Sechs junge Ärzte beginnen voller Enthusiasmus ihr erstes Klinikjahr im House of God, beseelt von dem Wunsch, Menschen zu helfen. Doch ihre Ideale bleiben schnell auf der Strecke angesichts ihres rastlosen ärztlichen Alltags. Sie lernen die Schattenseiten der modernen Medizin kennen, werden zynisch, verzweifelt oder gleichgültig. Das House of God wird für sie zur Hölle....
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2019Die Bibel der
besseren Medizin
Vor gut 40 Jahren ist „House of God“ erschienen.
Die Anklagen des Buches sind aktueller denn je
VON WERNER BARTENS
Die dreizehnte und letzte Regel des „House of God“ ist für Anfänger besonders irritierend: „Ärztliche Betreuung besteht darin, so wenig wie möglich zu tun.“ Klingt zynisch, gehört aber für jeden Arzt, der nur einen Funken Erfahrung hat, zu den wichtigsten Weisheiten seines Berufsstandes. Schließlich ist das Leiden an überflüssigen Behandlungen und unnötigen Tests eine der größten gesundheitlichen Gefahren, denen die Menschen im wohlhabenden Teil der Welt ausgesetzt sind.
Aufgestellt hat die Regeln für das House of God „der Dicke“ (im Englischen: „The Fat Man“). Dieser alles vertilgende, alles wissende, weltweise Stationsarzt ist der wichtigste Anker für die jungen Assistenzärzte, die ihr erstes Jahr in der Klinik ableisten und im Wahnsinn des Medizinbetriebs unterzugehen drohen. Vor gut 40 Jahren hat der Psychiater Stephen Bergman unter dem Pseudonym Samuel Shem im Roman „The House of God“ seine Erfahrungen als junger Klinikarzt verarbeitet und damit das Standardwerk für jene Ärzte geschaffen, die noch an das Gute im Menschen glauben, nahezu täglich an der Medizin verzweifeln, aber nicht aufgeben und trotzdem weitermachen.
Mehr als drei Millionen Exemplare von „House of God“ wurden mittlerweile verkauft und die Wucht dieses Buches rührt auch daher, dass die Beschreibungen der Zustände auf Station, die Leiden der Patienten und eben auch der jungen Ärzte aktueller sind denn je – und die Bedrohungen für eine gute Medizin eher zu- als abgenommen haben.
Shem hat sein Internship am Beth Israel Hospital abgeleistet, einem der Universität Harvard angegliederten Krankenhaus in Boston, das bis heute als eines der besten der Welt gilt. Doch auch an Eliteuniversitäten und akademischen Lehrkrankenhäusern, die sich mit ihrem Anspruch auf Maximalversorgung brüsten, wird oft eine Medizin betrieben, die nicht den Patienten nutzt, sondern schadet.
Shem beschreibt ökonomische Fehlanreize, blinden Fortschrittsfuror und die Eitelkeit des Führungspersonals, die Patienten zum Opfer unnötiger Tests und Therapien machen. Weil diese Attacken auf eine rationale, patientenorientierte Medizin immer heftiger werden, hat das Fachmagazin JAMA das 40-jährige Jubiläum von „House of God“ zum Anlass genommen, daran die drängendsten Probleme der Medizin aufzuzeigen – und die Belastungen nicht zu vergessen, denen junge Ärzte im Beruf oftmals ausgesetzt sind.
Erst in jüngster Zeit wird erkannt, dass es in Kliniken auch um die Gesundheit des medizinischen Personals gehen sollte, dabei lautet Regel Nummer acht im „House of God“ bereits, „Sie können dich immer noch mehr quälen“ – und es ist klar, dass damit nicht nur die Patienten, sondern eher die Oberärzte, Chefärzte und das kaufmännische Personal der Krankenhäuser gemeint ist.
Kritikern der Medizin wie Shem wurde und wird Übertreibung, Sarkasmus oder die Abrechnung eines frustrierten Arztes mit dem System vorgeworfen. Darum handelt es sich keineswegs. Erst in den frühen 1990er Jahren begann sich die Evidenzbasierte Medizin (EbM) mit ihren Cochrane-Zentren und Netzwerken zu etablieren und es hat bis 2011 gedauert, bis sich Dutzende Fachverbände in der Initiative „Choosing Wisely“ zusammengeschlossen haben, um die unnötigen, gefährlichen und überflüssigen Usancen der Branche zu brandmarken und für jedes Fach Top-5-Listen mit jenen Operationen und Untersuchungen aufzustellen, die unterbleiben sollten. Immer noch kämpfen Vertreter von EbM und Choosing Wisely um Gehör, immer noch kämpfen sie einen ungleichen Kampf gegen die Profitgier vieler Klinikleitungen und die Lobbyarbeit der Berufsverbände und Krankenhausgesellschaften.
In „House of God“ war das alles vor 40 Jahren schon zu lesen. „Die Dummen waren die Patienten, vor allem die Gomer“, schreibt Shem, wobei Gomer die verwirrten Dauerpatienten meint und das Akronym für „Get Out of My Emergency Room“ ist, eine der unsterblichen Wortschöpfungen des Buches, die bis heute jeder Arzt kennt. „Je mehr ich unternahm, umso schlechter ging es ihnen.“ Shem schildert eine alte Dame mit Demenz, der es vor der Behandlung gut ging. Diese reizende Patientin, also eine LAD in GAZ („Liebe alte Dame in gutem Allgemeinzustand“), ist eigentlich gesund, nur hat sie das Pech, in einem Krankenhaus der Maximalversorgung gelandet zu sein.
„Nun wurde sie in den heißen Augustwochen im ganzen Haus herumgeschubst. Schädeluntersuchungen hier, Liquorpunktionen dort. Es ging ihr immer schlechter, viel schlechter. Unter dem Stress der Demenzuntersuchungen klappten ihre Organe eins nach dem anderen zusammen wie bei einem Dominospiel. Die radioaktive Kontrastflüssigkeit für ihre Hirnszintigrafie ließ ihre Nieren versagen und die Kontrastflüssigkeit für die Untersuchung ihrer Nieren überlastete ihr Herz. Die Medikamente für ihr Herz ließen sie erbrechen, wodurch ihr Elektrolythaushalt auf lebensgefährliche Weise gestört wurde. Dadurch verstärkte sich ihre Demenz und ihr Verdauungssystem setzte aus. Eine Kolonpassage war angezeigt, aber die dafür notwendige Darmreinigung dehydrierte sie und ließ ihre gequälten Nieren vollständig versagen. Das führte zur Infektion, zur Dialyse und zu Riesenkomplikationen bei all diesen Riesenerkrankungen.“
Solche Überdiagnosen und Übertherapien kommen in der Hochleistungsmedizin unserer Tage regelmäßig vor und das ist einer der Gründe, warum man zwischen 1980 und 2019 nicht seinen Dienst als Assistenzarzt in einer deutschen Klinik antreten konnte, ohne in einem Arztzimmer die Regeln des „House of God“ an der Pinnwand zu finden. Nirgendwo findet sich so gut beschrieben, wie innerhalb kurzer Zeit aus idealistischen Ärzten zynische Wracks werden, die abstumpfen, überfordert sind, beziehungsunfähig werden und alles dafür tun, um nicht noch mehr Patienten mit noch mehr unnötigen Interventionen traktieren zu müssen. Dass Patienten „geturft“ werden, also gar nicht erst aufgenommen oder auf andere Stationen abgeschoben, ist ebenso Teil des medizinischen Vokabulars geworden wie das „Bounce back“, also das Zurückprallen, wenn andere Abteilungen einen Grund zur Rückverlegung finden. Ärzte kennen diese Begriffe nicht nur, weil sie sprachlich treffend sind, sondern weil sie die traurige Realität in vielen Krankenhäusern wiedergeben.
„Im Fahrstuhl sahen die Leute mich an, versuchten, mein Namensschild zu lesen. Sie wussten, dass ich Arzt war. Ich war stolz auf mein Stethoskop, auf das Blut an meinem Ärmel“, so schildert Dr. Roy Bash, das Alter Ego des Autors, seine ersten Tage in der altehrwürdigen Klinik. Bash und seine jungen Kollegen betäuben sich mit Drogen, Alkohol und schnellem Sex im Gipsraum; jeder hat andere mäßig erfolgreiche Fluchtstrategien, einer der jungen Assistenzärzte begeht Suizid.
„Der Dicke“, dieser maßlose Seelenmensch, dessen Traum es ist, eine private Proktologenpraxis in Hollywood zu eröffnen („Durch den Enddarm zu den Sternen“), hilft Bash, das furchtbare Jahr zu überstehen, aber am Ende ist es die Freundin des jungen Protagonistin, die ihn rettet. Im richtigen Leben wurde die im Buch Porträtierte zur Ehefrau des Autors, mit der er bis heute verheiratet ist. „Es ist unmenschlich gewesen“, sagt sie. „Kein Wunder, dass Ärzte den bittersten, menschlichen Dramen so distanziert gegenüberstehen. Die Tragödie liegt im Mangel an Tiefe. Die meisten Menschen haben irgendeine menschliche Reaktion auf ihre tägliche Arbeit. Ärzte nicht. Es ist ein unglaubliches Paradoxon, dass der Arztberuf so degradierend ist und gleichzeitig von der Gesellschaft so hoch eingestuft wird. In jeder Gemeinschaft sind die Ärzte die angesehenste Gruppe.“
Um die Schwärmer für eine gute Medizin, die lange Hoffenden und dann Enttäuschten, die sich trotzdem nicht abfinden wollen, dass die Ideale ihres Fach mit Füßen getreten werden, zu ermutigen, hat Samuel Shem alias Stephen Bergman seine ärztlichen Kollegen von damals jüngst zusammengerufen. Die Gruppe der im Buch nur leicht fiktionalisierten Charaktere ist heute Mitte 70 und die für das Fachblatt JAMA erstellte Filmdokumentation zeigt, wie Medizin sein sollte. Bergman war später Harvard-Psychiater, seine Kollegen haben beachtliche Karrieren in der Medizin hingelegt – sie alle beklagen die entwürdigenden Umstände im Krankenhausbetrieb, die Habgier der Privat- und Belegärzte, die Ignoranz der Krankenhausleitungen und das ökonomische Diktat der Klinikketten und Gesundheitspolitiker.
Shem kämpft auch mit 75 weiter für eine humanere Medizin, demnächst wird sein nächster Roman erscheinen. Und er will Ärzten wie Patienten die Augen dafür öffnen, dass elektronische Gesundheitsakte und Big Data in der Medizin nur der besseren Abrechnung im Krankenhaus dienen und als Investitionsschub für die IT-Branche – aber nicht den Patienten.
Regel Nummer vier erinnert die Ärzte in „House of God“ an die konventionelle Rollenaufteilung: „Der Patient ist derjenige, der krank ist“, und ermahnt sie, Regel drei, „Bei Herzstillstand zuerst den eigenen Puls fühlen“. Das ist als Überlebensstrategie für junge Ärzte immer noch richtig. Mindestens so wichtig wäre es jedoch, eine Therapie für das kranke Medizinsystem zu entwickeln. Wenn es nicht gelingt, die Missstände abzustellen und die Medizin zum Besseren zu verändern, „sodass sie so großartig ist, wie sich selbst immer sieht“, wie der Harvard-Mediziner Jeremy Samuel Faust in JAMA warnt, „dann wird die Kritik und die Popularität von House of God uns alle überdauern“.
Regel Nummer acht:
„Sie können dich immer
noch mehr quälen.“
„Durch den Enddarm zu den
Sternen“: Der Traum von einer
Proktologenpraxis in Hollywood
Ignoranz und Habgier:
Ärzte beklagen die würdelosen
Umstände im Krankenhausbetrieb
Vielleicht doch noch einen Test? Nur zur Sicherheit, um diese eine, wirklich überaus unangenehme Diagnose auszuschließen. Patienten wurden bereits vor Jahrzehnten mit unnötigen Untersuchungen traktiert.
Foto: Getty Images
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besseren Medizin
Vor gut 40 Jahren ist „House of God“ erschienen.
Die Anklagen des Buches sind aktueller denn je
VON WERNER BARTENS
Die dreizehnte und letzte Regel des „House of God“ ist für Anfänger besonders irritierend: „Ärztliche Betreuung besteht darin, so wenig wie möglich zu tun.“ Klingt zynisch, gehört aber für jeden Arzt, der nur einen Funken Erfahrung hat, zu den wichtigsten Weisheiten seines Berufsstandes. Schließlich ist das Leiden an überflüssigen Behandlungen und unnötigen Tests eine der größten gesundheitlichen Gefahren, denen die Menschen im wohlhabenden Teil der Welt ausgesetzt sind.
Aufgestellt hat die Regeln für das House of God „der Dicke“ (im Englischen: „The Fat Man“). Dieser alles vertilgende, alles wissende, weltweise Stationsarzt ist der wichtigste Anker für die jungen Assistenzärzte, die ihr erstes Jahr in der Klinik ableisten und im Wahnsinn des Medizinbetriebs unterzugehen drohen. Vor gut 40 Jahren hat der Psychiater Stephen Bergman unter dem Pseudonym Samuel Shem im Roman „The House of God“ seine Erfahrungen als junger Klinikarzt verarbeitet und damit das Standardwerk für jene Ärzte geschaffen, die noch an das Gute im Menschen glauben, nahezu täglich an der Medizin verzweifeln, aber nicht aufgeben und trotzdem weitermachen.
Mehr als drei Millionen Exemplare von „House of God“ wurden mittlerweile verkauft und die Wucht dieses Buches rührt auch daher, dass die Beschreibungen der Zustände auf Station, die Leiden der Patienten und eben auch der jungen Ärzte aktueller sind denn je – und die Bedrohungen für eine gute Medizin eher zu- als abgenommen haben.
Shem hat sein Internship am Beth Israel Hospital abgeleistet, einem der Universität Harvard angegliederten Krankenhaus in Boston, das bis heute als eines der besten der Welt gilt. Doch auch an Eliteuniversitäten und akademischen Lehrkrankenhäusern, die sich mit ihrem Anspruch auf Maximalversorgung brüsten, wird oft eine Medizin betrieben, die nicht den Patienten nutzt, sondern schadet.
Shem beschreibt ökonomische Fehlanreize, blinden Fortschrittsfuror und die Eitelkeit des Führungspersonals, die Patienten zum Opfer unnötiger Tests und Therapien machen. Weil diese Attacken auf eine rationale, patientenorientierte Medizin immer heftiger werden, hat das Fachmagazin JAMA das 40-jährige Jubiläum von „House of God“ zum Anlass genommen, daran die drängendsten Probleme der Medizin aufzuzeigen – und die Belastungen nicht zu vergessen, denen junge Ärzte im Beruf oftmals ausgesetzt sind.
Erst in jüngster Zeit wird erkannt, dass es in Kliniken auch um die Gesundheit des medizinischen Personals gehen sollte, dabei lautet Regel Nummer acht im „House of God“ bereits, „Sie können dich immer noch mehr quälen“ – und es ist klar, dass damit nicht nur die Patienten, sondern eher die Oberärzte, Chefärzte und das kaufmännische Personal der Krankenhäuser gemeint ist.
Kritikern der Medizin wie Shem wurde und wird Übertreibung, Sarkasmus oder die Abrechnung eines frustrierten Arztes mit dem System vorgeworfen. Darum handelt es sich keineswegs. Erst in den frühen 1990er Jahren begann sich die Evidenzbasierte Medizin (EbM) mit ihren Cochrane-Zentren und Netzwerken zu etablieren und es hat bis 2011 gedauert, bis sich Dutzende Fachverbände in der Initiative „Choosing Wisely“ zusammengeschlossen haben, um die unnötigen, gefährlichen und überflüssigen Usancen der Branche zu brandmarken und für jedes Fach Top-5-Listen mit jenen Operationen und Untersuchungen aufzustellen, die unterbleiben sollten. Immer noch kämpfen Vertreter von EbM und Choosing Wisely um Gehör, immer noch kämpfen sie einen ungleichen Kampf gegen die Profitgier vieler Klinikleitungen und die Lobbyarbeit der Berufsverbände und Krankenhausgesellschaften.
In „House of God“ war das alles vor 40 Jahren schon zu lesen. „Die Dummen waren die Patienten, vor allem die Gomer“, schreibt Shem, wobei Gomer die verwirrten Dauerpatienten meint und das Akronym für „Get Out of My Emergency Room“ ist, eine der unsterblichen Wortschöpfungen des Buches, die bis heute jeder Arzt kennt. „Je mehr ich unternahm, umso schlechter ging es ihnen.“ Shem schildert eine alte Dame mit Demenz, der es vor der Behandlung gut ging. Diese reizende Patientin, also eine LAD in GAZ („Liebe alte Dame in gutem Allgemeinzustand“), ist eigentlich gesund, nur hat sie das Pech, in einem Krankenhaus der Maximalversorgung gelandet zu sein.
„Nun wurde sie in den heißen Augustwochen im ganzen Haus herumgeschubst. Schädeluntersuchungen hier, Liquorpunktionen dort. Es ging ihr immer schlechter, viel schlechter. Unter dem Stress der Demenzuntersuchungen klappten ihre Organe eins nach dem anderen zusammen wie bei einem Dominospiel. Die radioaktive Kontrastflüssigkeit für ihre Hirnszintigrafie ließ ihre Nieren versagen und die Kontrastflüssigkeit für die Untersuchung ihrer Nieren überlastete ihr Herz. Die Medikamente für ihr Herz ließen sie erbrechen, wodurch ihr Elektrolythaushalt auf lebensgefährliche Weise gestört wurde. Dadurch verstärkte sich ihre Demenz und ihr Verdauungssystem setzte aus. Eine Kolonpassage war angezeigt, aber die dafür notwendige Darmreinigung dehydrierte sie und ließ ihre gequälten Nieren vollständig versagen. Das führte zur Infektion, zur Dialyse und zu Riesenkomplikationen bei all diesen Riesenerkrankungen.“
Solche Überdiagnosen und Übertherapien kommen in der Hochleistungsmedizin unserer Tage regelmäßig vor und das ist einer der Gründe, warum man zwischen 1980 und 2019 nicht seinen Dienst als Assistenzarzt in einer deutschen Klinik antreten konnte, ohne in einem Arztzimmer die Regeln des „House of God“ an der Pinnwand zu finden. Nirgendwo findet sich so gut beschrieben, wie innerhalb kurzer Zeit aus idealistischen Ärzten zynische Wracks werden, die abstumpfen, überfordert sind, beziehungsunfähig werden und alles dafür tun, um nicht noch mehr Patienten mit noch mehr unnötigen Interventionen traktieren zu müssen. Dass Patienten „geturft“ werden, also gar nicht erst aufgenommen oder auf andere Stationen abgeschoben, ist ebenso Teil des medizinischen Vokabulars geworden wie das „Bounce back“, also das Zurückprallen, wenn andere Abteilungen einen Grund zur Rückverlegung finden. Ärzte kennen diese Begriffe nicht nur, weil sie sprachlich treffend sind, sondern weil sie die traurige Realität in vielen Krankenhäusern wiedergeben.
„Im Fahrstuhl sahen die Leute mich an, versuchten, mein Namensschild zu lesen. Sie wussten, dass ich Arzt war. Ich war stolz auf mein Stethoskop, auf das Blut an meinem Ärmel“, so schildert Dr. Roy Bash, das Alter Ego des Autors, seine ersten Tage in der altehrwürdigen Klinik. Bash und seine jungen Kollegen betäuben sich mit Drogen, Alkohol und schnellem Sex im Gipsraum; jeder hat andere mäßig erfolgreiche Fluchtstrategien, einer der jungen Assistenzärzte begeht Suizid.
„Der Dicke“, dieser maßlose Seelenmensch, dessen Traum es ist, eine private Proktologenpraxis in Hollywood zu eröffnen („Durch den Enddarm zu den Sternen“), hilft Bash, das furchtbare Jahr zu überstehen, aber am Ende ist es die Freundin des jungen Protagonistin, die ihn rettet. Im richtigen Leben wurde die im Buch Porträtierte zur Ehefrau des Autors, mit der er bis heute verheiratet ist. „Es ist unmenschlich gewesen“, sagt sie. „Kein Wunder, dass Ärzte den bittersten, menschlichen Dramen so distanziert gegenüberstehen. Die Tragödie liegt im Mangel an Tiefe. Die meisten Menschen haben irgendeine menschliche Reaktion auf ihre tägliche Arbeit. Ärzte nicht. Es ist ein unglaubliches Paradoxon, dass der Arztberuf so degradierend ist und gleichzeitig von der Gesellschaft so hoch eingestuft wird. In jeder Gemeinschaft sind die Ärzte die angesehenste Gruppe.“
Um die Schwärmer für eine gute Medizin, die lange Hoffenden und dann Enttäuschten, die sich trotzdem nicht abfinden wollen, dass die Ideale ihres Fach mit Füßen getreten werden, zu ermutigen, hat Samuel Shem alias Stephen Bergman seine ärztlichen Kollegen von damals jüngst zusammengerufen. Die Gruppe der im Buch nur leicht fiktionalisierten Charaktere ist heute Mitte 70 und die für das Fachblatt JAMA erstellte Filmdokumentation zeigt, wie Medizin sein sollte. Bergman war später Harvard-Psychiater, seine Kollegen haben beachtliche Karrieren in der Medizin hingelegt – sie alle beklagen die entwürdigenden Umstände im Krankenhausbetrieb, die Habgier der Privat- und Belegärzte, die Ignoranz der Krankenhausleitungen und das ökonomische Diktat der Klinikketten und Gesundheitspolitiker.
Shem kämpft auch mit 75 weiter für eine humanere Medizin, demnächst wird sein nächster Roman erscheinen. Und er will Ärzten wie Patienten die Augen dafür öffnen, dass elektronische Gesundheitsakte und Big Data in der Medizin nur der besseren Abrechnung im Krankenhaus dienen und als Investitionsschub für die IT-Branche – aber nicht den Patienten.
Regel Nummer vier erinnert die Ärzte in „House of God“ an die konventionelle Rollenaufteilung: „Der Patient ist derjenige, der krank ist“, und ermahnt sie, Regel drei, „Bei Herzstillstand zuerst den eigenen Puls fühlen“. Das ist als Überlebensstrategie für junge Ärzte immer noch richtig. Mindestens so wichtig wäre es jedoch, eine Therapie für das kranke Medizinsystem zu entwickeln. Wenn es nicht gelingt, die Missstände abzustellen und die Medizin zum Besseren zu verändern, „sodass sie so großartig ist, wie sich selbst immer sieht“, wie der Harvard-Mediziner Jeremy Samuel Faust in JAMA warnt, „dann wird die Kritik und die Popularität von House of God uns alle überdauern“.
Regel Nummer acht:
„Sie können dich immer
noch mehr quälen.“
„Durch den Enddarm zu den
Sternen“: Der Traum von einer
Proktologenpraxis in Hollywood
Ignoranz und Habgier:
Ärzte beklagen die würdelosen
Umstände im Krankenhausbetrieb
Vielleicht doch noch einen Test? Nur zur Sicherheit, um diese eine, wirklich überaus unangenehme Diagnose auszuschließen. Patienten wurden bereits vor Jahrzehnten mit unnötigen Untersuchungen traktiert.
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»Shem hat die Krise der modernen Medizin genau am Nerv getroffen.« Süddeutsche Zeitung