Er überlebte das elterliche Trauma, das Horrorhaus des mütterlichen Therapeuten und einiges mehr. Und dennoch bringen Augusten Burroughs Erinnerungen den Hörer zum Lachen. Als seine psychisch kranke Mutter den Vater verlässt, um eine große Dichterin zu werden, nimmt sie ihren Sohn zwar mit, schiebt ihn aber bald in die Obhut ihres Therapeuten ab. Dr. Finch ist nicht nur ein sehr unkonventioneller Psychologe, auch die neue Familie in der völlig vermüllten Villa hat es in sich ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2004Elektroschock-Blues
Leben, bis der Arzt kommt: Augusten Burroughs' wilde Siebziger
Es muß wohl in den Zeiten der allerersten Big-Brother-Staffel gewesen sein, als in deutschen Wohnzimmern auch die Älteren ein Wort lernen durften, welches sie bei ihren Kindern nie verstanden hatten. Voll kraß, Alter! Ein paar Jahre später hat das multifunktionale Wort Karriere gemacht: Ein Buchtitel! Aus lauter quietschbunten Buchstaben, eine Schere schneidet dazwischen, ein Ausrufezeichen in knalligem Orange steht auch noch dahinter! Und, welch ein Wahnsinn: Der Mann, der das Buch geschrieben hat, war zuvor Hundetrainer, Segelschneider, Ladendetektiv und Werbetexter. Schwul ist er auch noch und stammt in direkter Linie von König James II. von Schottland ab. Sagt er zumindest. Oder der Klappentext.
Sein Buch ist auch nicht irgendein öder Roman, keine fade Fiktion. Nein, es ist "meine Geschichte". Also voll das Leben, ganz egal, ob nun halb-, viertel- oder vollautobiographisch. Und dann noch der Name: Burroughs, Augusten Burroughs, 39. Es ist schon ziemlich farbig, was er da erzählt. In der ersten Person Singular natürlich, mit dem Fingerabdruck der Authentizität. Er benutzt auch unheimlich viele Adjektive, und wenn da steht "Hopes Möse ist wie Fort Knox", hat Hope ein kaltes Wiener Würstchen in der Hand. Der Erzähler kennt auch so coole Wendungen wie die vom "serienmäßig mitgelieferten Bruder".
Doch das ist noch längst nicht alles. Es kommt zu sexuellem Mißbrauch, Drogenmißbrauch, manchmal auch zu Sprachmißbrauch, dann gibt es Oralverkehr und Analverkehr mit dem Adoptivbruder. Eine psychotische Mutter spielt mit, die miserable Bekenntnislyrik schreibt und die auch noch eine lesbische Liaison mit der Pfarrersfrau anfängt; dazu ein Vater, der Mathematikprofessor, gefühlskalt und alkoholabhängig ist. Also Scheidung! Dank tätiger Mithilfe eines Psychiaters mit weitläufiger Familie, deren Umfang allein schon deshalb zwingend ist, damit der Begriff polymorph-pervers nicht unter Wert verschleudert wird.
So waren sie halt, die wilden Siebziger, die Albträume der antiautoritären Erziehung. Ein Psychiater, der immer davon redet, man müsse seine Wut rauslassen, und bei dem zu Hause tatsächlich die Sau rausgelassen wird. Es starrt vor Schmutz, und unterm Sofa liegt das Elektroschockgerät als Spielzeug für die Kids herum. Patienten mit den verschiedensten Symptomen sind Dauergäste im Haus. Und in seiner Praxis hat der Doc ein "Masturbatorium", wo er sich auch schon mal vor einem Zeitungsbild von Golda Meir erleichtert. Was man normalerweise unter einer dysfunktionalen Familie versteht, ist dagegen eine Idylle. Hier gibt es Selbstverwirklichung, daß es kracht, und die Abneigung gegen die repressive Toleranz ist so heftig, daß nur tolerante Repression dagegen hilft.
Der Ich-Erzähler, den seine Mutter zwischenzeitlich in dieser Bilderbuchhölle parkt, faselt bald auch vom "Stockholm-Syndrom" und von Patty Hearst, weil ihn das Klima im Elternhaus zu einem peniblen kleinen Narziß mit einem Faible für Polyesterkleidung hat werden lassen. Und wenn man das alles liest, kommt man fast schon auf den absurden Gedanken, die Siebziger verteidigen zu wollen. Sie haben Böseres verdient als diese Karikatur, die viel zu sehr sich selbst gefällt, als daß sie von der Welt mehr als ein paar grellfarbig klischierte Abziehbildchen anfertigen könnte. Ob den Erzähler nun Sarkasmus treibt oder Galgenhumor oder Exhibitionismus, ist gleichgültig. Da ist vor allem der Wunsch, aus jeder Szene eine Pointe zu pressen. Es gibt kein Happy-End, aber eine klassische Teleologie: Überleben, um die Geschichte zu erzählen, einfach das Leben auf die Seiten fließen lassen, es wird schon irgendwie Literatur daraus werden.
"Running with scissors" - so heißt das Buch im Original - wäre eine ziemlich traurige, sehr böse und atemberaubende Geschichte, wenn ihr Erzähler nicht von seinen Pointen so besoffen wäre, wenn da überhaupt eine Geschichte wäre und nicht bloß ein Skurrilitätenkabinett, durch das der Ich-Erzähler einen so gnadenlos schleift wie die Zampanos einer Privatfernsehmittagstalkshow ihre Gäste. Kann schon sein, daß ein Psychotherapeut nach all den locker aneinandergereihten Episoden eine schlüssige Diagnose stellen könnte. Aber ein Kritiker ist nun mal kein Therapeut, und wenn man ihm so von der Psychopathologie des Alltagslebens in der amerikanischen Provinz erzählt, dann darf er von dieser Mischung aus Kraftmeierei, Bildungsromanschutt und Bekennerdrang auch genervt sein.
PETER KÖRTE
Augusten Burroughs: "Kraß!". Meine Geschichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leben, bis der Arzt kommt: Augusten Burroughs' wilde Siebziger
Es muß wohl in den Zeiten der allerersten Big-Brother-Staffel gewesen sein, als in deutschen Wohnzimmern auch die Älteren ein Wort lernen durften, welches sie bei ihren Kindern nie verstanden hatten. Voll kraß, Alter! Ein paar Jahre später hat das multifunktionale Wort Karriere gemacht: Ein Buchtitel! Aus lauter quietschbunten Buchstaben, eine Schere schneidet dazwischen, ein Ausrufezeichen in knalligem Orange steht auch noch dahinter! Und, welch ein Wahnsinn: Der Mann, der das Buch geschrieben hat, war zuvor Hundetrainer, Segelschneider, Ladendetektiv und Werbetexter. Schwul ist er auch noch und stammt in direkter Linie von König James II. von Schottland ab. Sagt er zumindest. Oder der Klappentext.
Sein Buch ist auch nicht irgendein öder Roman, keine fade Fiktion. Nein, es ist "meine Geschichte". Also voll das Leben, ganz egal, ob nun halb-, viertel- oder vollautobiographisch. Und dann noch der Name: Burroughs, Augusten Burroughs, 39. Es ist schon ziemlich farbig, was er da erzählt. In der ersten Person Singular natürlich, mit dem Fingerabdruck der Authentizität. Er benutzt auch unheimlich viele Adjektive, und wenn da steht "Hopes Möse ist wie Fort Knox", hat Hope ein kaltes Wiener Würstchen in der Hand. Der Erzähler kennt auch so coole Wendungen wie die vom "serienmäßig mitgelieferten Bruder".
Doch das ist noch längst nicht alles. Es kommt zu sexuellem Mißbrauch, Drogenmißbrauch, manchmal auch zu Sprachmißbrauch, dann gibt es Oralverkehr und Analverkehr mit dem Adoptivbruder. Eine psychotische Mutter spielt mit, die miserable Bekenntnislyrik schreibt und die auch noch eine lesbische Liaison mit der Pfarrersfrau anfängt; dazu ein Vater, der Mathematikprofessor, gefühlskalt und alkoholabhängig ist. Also Scheidung! Dank tätiger Mithilfe eines Psychiaters mit weitläufiger Familie, deren Umfang allein schon deshalb zwingend ist, damit der Begriff polymorph-pervers nicht unter Wert verschleudert wird.
So waren sie halt, die wilden Siebziger, die Albträume der antiautoritären Erziehung. Ein Psychiater, der immer davon redet, man müsse seine Wut rauslassen, und bei dem zu Hause tatsächlich die Sau rausgelassen wird. Es starrt vor Schmutz, und unterm Sofa liegt das Elektroschockgerät als Spielzeug für die Kids herum. Patienten mit den verschiedensten Symptomen sind Dauergäste im Haus. Und in seiner Praxis hat der Doc ein "Masturbatorium", wo er sich auch schon mal vor einem Zeitungsbild von Golda Meir erleichtert. Was man normalerweise unter einer dysfunktionalen Familie versteht, ist dagegen eine Idylle. Hier gibt es Selbstverwirklichung, daß es kracht, und die Abneigung gegen die repressive Toleranz ist so heftig, daß nur tolerante Repression dagegen hilft.
Der Ich-Erzähler, den seine Mutter zwischenzeitlich in dieser Bilderbuchhölle parkt, faselt bald auch vom "Stockholm-Syndrom" und von Patty Hearst, weil ihn das Klima im Elternhaus zu einem peniblen kleinen Narziß mit einem Faible für Polyesterkleidung hat werden lassen. Und wenn man das alles liest, kommt man fast schon auf den absurden Gedanken, die Siebziger verteidigen zu wollen. Sie haben Böseres verdient als diese Karikatur, die viel zu sehr sich selbst gefällt, als daß sie von der Welt mehr als ein paar grellfarbig klischierte Abziehbildchen anfertigen könnte. Ob den Erzähler nun Sarkasmus treibt oder Galgenhumor oder Exhibitionismus, ist gleichgültig. Da ist vor allem der Wunsch, aus jeder Szene eine Pointe zu pressen. Es gibt kein Happy-End, aber eine klassische Teleologie: Überleben, um die Geschichte zu erzählen, einfach das Leben auf die Seiten fließen lassen, es wird schon irgendwie Literatur daraus werden.
"Running with scissors" - so heißt das Buch im Original - wäre eine ziemlich traurige, sehr böse und atemberaubende Geschichte, wenn ihr Erzähler nicht von seinen Pointen so besoffen wäre, wenn da überhaupt eine Geschichte wäre und nicht bloß ein Skurrilitätenkabinett, durch das der Ich-Erzähler einen so gnadenlos schleift wie die Zampanos einer Privatfernsehmittagstalkshow ihre Gäste. Kann schon sein, daß ein Psychotherapeut nach all den locker aneinandergereihten Episoden eine schlüssige Diagnose stellen könnte. Aber ein Kritiker ist nun mal kein Therapeut, und wenn man ihm so von der Psychopathologie des Alltagslebens in der amerikanischen Provinz erzählt, dann darf er von dieser Mischung aus Kraftmeierei, Bildungsromanschutt und Bekennerdrang auch genervt sein.
PETER KÖRTE
Augusten Burroughs: "Kraß!". Meine Geschichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 366 S., geb., 19,90 [Euro].
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