Im Winter 1959/60 gibt Shmuel Ash sein Studium auf und zieht in das Haus eines behinderten alten Mannes in Jerusalem als dessen Helfer und Begleiter. Hier begegnet ihm die verführerische, unnahbare Atalja Abrabanel. Neugier und Lust packen ihn, aber sie warnt ihn, sich in sie zu verlieben.
Nach und nach gelingt es ihm, ihr Geheimnis zu enthüllen, das sie mit Gershom Wald, dem schroffen alten Mann, teilt, das die beiden auf unheilsame Weise eng miteinander verbindet und das Haus zu einem Gefängnis werden lässt.
Amoz Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zu gleich ein Buch über Israel und das geteilte Jerusalem - eine Geschichte seines Landes mit seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.
Nach und nach gelingt es ihm, ihr Geheimnis zu enthüllen, das sie mit Gershom Wald, dem schroffen alten Mann, teilt, das die beiden auf unheilsame Weise eng miteinander verbindet und das Haus zu einem Gefängnis werden lässt.
Amoz Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zu gleich ein Buch über Israel und das geteilte Jerusalem - eine Geschichte seines Landes mit seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2015In diesem Staat wohnen viele Meinungen
Eine Jerusalemer Schicksals-WG denkt über die israelische Frage nach: "Judas", der neue Roman von Amos Oz, ist ein Kammerspiel zur Lage des Landes.
Es beginnt damit, dass ein Hydrologe für seine Liebste "ein schönes Halstuch" aussucht. "Dann kaufte er ihr noch ein grünes orientalisches Kleid zum Geburtstag nach dem jüdischen Kalender, der zwei Tage später stattfand." Das Wichtigste und für seine künftige Braut Ausschlaggebende aber: "Er erinnerte sich sogar an die Geburtstage ihrer Eltern." Damit scheint die Sache so klar wie bedauerlich - bedauerlich für den wildlockigen Helden des neuen Romans von Amos Oz. Denn an diesen Halstuch-Langweiler verliert er seine Freundin. Es ist ein profanes Motiv, das diesen großen politischen Roman in Gang setzt, der eben nicht nur die Entwicklungsgeschichte eines Studenten entfaltet, sondern auch gleich die eines ganzen Staates: Israels.
Amos Oz' autobiographischer Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" (2004) inspirierte vor mehr als zehn Jahren einen weltweiten Boom israelischer Literatur. Um den Selbstmord der Fania Klausner, hinter der sich Oz' eigene Mutter verbarg, entspinnt der Roman eine fesselnde, bewegende Familiengeschichte zwischen intellektuellem Zionismus, Holocaust und israelischer Staatsgründung. Seither sind alle Romane und Erzählungen von Amos Oz Erörterungen nicht nur zur Frage des Judentums, sondern auch der des jüdischen Staates.
In "Judas", seinem neuen Werk, verfährt Oz nicht anders, allerdings legt er seine Geschichte dieses Mal weniger episch an. Sie beginnt im Winter 1959/60, kurz nach dem Suez-Feldzug, der damals nicht nur auf ägyptischer Seite zahlreiche Tote forderte. Der Traum vom israelischen Staat in friedlicher Koexistenz mit seinen arabischen Nachbarn ist bereits zehn Jahre nach seiner Gründung trüb geworden. Schmuel Asch bricht sein Theologie-Studium ab. Sein Vater hat eine Firmenpleite hingelegt, der elterliche Geldhahn ist also zu, und Schmuels Freundin macht kurzen Prozess - ausgerechnet mit einem Hydrologen brennt sie durch. Das ist ein guter Gag, denn der Wasserkundler repräsentiert nicht nur das vermeintlich Verschmockte einer Berufsgruppe, sondern auch die Überlegenheit eines Expertenkreises, der den Schlüssel zur überlebenswichtigen Wasserfrage hat. Die Urbarmachung der Negevwüste durch eine Jordanwasser-Entnahme aus Gebieten außerhalb des israelischen Staatsgebiets ist seit jeher ein politisch heißes Eisen. Hydrologen, so verstehen wir, sind vielleicht dröge Zeitgenossen, aber eben auch dies: ein Versprechen auf die Zukunft.
Dem kann ein idealistischer Student wenig entgegensetzen, erst recht dann nicht, wenn er sich unorthodoxe Gedanken über Jesus, den Nazarener, und Judas Ischariot, den Verräter, macht. Er fragt sich, ob sich der Fluch jedes einzelnen Juden, auf ewig mit Judas gleichgesetzt zu werden, aufheben lässt. Wie wäre es, wenn man behauptete, nicht Jesus und nicht Paulus, sondern Judas sei in Wirklichkeit der Begründer des Christentums gewesen, weil es ohne Judas keine Kreuzigung gegeben hätte und ohne die Kreuzigung bekanntermaßen kein Christentum? Ohne Judas wäre Jesus, der im Babylonischen Talmud zu verschiedenen Zeiten nur dreimal erwähnt wird und dem auch die zeitgenössischen Historiker wenig Aufmerksam gewidmet haben, vermutlich als wundertätiger Freak aus Galiläa in die Geschichte eingegangen. Und was wäre wohl geschehen, wenn die Juden aus biblischen Zeiten den Juden Jesus nicht abgelehnt hätten? "Die Kirche wäre nicht entstanden. Und vielleicht hätte ganz Europa eine nachgiebige und geläuterte Version des Judentums übernommen. So wären uns die Diaspora, die Verfolgungen, die Pogrome, die Inquisition, die Ritualmordbeschuldigungen, die Judenfeindlichkeit und auch die Schoah erspart geblieben."
Diese Gedanken kann Schmuel mit einem alten körperbehinderten Mann namens Gerschom Wald teilen, der gemeinsam mit einer mysteriösen Schönheit, die weder seine Frau noch seine Geliebte noch seine Tochter ist, in einer Jerusalemer Villa lebt. Schmuel ist einer Anzeige am Schwarzen Brett gefolgt, in der es hieß, man suche einen belesenen Gesprächspartner gegen Kost und Logis.
Amos Oz nutzt die altbewährte Gesprächskonstruktion zwischen einem idealistischen Novizen auf der Suche nach sich selbst und einem zynischen Greis auf Abschiedstour, um jeweils historische Referate in die sich entspinnende Lovestory zwischen Schmuel und der geheimnisvollen Atalja einzupflegen. Das macht den Gang der Dinge ziemlich berechenbar. Die Form des Romans, könnte man sagen, wird deutlich über seinen hochgelehrsamen Inhalt legitimiert. "Judas" ist ein Kaleidoskop akademischer Positionen zur Religions- und Staatsfrage.
Denn wie sich bald zeigt, hatte die schöne Atalja einen berühmten Vater. Schealtiel Abrabanel soll ein Gegenspieler Ben Gurions gewesen sein. Innerhalb der zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency hatte er sich irgendwann nach dem Judasprinzip gegen seinen politischen Mitstreiter gewendet. Ben Gurion wollte den Staat, der fiktive Abrabanel wollte ihn nicht mehr. Er setzte auf Völkerverständigung, geriet ins Abseits und verbitterte. Seine Tochter heiratete einen gewissen Micha, der wiederum während des Unabhängigkeitskriegs ermordet wurde. Es handelt sich gleichsam um den Sohn Gerschom Walds, bei dem Atalja wohnt - eine Schicksals-WG.
"Ben Gurion sieht manchmal Dinge, die andere nicht sehen, oder sie sehen es erst nach vielen Jahren. Ich bin weit weg von allen möglichen Weltverbesserern, aber dieser Mann verbessert die Welt dadurch, dass er ein großer Realist ist", sagt der alte Wald. Es ist die Position eines Mannes, der sein Liebstes im Kampf gegen die Araber verloren hat. "Ben Gurion", sagt Schmuel, der wegen eines Asthmaleidens nie eingezogen wurde, "war vielleicht in seiner Jugend ein Arbeiterführer, eine Art Volkstribun, aber heute steht er an der Spitze eines selbstgerechten Nationalstaates und hat nicht aufgehört, hohle biblische Phrasen zu verbreiten, von der Erneuerung früherer Zeiten und der Verwirklichung der Visionen der Propheten." Und Atalja glaubt nicht mal mehr an die Liebe. Sie konsumiert ab und an einen Verehrer, um ihn gleich wieder abzustoßen. Natürlich ist Schmuel Asch die große Ausnahme von dieser Regel.
"Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?" So fragt der Prophet Jeremiah. Amos Oz versucht es mit literarischen Mitteln, doch bleibt sein Buch in der Anlage etwas zu programmatisch. Seine Figuren, die immer etwas zu betont nach Veilchenparfüm duften oder allzu durchschaubare Verführungspläne schmieden, wirken wie einem Lehrgedicht entsprungen. Dafür entschädigt die Fülle fein gewebter Betrachtungen zur Lage des Landes. Von Mirjam Pressler, die als Übersetzerin vor allem israelischer Literatur über Jahrzehnte Großes geleistet hat, stammt die gewohnt souveräne Übersetzung. So kann man "Judas" nicht anders als mit großem Interesse lesen. Oz führt auf virtuose Weise Weltpolitik mit Religionsgeschichte zusammen und stellt so auch das Schicksal Europas in einen erhellenden Zusammenhang.
KATHARINA TEUTSCH
Amos Oz: "Judas".
Roman.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 332 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Jerusalemer Schicksals-WG denkt über die israelische Frage nach: "Judas", der neue Roman von Amos Oz, ist ein Kammerspiel zur Lage des Landes.
Es beginnt damit, dass ein Hydrologe für seine Liebste "ein schönes Halstuch" aussucht. "Dann kaufte er ihr noch ein grünes orientalisches Kleid zum Geburtstag nach dem jüdischen Kalender, der zwei Tage später stattfand." Das Wichtigste und für seine künftige Braut Ausschlaggebende aber: "Er erinnerte sich sogar an die Geburtstage ihrer Eltern." Damit scheint die Sache so klar wie bedauerlich - bedauerlich für den wildlockigen Helden des neuen Romans von Amos Oz. Denn an diesen Halstuch-Langweiler verliert er seine Freundin. Es ist ein profanes Motiv, das diesen großen politischen Roman in Gang setzt, der eben nicht nur die Entwicklungsgeschichte eines Studenten entfaltet, sondern auch gleich die eines ganzen Staates: Israels.
Amos Oz' autobiographischer Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" (2004) inspirierte vor mehr als zehn Jahren einen weltweiten Boom israelischer Literatur. Um den Selbstmord der Fania Klausner, hinter der sich Oz' eigene Mutter verbarg, entspinnt der Roman eine fesselnde, bewegende Familiengeschichte zwischen intellektuellem Zionismus, Holocaust und israelischer Staatsgründung. Seither sind alle Romane und Erzählungen von Amos Oz Erörterungen nicht nur zur Frage des Judentums, sondern auch der des jüdischen Staates.
In "Judas", seinem neuen Werk, verfährt Oz nicht anders, allerdings legt er seine Geschichte dieses Mal weniger episch an. Sie beginnt im Winter 1959/60, kurz nach dem Suez-Feldzug, der damals nicht nur auf ägyptischer Seite zahlreiche Tote forderte. Der Traum vom israelischen Staat in friedlicher Koexistenz mit seinen arabischen Nachbarn ist bereits zehn Jahre nach seiner Gründung trüb geworden. Schmuel Asch bricht sein Theologie-Studium ab. Sein Vater hat eine Firmenpleite hingelegt, der elterliche Geldhahn ist also zu, und Schmuels Freundin macht kurzen Prozess - ausgerechnet mit einem Hydrologen brennt sie durch. Das ist ein guter Gag, denn der Wasserkundler repräsentiert nicht nur das vermeintlich Verschmockte einer Berufsgruppe, sondern auch die Überlegenheit eines Expertenkreises, der den Schlüssel zur überlebenswichtigen Wasserfrage hat. Die Urbarmachung der Negevwüste durch eine Jordanwasser-Entnahme aus Gebieten außerhalb des israelischen Staatsgebiets ist seit jeher ein politisch heißes Eisen. Hydrologen, so verstehen wir, sind vielleicht dröge Zeitgenossen, aber eben auch dies: ein Versprechen auf die Zukunft.
Dem kann ein idealistischer Student wenig entgegensetzen, erst recht dann nicht, wenn er sich unorthodoxe Gedanken über Jesus, den Nazarener, und Judas Ischariot, den Verräter, macht. Er fragt sich, ob sich der Fluch jedes einzelnen Juden, auf ewig mit Judas gleichgesetzt zu werden, aufheben lässt. Wie wäre es, wenn man behauptete, nicht Jesus und nicht Paulus, sondern Judas sei in Wirklichkeit der Begründer des Christentums gewesen, weil es ohne Judas keine Kreuzigung gegeben hätte und ohne die Kreuzigung bekanntermaßen kein Christentum? Ohne Judas wäre Jesus, der im Babylonischen Talmud zu verschiedenen Zeiten nur dreimal erwähnt wird und dem auch die zeitgenössischen Historiker wenig Aufmerksam gewidmet haben, vermutlich als wundertätiger Freak aus Galiläa in die Geschichte eingegangen. Und was wäre wohl geschehen, wenn die Juden aus biblischen Zeiten den Juden Jesus nicht abgelehnt hätten? "Die Kirche wäre nicht entstanden. Und vielleicht hätte ganz Europa eine nachgiebige und geläuterte Version des Judentums übernommen. So wären uns die Diaspora, die Verfolgungen, die Pogrome, die Inquisition, die Ritualmordbeschuldigungen, die Judenfeindlichkeit und auch die Schoah erspart geblieben."
Diese Gedanken kann Schmuel mit einem alten körperbehinderten Mann namens Gerschom Wald teilen, der gemeinsam mit einer mysteriösen Schönheit, die weder seine Frau noch seine Geliebte noch seine Tochter ist, in einer Jerusalemer Villa lebt. Schmuel ist einer Anzeige am Schwarzen Brett gefolgt, in der es hieß, man suche einen belesenen Gesprächspartner gegen Kost und Logis.
Amos Oz nutzt die altbewährte Gesprächskonstruktion zwischen einem idealistischen Novizen auf der Suche nach sich selbst und einem zynischen Greis auf Abschiedstour, um jeweils historische Referate in die sich entspinnende Lovestory zwischen Schmuel und der geheimnisvollen Atalja einzupflegen. Das macht den Gang der Dinge ziemlich berechenbar. Die Form des Romans, könnte man sagen, wird deutlich über seinen hochgelehrsamen Inhalt legitimiert. "Judas" ist ein Kaleidoskop akademischer Positionen zur Religions- und Staatsfrage.
Denn wie sich bald zeigt, hatte die schöne Atalja einen berühmten Vater. Schealtiel Abrabanel soll ein Gegenspieler Ben Gurions gewesen sein. Innerhalb der zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency hatte er sich irgendwann nach dem Judasprinzip gegen seinen politischen Mitstreiter gewendet. Ben Gurion wollte den Staat, der fiktive Abrabanel wollte ihn nicht mehr. Er setzte auf Völkerverständigung, geriet ins Abseits und verbitterte. Seine Tochter heiratete einen gewissen Micha, der wiederum während des Unabhängigkeitskriegs ermordet wurde. Es handelt sich gleichsam um den Sohn Gerschom Walds, bei dem Atalja wohnt - eine Schicksals-WG.
"Ben Gurion sieht manchmal Dinge, die andere nicht sehen, oder sie sehen es erst nach vielen Jahren. Ich bin weit weg von allen möglichen Weltverbesserern, aber dieser Mann verbessert die Welt dadurch, dass er ein großer Realist ist", sagt der alte Wald. Es ist die Position eines Mannes, der sein Liebstes im Kampf gegen die Araber verloren hat. "Ben Gurion", sagt Schmuel, der wegen eines Asthmaleidens nie eingezogen wurde, "war vielleicht in seiner Jugend ein Arbeiterführer, eine Art Volkstribun, aber heute steht er an der Spitze eines selbstgerechten Nationalstaates und hat nicht aufgehört, hohle biblische Phrasen zu verbreiten, von der Erneuerung früherer Zeiten und der Verwirklichung der Visionen der Propheten." Und Atalja glaubt nicht mal mehr an die Liebe. Sie konsumiert ab und an einen Verehrer, um ihn gleich wieder abzustoßen. Natürlich ist Schmuel Asch die große Ausnahme von dieser Regel.
"Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?" So fragt der Prophet Jeremiah. Amos Oz versucht es mit literarischen Mitteln, doch bleibt sein Buch in der Anlage etwas zu programmatisch. Seine Figuren, die immer etwas zu betont nach Veilchenparfüm duften oder allzu durchschaubare Verführungspläne schmieden, wirken wie einem Lehrgedicht entsprungen. Dafür entschädigt die Fülle fein gewebter Betrachtungen zur Lage des Landes. Von Mirjam Pressler, die als Übersetzerin vor allem israelischer Literatur über Jahrzehnte Großes geleistet hat, stammt die gewohnt souveräne Übersetzung. So kann man "Judas" nicht anders als mit großem Interesse lesen. Oz führt auf virtuose Weise Weltpolitik mit Religionsgeschichte zusammen und stellt so auch das Schicksal Europas in einen erhellenden Zusammenhang.
KATHARINA TEUTSCH
Amos Oz: "Judas".
Roman.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 332 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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