikanische Lebensgefährtin Maud. Leonard ist schwer krank - und Maud ist besorgt. Und zwar mehr, als es die Lage sowieso schon erfordern würde. Irgendetwas Geheimnisvolles geht vor sich, irgendetwas verschweigt ihr Leonard. Ein großes, wahrscheinlich letztes Geburtstagsfest hat er geplant. Auch ihre beiden Kinder aus erster Ehe sind eingeladen - die neurotische Irina, der ständig an Geldmangel leidende Gregorius. Sowie zwei mysteriöse Gäste, deren Namen sie nicht kennt. Gleichzeitig geht ein Serienmörder in der Stadt um - es braut sich etwas zusammen unter dem Himmel von London ...
Vollständig gelesen von Dietmar Bär, Walter Kreye und Simone Kabst.
(2 mp3-CDs, Laufzeit: 16h)
Sie erreichen London um 16.50 Uhr an der Paddington Station. Der fast 70-jährige Leonard Vernim und seine amerikanische Lebensgefährtin Maud. Leonard ist schwer krank - und Maud ist besorgt. Und zwar mehr, als es die Lage sowieso schon erfordern würde. Irgendetwas Geheimnisvolles geht vor sich, irgendetwas verschweigt ihr Leonard. Ein großes, wahrscheinlich letztes Geburtstagsfest hat er geplant. Auch ihre beiden Kinder aus erster Ehe sind eingeladen - die neurotische Irina, der ständig an Geldmangel leidende Gregorius. Sowie zwei mysteriöse Gäste, deren Namen sie nicht kennt. Gleichzeitig geht ein Serienmörder in der Stadt um - es braut sich etwas zusammen unter dem Himmel von London ...
Vollständig gelesen von Dietmar Bär, Walter Kreye und Simone Kabst.
(2 mp3-CDs, Laufzeit: 16h)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2014Das Leben, der Mord und die Liebe
Håkan Nessers Krimis haben in Deutschland Millionen Leser. Dabei fand der frühere Lehrer nur durch Zufall zu den Storys um Kommissare und Mörder. Sein neuer Plan: ein Berlin-Buch.
VON JULIA SCHAAF
Nehmen wir an, wir müssten für eine Geschichte einen erfolgreichen schwedischen Krimiautor erfinden. Weil diese Geschichte leider nicht in Schweden spielt, wo wir den Mann vor ein rotes Holzhäuschen mit weißen Kanten an einen See setzen könnten, plazieren wir ihn auf einer Bühne in Berlin-Mitte. Der große Saal ist - natürlich - voll, der Applaus am Ende wird laut und herzlich sein.
Unser Schriftsteller sitzt zwischen einer Moderatorin und einem deutschen "Tatort"-Kommissar, die er beide um fast einen Kopf überragt. Er trägt ein zerknittertes Sakko, das helle Hemd hängt über dem Hosenbund. Sein Haar ist ergraut, die Stirn hoch. Wenn er redet, sagt er niveauvolle Dinge, die trotzdem unterhaltsam sind. Ein bisschen Petterson, ein bisschen Michel aus Lönneberga - was wir von Schweden halt so erwarten. Dann liest der Fernsehkommissar - nennen wir ihn Dietmar Bär - aus dem neuesten Roman des Schriftstellers. Und während es um aberwitzige Kinderlügen und eine Schulhofklopperei geht, während das Publikum jeden originellen Dreh mit immer freierem Lachen quittiert, stützt der Schriftsteller sein Kinn in die Hand, lauscht seinem Text auf Deutsch und lächelt. Er sieht zufrieden aus.
Selbstverständlich gibt es diesen Schriftsteller. Er heißt Håkan Nesser, und schon allein weil diese Geschichte kein Roman, sondern ein Autorenporträt in einer Zeitung ist, darf man berechtigterweise davon ausgehen, dass dieser freundliche, knapp 64 Jahre alte Mann vergangene Woche tatsächlich auf Lesereise in Deutschland war mit seinem jüngst erschienenen Buch "Himmel über London". Selbstverständlich hat er sich auch mit der Autorin dieses Artikels getroffen, vor der Lesung, in einem Hotel mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Aber da ist diese Sache mit dem "nicht ganz wahrhaftigen Erzähler", wie Nesser es ausdrückt, der in seinem neuen Roman unsere Vorstellungen von Fiktion und Wirklichkeit so durcheinanderwirbelt, dass man sich plötzlich fragt, was eigentlich überhaupt real ist und wer darüber im Zweifelsfall die Kontrolle hat.
Nesser sagt: "Eigentlich hätte das mein letztes Buch werden müssen, weil es eine Art Hommage an das Schreiben, an das Geschichtenerzählen ist. Es ist so wichtig, jemanden zu haben, der erzählt. Ohne Erzähler keine Geschichte."
Der Schriftsteller greift nach dem Buch, das auf dem Sofa herumliegt, und schält den Schutzumschlag mit seinem Namen und dem Gewitterhimmel darauf herunter. Da steht, völlig überraschend, weiß auf schwarz aufs Cover geprägt: "Steven G. Russell. Bekenntnisse eines Schlafwandlers". Schwedische Leser wandten sich an den Verlag, überzeugt, da sei wohl ein Fehler passiert.
Seine Popularität verdankt Nesser Kriminalromanen. Dank den Kommissaren Van Veeteren (zehn Bände) und Barbarotti (fünf Bände) beläuft sich die Håkan-Nesser-Gesamtauflage allein in Deutschland auf 7,5 Millionen Bücher. Sein aktuelles Werk jedoch, sagt der Autor, hätte man vielleicht mit der Warnung versehen sollen, dass es sich nicht um einen Krimi handele: "Ich weiß, dass viele Leute dieses Buch nicht mögen."
Es gibt zwar einen ersten Satz, der auf Agatha Christie anspielt: "Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an." Wenige Zeilen später erfahren wir auch, dass in London ein mysteriöser Serienkiller umgeht. Der Protagonist ist ein reicher Mann, der nicht mehr lange leben wird und seinen 70. Geburtstag plant.
Wenn Nesser jedoch über den Entstehungsprozess des Buchs spricht, sagt er: "Ich wusste, dass es auch einen versteckten Erzähler geben würde, jemanden, der versuchen würde, in seine eigene Geschichte einzudringen, was natürlich nicht geht, was er aber trotzdem versucht, weil sich sein ganzes Leben ums Schreiben, um Geschichten, um Bücher dreht." Nesser weiß nur zu gut, dass er ein Buch geschrieben hat, das leicht zu lesen ist und wegen der Wirrnisse um die Autorenschaft trotzdem kompliziert. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
"Warum lesen wir Romane?", fragt der Autor dann, um sich prompt selbst zu antworten: "Weil wir uns unser Leben wie eine Geschichte wünschen, die man erzählen kann und die Sinn macht. Ich glaube, dass wir, wenn wir uns das Leben per se anschauen, die ganze Zeit Geschichten erzählen. Unser Geist funktioniert so. Wir müssen Geschichten erzählen, um die Wirklichkeit zu verstehen."
Erzählen wir also die Geschichte eines Mannes, der in Uppsala Literatur und Philosophie studiert und 25 Jahre lang begeistert als Schwedischlehrer gearbeitet hat. Mit seinen Schülern inszenierte er Musicals, zu denen er selbst die Texte schrieb. Die Herausforderung: 120 Sechzehnjährige so auf die Bühne zu bringen, dass auch die Schüchternen ihren Auftritt hatten. Vielleicht als Baum. Als Hinterteil einer Kuh.
Sein erstes Buch entstand dann Mitte der Achtziger, nach seiner Scheidung. "Jeder hat früher oder später eine Scheidung", sagt Nesser, und es bleibt unklar, ob das eine zeitgenössische schwedische Wahrheit ist oder der Versuch, Nachfragen abzublocken. Die Kinder jedenfalls, damals fünf und zwölf Jahre alt, lebten wochenweise im Wechsel bei der Mutter und bei ihm, und Nesser hatte plötzlich sieben Abende am Stück frei. Zeit genug, einen Roman zu schreiben, dachte er, und damit war die Idee in der Welt. "Das Schreiben wurde zur Droge. Ich habe seitdem nicht aufgehört."
Dass sein Durchbruch allerdings ein Krimi war, ist Zufall. "Ich hatte einfach eine Geschichte, die ich erzählen wollte, und die ließ sich nur als Krimi erzählen." Es handelte sich um den Auftakt zu seiner Serie um den desillusionierten Kommissar Van Veeteren, von dem Nesser sagt, er habe zu ihm ein Verhältnis wie zu einem Vater gehabt, weil er ihm in gewisser Weise rätselhaft geblieben sei, bis zum letzten Band. Dessen Nachfolger Inspektor Barbarotti bezeichnet der Autor gern als jüngeren Bruder.
Als Schriftsteller steckt er seither in einer Schublade. Vergangenes Jahr stand sogar ein ausgewiesenen Nesser-Nichtkrimi auf der Shortlist für den Schwedischen Krimi-Preis. Dabei ist sein Markenzeichen weniger das Verbrechen als eine Kombination aus atmosphärischer Dichte und exakter Psychologie. Und der schwedische Krimi-Boom - "keine Welle, ein Tsunami", sagt Nesser - geht ihm schon länger auf die Nerven. Nächste Woche wird er in London an einer Diskussion über das Phänomen "Nordic Noir" teilnehmen, wobei seine These ist, dass schwedische Krimis im Ausland aus länderspezifischen Gründen gelesen werden. Großbritannien zum Beispiel ergötze sich am Niedergang des einst beneideten schwedischen Wohlfahrtsstaats. Amerikaner verwechselten zwar Schweden und die Schweiz, wüssten aber dank Ingmar Bergman, der typische Schwede sei depressiv, niedergeschlagen, finster. "Wir geben gute Mörder ab", sagt Nesser und lacht fröhlich. Dieser Mann ist eindeutig nichts dergleichen.
In Deutschland unterdessen wachse man mit Astrid Lindgren auf und habe daher das Gefühl, Schweden gut zu kennen. Das Land sei einem vertraut, ohne Heimat zu sein. Wenn über diese heile, freundliche Welt dann das Verbrechen hereinbreche, sei die Dramatik entsprechend groß.
"Das Genre an sich ist nicht verkehrt", sagt Nesser und meint zweierlei. Ein Mord erzeuge fast automatisch die Spannung, die eine gute Geschichte ausmache: Was ist passiert? Was wird passieren? Und wo der Tod präsent sei, drängten sich existentielle Fragen nach dem Leben förmlich auf. In den Jahren vor 1998, als Nesser zugleich Lehrer und Autor war, fragten ihn seine Schüler manchmal, worüber er als Nächstes schreiben werde. "Das Leben, den Tod und die Liebe", antwortete er dann. Seine Schüler fanden das gut.
Später ist die Auseinandersetzung mit Gott dazugekommen. Mit dem hatte Inspektor Barbarotti nämlich eine charmante Wette, derzufolge die Existenz des Herrn durch ein Punktesystem bewiesen werden sollte. Håkan Nesser, einst eingefleischter Atheist, sagt heute: "Ich glaube, dass es da oben jemanden gibt, der uns mag." Dieser Sinneswandel geht auf seine zweite Frau zurück, eine Psychiaterin mit deutschen Wurzeln, die zehn Jahre jünger ist als er. Sie habe zwar nicht für die große Liebe seines Kommissars Pate gestanden, so Nesser. Aber ähnlich wie diese habe auch sie einen Glauben.
Die Geschichte von Nessers Kindheit lässt sich ebenfalls aus seinen Büchern herauslesen. Jedenfalls ansatzweise. Zwar geht es nie direkt um den Sohn eines belesenen Bauern, der lieber kein Bauer gewesen wäre. Aber Nessers vielleicht schönste Bücher "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" sowie "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" spielen beide in derselben Gegend und derselben Zeit wie Nessers Jugend, weshalb er sie "autogeographisch" nennt. Natürlich gibt es Ermittler in diesen Romanen und einen Mord - eigentlich aber dreht sich alles um das Gefühl, in einem flirrenden Sommer erwachsen zu werden.
"In einer schwedischen Kleinstadt der fünfziger, sechziger Jahre aufzuwachsen war eine sehr sichere Sache", sagt Nesser, diesmal tatsächlich über sich selbst, und fügt an: "Keine großen Traumata." Dann aber spricht er von dem Geist der Sixties, der aus England herüberwehte, von der Musik, der sexuellen Revolution und von dem pubertären Größenwahn, die gesellschaftliche Entwicklung sei unmittelbar mit dem eigenen Leben verknüpft. Besonders das "Piccadilly"-Buch transportiert dieses Gefühl. So wie dessen Protagonist hat Nesser in den Sommern 1966 und 1967 wochenlang gejobbt, um dann die zweite Hälfte der Ferien in London zu verbringen, Rock-Konzerte besuchend und so sparsam wie möglich lebend, um diesen Glückszustand maximal auszudehnen. Nicht zufällig enthält auch Nessers aktuelles London-Buch etwas von dem aufgekratzten Knistern jener Zeit.
Ein Gang über den Gendarmenmarkt, um Fotos zu machen. Håkan Nesser erzählt, dass er im April einen Monat in Deutschland recherchieren wolle für das Berlin-Buch, das er schon seit Jahren plane - als Abschluss einer Trilogie, nach Romanen, die er in und über New York und eben London schrieb. Gerade seien die ersten fünfzig Seiten fertig geworden. Es gehe darin um einen nicht allzu gescheiten Mann, der sich mit Mitte dreißig aufmache, in Berlin seine verschollene Mutter zu suchen. Und je nachdem, wo genau der Verlag eine Wohnung für ihn finde, werde die Geschichte spielen. Letztlich sei das ohnehin egal. "Der Erzähler lenkt den Leser. Die Geschichte lenkt den Erzähler", heißt es immer wieder auf den Seiten des London-Buchs.
Nehmen wir an, wir würden einen schwedischen Krimiautor erfinden, der auch in diesem Sinne auf höhere Mächte vertraut, wir würden ihn uns als glücklichen Mann vorstellen.
"Himmel über London" ist im btb Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Håkan Nessers Krimis haben in Deutschland Millionen Leser. Dabei fand der frühere Lehrer nur durch Zufall zu den Storys um Kommissare und Mörder. Sein neuer Plan: ein Berlin-Buch.
VON JULIA SCHAAF
Nehmen wir an, wir müssten für eine Geschichte einen erfolgreichen schwedischen Krimiautor erfinden. Weil diese Geschichte leider nicht in Schweden spielt, wo wir den Mann vor ein rotes Holzhäuschen mit weißen Kanten an einen See setzen könnten, plazieren wir ihn auf einer Bühne in Berlin-Mitte. Der große Saal ist - natürlich - voll, der Applaus am Ende wird laut und herzlich sein.
Unser Schriftsteller sitzt zwischen einer Moderatorin und einem deutschen "Tatort"-Kommissar, die er beide um fast einen Kopf überragt. Er trägt ein zerknittertes Sakko, das helle Hemd hängt über dem Hosenbund. Sein Haar ist ergraut, die Stirn hoch. Wenn er redet, sagt er niveauvolle Dinge, die trotzdem unterhaltsam sind. Ein bisschen Petterson, ein bisschen Michel aus Lönneberga - was wir von Schweden halt so erwarten. Dann liest der Fernsehkommissar - nennen wir ihn Dietmar Bär - aus dem neuesten Roman des Schriftstellers. Und während es um aberwitzige Kinderlügen und eine Schulhofklopperei geht, während das Publikum jeden originellen Dreh mit immer freierem Lachen quittiert, stützt der Schriftsteller sein Kinn in die Hand, lauscht seinem Text auf Deutsch und lächelt. Er sieht zufrieden aus.
Selbstverständlich gibt es diesen Schriftsteller. Er heißt Håkan Nesser, und schon allein weil diese Geschichte kein Roman, sondern ein Autorenporträt in einer Zeitung ist, darf man berechtigterweise davon ausgehen, dass dieser freundliche, knapp 64 Jahre alte Mann vergangene Woche tatsächlich auf Lesereise in Deutschland war mit seinem jüngst erschienenen Buch "Himmel über London". Selbstverständlich hat er sich auch mit der Autorin dieses Artikels getroffen, vor der Lesung, in einem Hotel mit Blick auf den Gendarmenmarkt.
Aber da ist diese Sache mit dem "nicht ganz wahrhaftigen Erzähler", wie Nesser es ausdrückt, der in seinem neuen Roman unsere Vorstellungen von Fiktion und Wirklichkeit so durcheinanderwirbelt, dass man sich plötzlich fragt, was eigentlich überhaupt real ist und wer darüber im Zweifelsfall die Kontrolle hat.
Nesser sagt: "Eigentlich hätte das mein letztes Buch werden müssen, weil es eine Art Hommage an das Schreiben, an das Geschichtenerzählen ist. Es ist so wichtig, jemanden zu haben, der erzählt. Ohne Erzähler keine Geschichte."
Der Schriftsteller greift nach dem Buch, das auf dem Sofa herumliegt, und schält den Schutzumschlag mit seinem Namen und dem Gewitterhimmel darauf herunter. Da steht, völlig überraschend, weiß auf schwarz aufs Cover geprägt: "Steven G. Russell. Bekenntnisse eines Schlafwandlers". Schwedische Leser wandten sich an den Verlag, überzeugt, da sei wohl ein Fehler passiert.
Seine Popularität verdankt Nesser Kriminalromanen. Dank den Kommissaren Van Veeteren (zehn Bände) und Barbarotti (fünf Bände) beläuft sich die Håkan-Nesser-Gesamtauflage allein in Deutschland auf 7,5 Millionen Bücher. Sein aktuelles Werk jedoch, sagt der Autor, hätte man vielleicht mit der Warnung versehen sollen, dass es sich nicht um einen Krimi handele: "Ich weiß, dass viele Leute dieses Buch nicht mögen."
Es gibt zwar einen ersten Satz, der auf Agatha Christie anspielt: "Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an." Wenige Zeilen später erfahren wir auch, dass in London ein mysteriöser Serienkiller umgeht. Der Protagonist ist ein reicher Mann, der nicht mehr lange leben wird und seinen 70. Geburtstag plant.
Wenn Nesser jedoch über den Entstehungsprozess des Buchs spricht, sagt er: "Ich wusste, dass es auch einen versteckten Erzähler geben würde, jemanden, der versuchen würde, in seine eigene Geschichte einzudringen, was natürlich nicht geht, was er aber trotzdem versucht, weil sich sein ganzes Leben ums Schreiben, um Geschichten, um Bücher dreht." Nesser weiß nur zu gut, dass er ein Buch geschrieben hat, das leicht zu lesen ist und wegen der Wirrnisse um die Autorenschaft trotzdem kompliziert. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
"Warum lesen wir Romane?", fragt der Autor dann, um sich prompt selbst zu antworten: "Weil wir uns unser Leben wie eine Geschichte wünschen, die man erzählen kann und die Sinn macht. Ich glaube, dass wir, wenn wir uns das Leben per se anschauen, die ganze Zeit Geschichten erzählen. Unser Geist funktioniert so. Wir müssen Geschichten erzählen, um die Wirklichkeit zu verstehen."
Erzählen wir also die Geschichte eines Mannes, der in Uppsala Literatur und Philosophie studiert und 25 Jahre lang begeistert als Schwedischlehrer gearbeitet hat. Mit seinen Schülern inszenierte er Musicals, zu denen er selbst die Texte schrieb. Die Herausforderung: 120 Sechzehnjährige so auf die Bühne zu bringen, dass auch die Schüchternen ihren Auftritt hatten. Vielleicht als Baum. Als Hinterteil einer Kuh.
Sein erstes Buch entstand dann Mitte der Achtziger, nach seiner Scheidung. "Jeder hat früher oder später eine Scheidung", sagt Nesser, und es bleibt unklar, ob das eine zeitgenössische schwedische Wahrheit ist oder der Versuch, Nachfragen abzublocken. Die Kinder jedenfalls, damals fünf und zwölf Jahre alt, lebten wochenweise im Wechsel bei der Mutter und bei ihm, und Nesser hatte plötzlich sieben Abende am Stück frei. Zeit genug, einen Roman zu schreiben, dachte er, und damit war die Idee in der Welt. "Das Schreiben wurde zur Droge. Ich habe seitdem nicht aufgehört."
Dass sein Durchbruch allerdings ein Krimi war, ist Zufall. "Ich hatte einfach eine Geschichte, die ich erzählen wollte, und die ließ sich nur als Krimi erzählen." Es handelte sich um den Auftakt zu seiner Serie um den desillusionierten Kommissar Van Veeteren, von dem Nesser sagt, er habe zu ihm ein Verhältnis wie zu einem Vater gehabt, weil er ihm in gewisser Weise rätselhaft geblieben sei, bis zum letzten Band. Dessen Nachfolger Inspektor Barbarotti bezeichnet der Autor gern als jüngeren Bruder.
Als Schriftsteller steckt er seither in einer Schublade. Vergangenes Jahr stand sogar ein ausgewiesenen Nesser-Nichtkrimi auf der Shortlist für den Schwedischen Krimi-Preis. Dabei ist sein Markenzeichen weniger das Verbrechen als eine Kombination aus atmosphärischer Dichte und exakter Psychologie. Und der schwedische Krimi-Boom - "keine Welle, ein Tsunami", sagt Nesser - geht ihm schon länger auf die Nerven. Nächste Woche wird er in London an einer Diskussion über das Phänomen "Nordic Noir" teilnehmen, wobei seine These ist, dass schwedische Krimis im Ausland aus länderspezifischen Gründen gelesen werden. Großbritannien zum Beispiel ergötze sich am Niedergang des einst beneideten schwedischen Wohlfahrtsstaats. Amerikaner verwechselten zwar Schweden und die Schweiz, wüssten aber dank Ingmar Bergman, der typische Schwede sei depressiv, niedergeschlagen, finster. "Wir geben gute Mörder ab", sagt Nesser und lacht fröhlich. Dieser Mann ist eindeutig nichts dergleichen.
In Deutschland unterdessen wachse man mit Astrid Lindgren auf und habe daher das Gefühl, Schweden gut zu kennen. Das Land sei einem vertraut, ohne Heimat zu sein. Wenn über diese heile, freundliche Welt dann das Verbrechen hereinbreche, sei die Dramatik entsprechend groß.
"Das Genre an sich ist nicht verkehrt", sagt Nesser und meint zweierlei. Ein Mord erzeuge fast automatisch die Spannung, die eine gute Geschichte ausmache: Was ist passiert? Was wird passieren? Und wo der Tod präsent sei, drängten sich existentielle Fragen nach dem Leben förmlich auf. In den Jahren vor 1998, als Nesser zugleich Lehrer und Autor war, fragten ihn seine Schüler manchmal, worüber er als Nächstes schreiben werde. "Das Leben, den Tod und die Liebe", antwortete er dann. Seine Schüler fanden das gut.
Später ist die Auseinandersetzung mit Gott dazugekommen. Mit dem hatte Inspektor Barbarotti nämlich eine charmante Wette, derzufolge die Existenz des Herrn durch ein Punktesystem bewiesen werden sollte. Håkan Nesser, einst eingefleischter Atheist, sagt heute: "Ich glaube, dass es da oben jemanden gibt, der uns mag." Dieser Sinneswandel geht auf seine zweite Frau zurück, eine Psychiaterin mit deutschen Wurzeln, die zehn Jahre jünger ist als er. Sie habe zwar nicht für die große Liebe seines Kommissars Pate gestanden, so Nesser. Aber ähnlich wie diese habe auch sie einen Glauben.
Die Geschichte von Nessers Kindheit lässt sich ebenfalls aus seinen Büchern herauslesen. Jedenfalls ansatzweise. Zwar geht es nie direkt um den Sohn eines belesenen Bauern, der lieber kein Bauer gewesen wäre. Aber Nessers vielleicht schönste Bücher "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" sowie "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" spielen beide in derselben Gegend und derselben Zeit wie Nessers Jugend, weshalb er sie "autogeographisch" nennt. Natürlich gibt es Ermittler in diesen Romanen und einen Mord - eigentlich aber dreht sich alles um das Gefühl, in einem flirrenden Sommer erwachsen zu werden.
"In einer schwedischen Kleinstadt der fünfziger, sechziger Jahre aufzuwachsen war eine sehr sichere Sache", sagt Nesser, diesmal tatsächlich über sich selbst, und fügt an: "Keine großen Traumata." Dann aber spricht er von dem Geist der Sixties, der aus England herüberwehte, von der Musik, der sexuellen Revolution und von dem pubertären Größenwahn, die gesellschaftliche Entwicklung sei unmittelbar mit dem eigenen Leben verknüpft. Besonders das "Piccadilly"-Buch transportiert dieses Gefühl. So wie dessen Protagonist hat Nesser in den Sommern 1966 und 1967 wochenlang gejobbt, um dann die zweite Hälfte der Ferien in London zu verbringen, Rock-Konzerte besuchend und so sparsam wie möglich lebend, um diesen Glückszustand maximal auszudehnen. Nicht zufällig enthält auch Nessers aktuelles London-Buch etwas von dem aufgekratzten Knistern jener Zeit.
Ein Gang über den Gendarmenmarkt, um Fotos zu machen. Håkan Nesser erzählt, dass er im April einen Monat in Deutschland recherchieren wolle für das Berlin-Buch, das er schon seit Jahren plane - als Abschluss einer Trilogie, nach Romanen, die er in und über New York und eben London schrieb. Gerade seien die ersten fünfzig Seiten fertig geworden. Es gehe darin um einen nicht allzu gescheiten Mann, der sich mit Mitte dreißig aufmache, in Berlin seine verschollene Mutter zu suchen. Und je nachdem, wo genau der Verlag eine Wohnung für ihn finde, werde die Geschichte spielen. Letztlich sei das ohnehin egal. "Der Erzähler lenkt den Leser. Die Geschichte lenkt den Erzähler", heißt es immer wieder auf den Seiten des London-Buchs.
Nehmen wir an, wir würden einen schwedischen Krimiautor erfinden, der auch in diesem Sinne auf höhere Mächte vertraut, wir würden ihn uns als glücklichen Mann vorstellen.
"Himmel über London" ist im btb Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.01.2014DIE KRIMI-KOLUMNE
Er weiß das, er kann das
Der Roman „Himmel über London“ untermauert Håkan Nessers Rang
Alessandro Barrico, italienischer Kollege und Zeitgenosse von Håkan Nesser, hat die Sache mit den Büchern und der Rasur geklärt (man wird eine Nassrasur anzunehmen haben): „Wenn man Bücher nicht in der Zeit erzählen kann, die eine Rasur dauert, dann sind sie Literatur. Und die ist nichts für uns. Lesen Sie?“
Barricos Bonmot ist dem „Himmel über London“ als Motto mitgegeben worden – die knapp 600 Seiten des Romans dauern ein paar Rasuren lang. Nein, weder van Veeteren (der erste Kommissar des – auch – erstrangigen Krimischreibers Nesser) noch Barbarotti (der zweite Kommissar) tauchen hier auf und in einen besonders langwierigen Fall ein. Und wer der Meinung ist, einen dicken Roman müsse man unter allen Umständen im Sinne von „der Reihe nach“ lesen, dann käme da schon Sinn rein, der kann das auch mit diesem Buch tun. Man kann sich aber auch, „der Reihe nach“ daran gewöhnen, dass Nesser mit diesem Buch seinem seit Jahrzehnten geduldig untersuchten Gegenstand, dem Verhältnis von Zeit und Zufall und was beide vielleicht mit innerem Zwang oder äußerer Notwendigkeit zu tun haben, besonders nahekommt.
Ein alter Mann, Leonard, kommt auf die Idee, einen überschaubaren Kreis von Menschen zu seinem siebzigsten Geburtstag nach London einzuladen. Er lässt sie kommod einfliegen und ebenso wohnen und warten bis zum Fest. Es ist früher Herbst, wir schreiben wohl etwa das Jahr 2009. Es wird vermutlich Leonards letzter Geburtstag sein, denn er ist schwerkrank. Übrigens auch schwerreich. Es sind die zwei Kinder seiner Frau Maud geladen (Gregorius und Maud), die Verwandtschaftsverhältnisse eines weiteren Gastes, eines jungen Mannes mit Namen Milos, klären sich später, und in so einem Arrangement kann und darf ein Vertrauter und Rechtsanwalt nicht fehlen – hier heißt er Pendergast.
Diese Geschichte ist die Trägermasse des Romans, und sie endet mit dem Geburtstagsessen, in dessen spätem Verlauf auch ein Testament ge- und eröffnet wird. Der Gerechte (Milos) bekommt seinen Lohn, der Saufkopp Gregorius wird damit bestraft, dass er leer ausgeht, auch seine von psychophysischem Waschzwang befallene Schwester Maud kriegt kein Geld, steht aber dennoch nicht mit ganz und gar leeren Händen da, denn eine spät ans Licht kommende Fahrerinnenflucht mit Todesfolge ist nun mal keine Bagatelle.
Vom Arrangement war schon die Rede – das ist immer am besten, wenn keine der an ihm arbeitenden und ihm ausgelieferten Figuren etwas davon merkt. Die Gefährdung dieses Erzählens aber besteht darin, dass es in weiten Schleifen mäandert, so gemächlich, als sollte sich der Fluss der Narration in ein stehendes Gewässer verwandeln, einen stillen See mit einer großen, spiegelblanken Fläche.
Das gelbe Notizbuch Leonards ist sicher die größte Schleife dieser Art im „Himmel über London“ – die Liebesgeschichte zwischen Leonard und Carla, der Prager Frühling und Spionage unter noch umfassend analogen Informationsverhältnissen spielen darin eine Rolle. Auch das gelbe Notizbuch kann man „der Reihe nach“ lesen; dann entwischen einem allerdings so lebensnahe Ratschläge wie zum Beispiel dieser, dass man als junger Londoner Buchhändler mit schlechtem Lohn pro Tag ein Buch klauen sollte, um wenigstens mit der Zeit eine halbwegs angemessene Bibliothek zu besitzen. Die Zeiten des Prager Frühlings im gelben Notizbuch mischen sich chronologisch und so ganz sachte wie auf Samtpfoten mit der anderen Erzählung im Roman.
Lars Gustav Selén ist deren Hauptfigur, Sohn eines einzigartigen Lügners und Bahnhofvorstehers, der in den Fünfzigerjahren in einer anonymen Stadt K. in Schweden aufwuchs. K. ist Nesser-Lesern bekannt, in manchen Büchern heißt es auch Kymlinge und liegt wohl im weiten Land zwischen Göteborg und dem Vänernsee, gar nicht so weit von der Gegend, in der Nesser aufwuchs. Der kleine Selén kriegt einen ersten Knick in die Biografie, als er mit den Lügengeschichten seines Vaters in der Schule Eindruck machen will. Eine ging so: „Es gab einen Deutschen, der hieß Hitler. Das war ein Stümper, der nur drei Zehen an jedem Fuß hatte. Die Leute glauben, er wäre tot, aber er hat einen Tabakladen in Bengtsfors“.
Im weiteren Verlauf des Romans wird nicht viel aus Selén, aber er fängt an zu lieben (sie heißt Rigmor, nennt sich Carla, verschwindet auf Nimmerwiedersehen für Selén – eine Abiturreise ohne ihn, denn er hat Scharlach bekommen –, taucht ab in London). Dann fährt er Taxi. Dann fängt er an zu lesen. Und dann zu schreiben. Und weil es in dem Roman, den er schreibt, auch um London geht, wird er zum finalen Arrangeur des Ausgangs der Kerngeschichte. Obwohl noch ein weiterer Roman, den Maud in ihrem Hotelnachttisch findet, in die Geschichte um das Geburtstagsessen mit Testamentseröffnung massiv eingreift.
„Doch ein Ereignis zieht das andere nach sich wie der Magnet Eisenspäne.“ Dass die Eisenspäne sich ebenso unausweichlich verhalten wie sie in diesem ihren Verhalten mit dem scharfen, tiefen Blick eines Schriftstellers beschrieben werden können – Nesser weiß das, Nesser kann das. Und wer ihn aus der Schublade Krimiautor herausnehmen und mit dem „Himmel über London“ in die Schublade des pikaresken Autors hineinsetzen möchte, der sollte das lieber lassen und sich stattdessen mit einem großen Schriftsteller in der epischen Tradition Skandinaviens anfreunden.
STEPHAN OPITZ
Håkan Nesser: Himmel über London. Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2013. 576 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Er weiß das, er kann das
Der Roman „Himmel über London“ untermauert Håkan Nessers Rang
Alessandro Barrico, italienischer Kollege und Zeitgenosse von Håkan Nesser, hat die Sache mit den Büchern und der Rasur geklärt (man wird eine Nassrasur anzunehmen haben): „Wenn man Bücher nicht in der Zeit erzählen kann, die eine Rasur dauert, dann sind sie Literatur. Und die ist nichts für uns. Lesen Sie?“
Barricos Bonmot ist dem „Himmel über London“ als Motto mitgegeben worden – die knapp 600 Seiten des Romans dauern ein paar Rasuren lang. Nein, weder van Veeteren (der erste Kommissar des – auch – erstrangigen Krimischreibers Nesser) noch Barbarotti (der zweite Kommissar) tauchen hier auf und in einen besonders langwierigen Fall ein. Und wer der Meinung ist, einen dicken Roman müsse man unter allen Umständen im Sinne von „der Reihe nach“ lesen, dann käme da schon Sinn rein, der kann das auch mit diesem Buch tun. Man kann sich aber auch, „der Reihe nach“ daran gewöhnen, dass Nesser mit diesem Buch seinem seit Jahrzehnten geduldig untersuchten Gegenstand, dem Verhältnis von Zeit und Zufall und was beide vielleicht mit innerem Zwang oder äußerer Notwendigkeit zu tun haben, besonders nahekommt.
Ein alter Mann, Leonard, kommt auf die Idee, einen überschaubaren Kreis von Menschen zu seinem siebzigsten Geburtstag nach London einzuladen. Er lässt sie kommod einfliegen und ebenso wohnen und warten bis zum Fest. Es ist früher Herbst, wir schreiben wohl etwa das Jahr 2009. Es wird vermutlich Leonards letzter Geburtstag sein, denn er ist schwerkrank. Übrigens auch schwerreich. Es sind die zwei Kinder seiner Frau Maud geladen (Gregorius und Maud), die Verwandtschaftsverhältnisse eines weiteren Gastes, eines jungen Mannes mit Namen Milos, klären sich später, und in so einem Arrangement kann und darf ein Vertrauter und Rechtsanwalt nicht fehlen – hier heißt er Pendergast.
Diese Geschichte ist die Trägermasse des Romans, und sie endet mit dem Geburtstagsessen, in dessen spätem Verlauf auch ein Testament ge- und eröffnet wird. Der Gerechte (Milos) bekommt seinen Lohn, der Saufkopp Gregorius wird damit bestraft, dass er leer ausgeht, auch seine von psychophysischem Waschzwang befallene Schwester Maud kriegt kein Geld, steht aber dennoch nicht mit ganz und gar leeren Händen da, denn eine spät ans Licht kommende Fahrerinnenflucht mit Todesfolge ist nun mal keine Bagatelle.
Vom Arrangement war schon die Rede – das ist immer am besten, wenn keine der an ihm arbeitenden und ihm ausgelieferten Figuren etwas davon merkt. Die Gefährdung dieses Erzählens aber besteht darin, dass es in weiten Schleifen mäandert, so gemächlich, als sollte sich der Fluss der Narration in ein stehendes Gewässer verwandeln, einen stillen See mit einer großen, spiegelblanken Fläche.
Das gelbe Notizbuch Leonards ist sicher die größte Schleife dieser Art im „Himmel über London“ – die Liebesgeschichte zwischen Leonard und Carla, der Prager Frühling und Spionage unter noch umfassend analogen Informationsverhältnissen spielen darin eine Rolle. Auch das gelbe Notizbuch kann man „der Reihe nach“ lesen; dann entwischen einem allerdings so lebensnahe Ratschläge wie zum Beispiel dieser, dass man als junger Londoner Buchhändler mit schlechtem Lohn pro Tag ein Buch klauen sollte, um wenigstens mit der Zeit eine halbwegs angemessene Bibliothek zu besitzen. Die Zeiten des Prager Frühlings im gelben Notizbuch mischen sich chronologisch und so ganz sachte wie auf Samtpfoten mit der anderen Erzählung im Roman.
Lars Gustav Selén ist deren Hauptfigur, Sohn eines einzigartigen Lügners und Bahnhofvorstehers, der in den Fünfzigerjahren in einer anonymen Stadt K. in Schweden aufwuchs. K. ist Nesser-Lesern bekannt, in manchen Büchern heißt es auch Kymlinge und liegt wohl im weiten Land zwischen Göteborg und dem Vänernsee, gar nicht so weit von der Gegend, in der Nesser aufwuchs. Der kleine Selén kriegt einen ersten Knick in die Biografie, als er mit den Lügengeschichten seines Vaters in der Schule Eindruck machen will. Eine ging so: „Es gab einen Deutschen, der hieß Hitler. Das war ein Stümper, der nur drei Zehen an jedem Fuß hatte. Die Leute glauben, er wäre tot, aber er hat einen Tabakladen in Bengtsfors“.
Im weiteren Verlauf des Romans wird nicht viel aus Selén, aber er fängt an zu lieben (sie heißt Rigmor, nennt sich Carla, verschwindet auf Nimmerwiedersehen für Selén – eine Abiturreise ohne ihn, denn er hat Scharlach bekommen –, taucht ab in London). Dann fährt er Taxi. Dann fängt er an zu lesen. Und dann zu schreiben. Und weil es in dem Roman, den er schreibt, auch um London geht, wird er zum finalen Arrangeur des Ausgangs der Kerngeschichte. Obwohl noch ein weiterer Roman, den Maud in ihrem Hotelnachttisch findet, in die Geschichte um das Geburtstagsessen mit Testamentseröffnung massiv eingreift.
„Doch ein Ereignis zieht das andere nach sich wie der Magnet Eisenspäne.“ Dass die Eisenspäne sich ebenso unausweichlich verhalten wie sie in diesem ihren Verhalten mit dem scharfen, tiefen Blick eines Schriftstellers beschrieben werden können – Nesser weiß das, Nesser kann das. Und wer ihn aus der Schublade Krimiautor herausnehmen und mit dem „Himmel über London“ in die Schublade des pikaresken Autors hineinsetzen möchte, der sollte das lieber lassen und sich stattdessen mit einem großen Schriftsteller in der epischen Tradition Skandinaviens anfreunden.
STEPHAN OPITZ
Håkan Nesser: Himmel über London. Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2013. 576 Seiten, 19,99 Euro, E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de