Nicht mehr zu trennen: Eva Mattes liest Elena Ferrante
"Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai." So beginnt Delia ihre Erzählung darüber, wie sie herauszufinden versucht, weshalb ihre Mutter ums Leben kam. Dafür muss Delia in Neapel tief in die Vergangenheit ihrer Familie eintauchen. Hat ihr gewalttätiger Vater, den die Mutter schon vor Jahren verlassen hat, mit dem Tod zu tun? Oder der Liebhaber der Mutter aus früheren Tagen? Je klarer sich Delia an das Leben ihrer Mutter erinnert, um so deutlicher wird, dass alles anders ist, als sie dachte.
Gelesen von Eva Mattes.
(4 CDs, Laufzeit: 5h 8)
"Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai." So beginnt Delia ihre Erzählung darüber, wie sie herauszufinden versucht, weshalb ihre Mutter ums Leben kam. Dafür muss Delia in Neapel tief in die Vergangenheit ihrer Familie eintauchen. Hat ihr gewalttätiger Vater, den die Mutter schon vor Jahren verlassen hat, mit dem Tod zu tun? Oder der Liebhaber der Mutter aus früheren Tagen? Je klarer sich Delia an das Leben ihrer Mutter erinnert, um so deutlicher wird, dass alles anders ist, als sie dachte.
Gelesen von Eva Mattes.
(4 CDs, Laufzeit: 5h 8)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2018Eine Mutter verschwindet
Nach dem Erfolg der „Neapolitanischen Saga“ erscheint Elena Ferrantes Debütroman in einer fabelhaften
Neuübersetzung. In „Lästige Liebe“ zeigt sich schon ihr feines Gefühl für Frauenfiguren
VON KATHLEEN HILDEBRAND
Genau an Delias Geburtstag, dem 23. Mai, wird die Leiche ihrer Mutter am Strand eines Ferienorts angeschwemmt. Sie trägt nichts als einen BH aus feiner Spitze. Ein teures Stück, wie die Mutter es in ihrem Leben nie getragen hat. Dieses effektvolle Detail wird in Elena Ferrantes Debütroman, der 1992 erschien und jetzt in einer fantastischen neuen Übersetzung von Karin Krieger vorliegt, noch eine Rolle spielen. Und doch führt die Autorin der Welterfolgsreihe von der „genialen Freundin“ ihre Leser mit dieser Andeutung auf eine nicht ganz richtige Fährte.
Delia, die längst erwachsene Tochter, reist aus Rom in ihre Heimatstadt Neapel und beginnt zu recherchieren: Wer war der Mann, von dem die Mutter kurz vor ihrem Tod am Telefon gesagt hatte, er wolle ihr etwas antun und der Tochter auch? Wie ist Amalia ums Leben gekommen? War es Mord, ein Unfall oder hat sie sich das Leben genommen? All das sind Krimi-Fragen, aber Delias Nachforschungen führen sie nicht zu Mördern und Verschwörern, sondern tief hinab in ihre eigenen, teils trügerischen Kindheitserinnerungen.
Erinnerungen an einen Mann namens Caserta, der früher ein Verehrer – und vielleicht der Liebhaber – ihrer Mutter Amalia war und ihr in den letzten Monaten ihres Lebens erneut den Hof gemacht hat. Und zu ihrem eifersüchtigen Vater, der Amalia in Delias Kindheit regelmäßig blutig schlug, ihr bis zuletzt nachgestellt und sie bedroht hat. Der nie akzeptieren konnte, dass sie ihn viele Jahre zuvor verlassen hat.
Es gibt viele solcher „lästigen Lieben“ in diesem schmalen, ungemein klugen Roman. Zuerst einmal ist da die Mutterliebe, die Delia lästig geworden ist. Wenn ihre Mutter sie besucht, nervt sie deren Geschäftigkeit, sie ekelt sich vor ihr, will sie nicht berühren. Aber nach ihrem Tod erwacht eine alte, nie zufriedenzustellende Tochterliebe in ihr. Delia beginnt sich nach etwas zu sehnen, das die meisten Töchter gerade nicht wollen: nach einer geradezu physischen Identität mit der Mutter.
Passend dazu fließt und quillt der Roman beinahe über vor Körperlichkeit. Als Delia den Sarg der Mutter trägt – ungehörig für eine Frau! – setzt ihre Menstruation ein, Tampons und blutige Schlüpfer spielen eine Rolle und immer wieder der frühere Widerwille der Tochter gegen den Mutterkörper. Delia erinnert sich, wie sie Amalia einmal gefragt hat, ob sie nach der Trennung vom Vater Liebhaber gehabt habe. „Nein“, sagt Amalia, und Delia ist sicher, dass sie lügt. Wie zum Beweis ihrer Keuschheit hebt Amalia „ihr Kleid bis zur Taille, wobei ihre großen, ausgeleierten rosa Unterhosen sichtbar wurden. Kichernd sagte sie etwas Wirres über ihr schlaffes Fleisch und ihren Hängebauch“. Delia denkt: „Und vor allem wünschte ich mir, dass sie sich bedeckte.“
Das arme, grobe, vor lauter Leben stinkend brodelnde Neapel wird in Ferrantes Beschreibung, wie später in der „genialen Freundin“, zum Höllenschlund eines alten Patriarchats und seiner scheinbar widersprüchlichen Regeln. Der Alltag der Frauen ist durchsetzt mit großen und kleinen Unterdrückungsgesten, mit verschiedenen Formen von Belästigung. Da sind die obszönen Bemerkungen auf der Straße, die früher Amalia galten und heute Delia. Die Verachtung, die Amalia von ihrem eigenen Bruder entgegenschlug, weil sie ihren brutalen Mann verlassen hat. Als der Ehemann, da ist Delia noch ein Kind, einmal glaubt, ein Mann habe sie im Gedränge der Straßenbahn angefasst, ohrfeigt er Amalia und nicht den Fremden. „Vielleicht, um sie dafür zu bestrafen, dass sie die Körperwärme des anderen durch den Stoff ihres Kleides auf der Haut gespürt hatte.“
Natürlich kann man Elena Ferrante auch in ihrem Debüt kaum anders als feministisch lesen. Aber Frauen und Männer sind bei ihr nicht einfach in gegnerischen Lagern, sondern bleiben vielmehr ineinander verstrickte, ewige Fremde. Wie die Brutalität der Männer beschreibt Ferrante die weibliche Nachsicht diesen Männern gegenüber. Als ein Kindheitsfreund sie beinahe vergewaltigt, denkt Delia im Gehen: „Aber ich war ihm doch dankbar dafür, dass er mir nur ein Minimum an Schmerz und Demütigung zugefügt hatte.“
Mit ihrem überwältigenden tiefenpsychologischen Feingefühl lässt Ferrante auch die Frauen nicht aus der Verantwortung. Neben der internalisierten Verachtung für den eigenen oder den mütterlichen Körper zeigt sich das im Verrat des Mädchens Delia, der Jahrzehnte zuvor zu einer Familientragödie geführt hat – und vielleicht zum Tod der Mutter im Meer.
Am Ende ist Delias Suche nach der verlorenen Mutter eine Ehrenrettung. Die Tochter beginnt Amalia nicht mehr nur, wie als Kind, als verantwortungslose Verführerin zu sehen, die sich und ihre Töchter mit ihren Flirtereien in Gefahr bringt. Und auch nicht bloß als nervige Alte mit Hängebauch. Sondern als eine Frau, die mit ihren geringen Möglichkeiten Widerstand gegen einen Verhaltenskodex geleistet hat, mit dem Männer ihr wie allen Frauen die Lust an der eigenen Lust, an Körperlichkeit und Lebensfreude verbieten wollten.
Als Delia zuletzt an dem Strand sitzt, an dem ihre Mutter starb, hat sie zumindest diese „lästige Liebe“ in etwas anderes verwandelt. In eine rohe, schmerzhafte Liebe, die sich von der eigenen Identität nie wird trennen lassen. Elena Ferrante entlässt die Leser ihres Debütromans nicht mit dem befriedigten, aufgeklärten Gefühl, mit dem man aus einer Kriminalgeschichte geht. Sondern durchgewalkt, erschüttert und emanzipiert wie nach einer guten Psychoanalyse.
Das vor lauter Leben stinkend
brodelnde Neapel wird zum
Höllenschlund des Patriarchats
Szene aus „L’Amore Molesto“ (1995), der Verfilmung des Debütromans von Elena Ferrante von Mario Martone mit Anna Bonaiuto in der Hauptrolle.
Foto: imago/Prod.DB
Elena Ferrante: Lästige Liebe. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 206 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach dem Erfolg der „Neapolitanischen Saga“ erscheint Elena Ferrantes Debütroman in einer fabelhaften
Neuübersetzung. In „Lästige Liebe“ zeigt sich schon ihr feines Gefühl für Frauenfiguren
VON KATHLEEN HILDEBRAND
Genau an Delias Geburtstag, dem 23. Mai, wird die Leiche ihrer Mutter am Strand eines Ferienorts angeschwemmt. Sie trägt nichts als einen BH aus feiner Spitze. Ein teures Stück, wie die Mutter es in ihrem Leben nie getragen hat. Dieses effektvolle Detail wird in Elena Ferrantes Debütroman, der 1992 erschien und jetzt in einer fantastischen neuen Übersetzung von Karin Krieger vorliegt, noch eine Rolle spielen. Und doch führt die Autorin der Welterfolgsreihe von der „genialen Freundin“ ihre Leser mit dieser Andeutung auf eine nicht ganz richtige Fährte.
Delia, die längst erwachsene Tochter, reist aus Rom in ihre Heimatstadt Neapel und beginnt zu recherchieren: Wer war der Mann, von dem die Mutter kurz vor ihrem Tod am Telefon gesagt hatte, er wolle ihr etwas antun und der Tochter auch? Wie ist Amalia ums Leben gekommen? War es Mord, ein Unfall oder hat sie sich das Leben genommen? All das sind Krimi-Fragen, aber Delias Nachforschungen führen sie nicht zu Mördern und Verschwörern, sondern tief hinab in ihre eigenen, teils trügerischen Kindheitserinnerungen.
Erinnerungen an einen Mann namens Caserta, der früher ein Verehrer – und vielleicht der Liebhaber – ihrer Mutter Amalia war und ihr in den letzten Monaten ihres Lebens erneut den Hof gemacht hat. Und zu ihrem eifersüchtigen Vater, der Amalia in Delias Kindheit regelmäßig blutig schlug, ihr bis zuletzt nachgestellt und sie bedroht hat. Der nie akzeptieren konnte, dass sie ihn viele Jahre zuvor verlassen hat.
Es gibt viele solcher „lästigen Lieben“ in diesem schmalen, ungemein klugen Roman. Zuerst einmal ist da die Mutterliebe, die Delia lästig geworden ist. Wenn ihre Mutter sie besucht, nervt sie deren Geschäftigkeit, sie ekelt sich vor ihr, will sie nicht berühren. Aber nach ihrem Tod erwacht eine alte, nie zufriedenzustellende Tochterliebe in ihr. Delia beginnt sich nach etwas zu sehnen, das die meisten Töchter gerade nicht wollen: nach einer geradezu physischen Identität mit der Mutter.
Passend dazu fließt und quillt der Roman beinahe über vor Körperlichkeit. Als Delia den Sarg der Mutter trägt – ungehörig für eine Frau! – setzt ihre Menstruation ein, Tampons und blutige Schlüpfer spielen eine Rolle und immer wieder der frühere Widerwille der Tochter gegen den Mutterkörper. Delia erinnert sich, wie sie Amalia einmal gefragt hat, ob sie nach der Trennung vom Vater Liebhaber gehabt habe. „Nein“, sagt Amalia, und Delia ist sicher, dass sie lügt. Wie zum Beweis ihrer Keuschheit hebt Amalia „ihr Kleid bis zur Taille, wobei ihre großen, ausgeleierten rosa Unterhosen sichtbar wurden. Kichernd sagte sie etwas Wirres über ihr schlaffes Fleisch und ihren Hängebauch“. Delia denkt: „Und vor allem wünschte ich mir, dass sie sich bedeckte.“
Das arme, grobe, vor lauter Leben stinkend brodelnde Neapel wird in Ferrantes Beschreibung, wie später in der „genialen Freundin“, zum Höllenschlund eines alten Patriarchats und seiner scheinbar widersprüchlichen Regeln. Der Alltag der Frauen ist durchsetzt mit großen und kleinen Unterdrückungsgesten, mit verschiedenen Formen von Belästigung. Da sind die obszönen Bemerkungen auf der Straße, die früher Amalia galten und heute Delia. Die Verachtung, die Amalia von ihrem eigenen Bruder entgegenschlug, weil sie ihren brutalen Mann verlassen hat. Als der Ehemann, da ist Delia noch ein Kind, einmal glaubt, ein Mann habe sie im Gedränge der Straßenbahn angefasst, ohrfeigt er Amalia und nicht den Fremden. „Vielleicht, um sie dafür zu bestrafen, dass sie die Körperwärme des anderen durch den Stoff ihres Kleides auf der Haut gespürt hatte.“
Natürlich kann man Elena Ferrante auch in ihrem Debüt kaum anders als feministisch lesen. Aber Frauen und Männer sind bei ihr nicht einfach in gegnerischen Lagern, sondern bleiben vielmehr ineinander verstrickte, ewige Fremde. Wie die Brutalität der Männer beschreibt Ferrante die weibliche Nachsicht diesen Männern gegenüber. Als ein Kindheitsfreund sie beinahe vergewaltigt, denkt Delia im Gehen: „Aber ich war ihm doch dankbar dafür, dass er mir nur ein Minimum an Schmerz und Demütigung zugefügt hatte.“
Mit ihrem überwältigenden tiefenpsychologischen Feingefühl lässt Ferrante auch die Frauen nicht aus der Verantwortung. Neben der internalisierten Verachtung für den eigenen oder den mütterlichen Körper zeigt sich das im Verrat des Mädchens Delia, der Jahrzehnte zuvor zu einer Familientragödie geführt hat – und vielleicht zum Tod der Mutter im Meer.
Am Ende ist Delias Suche nach der verlorenen Mutter eine Ehrenrettung. Die Tochter beginnt Amalia nicht mehr nur, wie als Kind, als verantwortungslose Verführerin zu sehen, die sich und ihre Töchter mit ihren Flirtereien in Gefahr bringt. Und auch nicht bloß als nervige Alte mit Hängebauch. Sondern als eine Frau, die mit ihren geringen Möglichkeiten Widerstand gegen einen Verhaltenskodex geleistet hat, mit dem Männer ihr wie allen Frauen die Lust an der eigenen Lust, an Körperlichkeit und Lebensfreude verbieten wollten.
Als Delia zuletzt an dem Strand sitzt, an dem ihre Mutter starb, hat sie zumindest diese „lästige Liebe“ in etwas anderes verwandelt. In eine rohe, schmerzhafte Liebe, die sich von der eigenen Identität nie wird trennen lassen. Elena Ferrante entlässt die Leser ihres Debütromans nicht mit dem befriedigten, aufgeklärten Gefühl, mit dem man aus einer Kriminalgeschichte geht. Sondern durchgewalkt, erschüttert und emanzipiert wie nach einer guten Psychoanalyse.
Das vor lauter Leben stinkend
brodelnde Neapel wird zum
Höllenschlund des Patriarchats
Szene aus „L’Amore Molesto“ (1995), der Verfilmung des Debütromans von Elena Ferrante von Mario Martone mit Anna Bonaiuto in der Hauptrolle.
Foto: imago/Prod.DB
Elena Ferrante: Lästige Liebe. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 206 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2018Frühes Leid, angesiedelt in Neapel
Was Elena Ferrantes Debüt verrät: "Lästige Liebe" in deutscher Neuübersetzung
Noch ist nicht bekannt, wann hierzulande die Verfilmung von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga ausgestrahlt wird, die sich von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart zieht. In Amerika ist die von HBO und Rai produzierte Fernsehserie "My Brilliant Friend" bereits zu sehen, und die Reaktion der Kritiker fiel durchaus gemischt aus. Wer sich erst gar nicht auf die Vereindeutigung eines epischen Romanstoffs durch Bilder verlegen will, der kann stattdessen zu Ferrantes Erstlingswerk greifen, das jetzt in der Neuübersetzung von Karin Krieger noch einmal aufgelegt wurde.
"L'amore molesto" - "Lästige Liebe" - erschien im italienischen Original bereits 1992, und es heute zu lesen ist insofern reizvoll, als dieses Debüt bereits zahlreiche Motive und Themen erkennen lässt, die von der Autorin in ihrer späteren, von 2011 an erscheinenden Tetralogie über die Freundschaft der neapolitanischen Mädchen Lenù und Lila ausgeformt werden. Nicht nur ist "Lästige Liebe" ebenfalls in Neapel angesiedelt und geht im Kern um häusliche Gewalt. Vor allem steht auch hier schon eine weibliche Beziehung im Mittelpunkt, allerdings keine horizontale wie in der Saga, sondern eine vertikale Verbindung, nämlich die zwischen einer Tochter und ihrer Mutter.
Und auch das Verschwinden nimmt wie später im Romanvierteiler bereits in diesem ersten literarischen Zeugnis Elena Ferrantes, die auch als Autorin die Anonymität vorzieht, eine zentrale Rolle ein. In der Saga ist es das Mädchen Lila, das von dem Wunsch besessen ist, zu verschwinden. Jahrzehnte später wird sie genau das schließlich auch tun - was für Lenù überhaupt erst zum Anlass wird, die Geschichte ihrer Freundin von den Anfängen im patriarchalen und mafiös durchsetzten Arbeiterviertel Rione zu ergründen. Indem Lenù die Vergangenheit befragt, will sie Aufschluss über die Gegenwart erhalten.
Ganz ähnlich verhält es sich im Roman "Lästige Liebe", der ebenfalls mit einem Verschwinden eröffnet wird. Die Comiczeichnerin Delia erwartet den Besuch ihrer Mutter in Rom und ist zunächst nicht sehr beunruhigt, als diese nicht auftaucht. Trotz ihrer Spannungen sehen die beiden sich regelmäßig, manchmal nimmt die Mutter einfach nur einen späteren Zug. Diesmal aber kommt Amalia nicht an, stattdessen erhält die Tochter mehrere beunruhigende Anrufe, in denen ihr die Mutter zunehmend verworrene Geschichten erzählt, dass sie nicht sprechen könne, da ein Mann bei ihr sei und dass sie verfolgt werde. "Geh schlafen. Ich nehme jetzt ein Bad", sind die letzten Worte von Amalia am Telefon. Am nächsten Tag wird ihr Leichnam an den Strand von Spaccavento gespült.
"Lästige Liebe" entfaltet sich im Folgenden zu einem Psychodrama über die unheilvollen Dynamiken einer dysfunktionalen Familie. Als Delia zur Beerdigung in die alte Heimatstadt Neapel fährt - was alte Wunden wieder aufreißt, die nur vermeintlich verheilt waren -, macht sie sich daran, herauszufinden, was ihrer Mutter in den Stunden vor ihrem Tod widerfahren ist. Wer war der Mann, der angeblich bei ihr war, und was hat es mit der ominösen Unterwäsche zu tun, die sie in einem Koffer findet? Delias Recherche führt tief in die Familiengeschichte. So begegnet sie ihrem einst gewalttätigen Vater, einem Maler, den sie, nachdem sich die Eltern früh getrennt hatten, jahrelang nicht gesehen hat. Wie eine Detektivin folgt sie den Mustern und Zeichen, doch je mehr sie forscht, umso unheimlicher ist, was zutage tritt, bis die junge Frau in eine Albtraumwelt abdriftet, die so nahtlos in das Geschehen eingewebt ist, dass der Leser stellenweise nicht mehr weiß, was real ist und was halluziniert.
Caserta, der mit Delias Vater nach dem Krieg einst Geschäfte machte und von dem es einmal heißt, sein Name klinge wie der eines Unholds aus dem Märchen, wird bald zur Schlüsselfigur nicht nur für die jüngsten Ereignisse, sondern für die gesamte Historie, und dass Delia mit diesem Namen Gefühle wie Schwindel und Atemnot verbindet, führt schließlich zum verdrängten Knoten. In diesen allerdings ist sie selbst aufs Unheilvollste verstrickt. Ferrantes Erzählbogen nimmt auch hier die neapolitanische Welt mikroskopisch in den Blick, und man kann diesen Roman als Psychothriller lesen, als Gesellschaftsroman, es gibt drastische Szenen über Misshandlung. Das Auffälligste aber ist die literarische Wildheit dieses Debüts, eine assoziative Glut. Sprachliche Wohlgeordnetheit für eine verstörend unaufgeräumte Welt wie in der Saga ist in diesem packenden Mutter-Tochter-Drama nicht anzutreffen.
SANDRA KEGEL
Elena Ferrante: "Lästige Liebe". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 206 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was Elena Ferrantes Debüt verrät: "Lästige Liebe" in deutscher Neuübersetzung
Noch ist nicht bekannt, wann hierzulande die Verfilmung von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga ausgestrahlt wird, die sich von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart zieht. In Amerika ist die von HBO und Rai produzierte Fernsehserie "My Brilliant Friend" bereits zu sehen, und die Reaktion der Kritiker fiel durchaus gemischt aus. Wer sich erst gar nicht auf die Vereindeutigung eines epischen Romanstoffs durch Bilder verlegen will, der kann stattdessen zu Ferrantes Erstlingswerk greifen, das jetzt in der Neuübersetzung von Karin Krieger noch einmal aufgelegt wurde.
"L'amore molesto" - "Lästige Liebe" - erschien im italienischen Original bereits 1992, und es heute zu lesen ist insofern reizvoll, als dieses Debüt bereits zahlreiche Motive und Themen erkennen lässt, die von der Autorin in ihrer späteren, von 2011 an erscheinenden Tetralogie über die Freundschaft der neapolitanischen Mädchen Lenù und Lila ausgeformt werden. Nicht nur ist "Lästige Liebe" ebenfalls in Neapel angesiedelt und geht im Kern um häusliche Gewalt. Vor allem steht auch hier schon eine weibliche Beziehung im Mittelpunkt, allerdings keine horizontale wie in der Saga, sondern eine vertikale Verbindung, nämlich die zwischen einer Tochter und ihrer Mutter.
Und auch das Verschwinden nimmt wie später im Romanvierteiler bereits in diesem ersten literarischen Zeugnis Elena Ferrantes, die auch als Autorin die Anonymität vorzieht, eine zentrale Rolle ein. In der Saga ist es das Mädchen Lila, das von dem Wunsch besessen ist, zu verschwinden. Jahrzehnte später wird sie genau das schließlich auch tun - was für Lenù überhaupt erst zum Anlass wird, die Geschichte ihrer Freundin von den Anfängen im patriarchalen und mafiös durchsetzten Arbeiterviertel Rione zu ergründen. Indem Lenù die Vergangenheit befragt, will sie Aufschluss über die Gegenwart erhalten.
Ganz ähnlich verhält es sich im Roman "Lästige Liebe", der ebenfalls mit einem Verschwinden eröffnet wird. Die Comiczeichnerin Delia erwartet den Besuch ihrer Mutter in Rom und ist zunächst nicht sehr beunruhigt, als diese nicht auftaucht. Trotz ihrer Spannungen sehen die beiden sich regelmäßig, manchmal nimmt die Mutter einfach nur einen späteren Zug. Diesmal aber kommt Amalia nicht an, stattdessen erhält die Tochter mehrere beunruhigende Anrufe, in denen ihr die Mutter zunehmend verworrene Geschichten erzählt, dass sie nicht sprechen könne, da ein Mann bei ihr sei und dass sie verfolgt werde. "Geh schlafen. Ich nehme jetzt ein Bad", sind die letzten Worte von Amalia am Telefon. Am nächsten Tag wird ihr Leichnam an den Strand von Spaccavento gespült.
"Lästige Liebe" entfaltet sich im Folgenden zu einem Psychodrama über die unheilvollen Dynamiken einer dysfunktionalen Familie. Als Delia zur Beerdigung in die alte Heimatstadt Neapel fährt - was alte Wunden wieder aufreißt, die nur vermeintlich verheilt waren -, macht sie sich daran, herauszufinden, was ihrer Mutter in den Stunden vor ihrem Tod widerfahren ist. Wer war der Mann, der angeblich bei ihr war, und was hat es mit der ominösen Unterwäsche zu tun, die sie in einem Koffer findet? Delias Recherche führt tief in die Familiengeschichte. So begegnet sie ihrem einst gewalttätigen Vater, einem Maler, den sie, nachdem sich die Eltern früh getrennt hatten, jahrelang nicht gesehen hat. Wie eine Detektivin folgt sie den Mustern und Zeichen, doch je mehr sie forscht, umso unheimlicher ist, was zutage tritt, bis die junge Frau in eine Albtraumwelt abdriftet, die so nahtlos in das Geschehen eingewebt ist, dass der Leser stellenweise nicht mehr weiß, was real ist und was halluziniert.
Caserta, der mit Delias Vater nach dem Krieg einst Geschäfte machte und von dem es einmal heißt, sein Name klinge wie der eines Unholds aus dem Märchen, wird bald zur Schlüsselfigur nicht nur für die jüngsten Ereignisse, sondern für die gesamte Historie, und dass Delia mit diesem Namen Gefühle wie Schwindel und Atemnot verbindet, führt schließlich zum verdrängten Knoten. In diesen allerdings ist sie selbst aufs Unheilvollste verstrickt. Ferrantes Erzählbogen nimmt auch hier die neapolitanische Welt mikroskopisch in den Blick, und man kann diesen Roman als Psychothriller lesen, als Gesellschaftsroman, es gibt drastische Szenen über Misshandlung. Das Auffälligste aber ist die literarische Wildheit dieses Debüts, eine assoziative Glut. Sprachliche Wohlgeordnetheit für eine verstörend unaufgeräumte Welt wie in der Saga ist in diesem packenden Mutter-Tochter-Drama nicht anzutreffen.
SANDRA KEGEL
Elena Ferrante: "Lästige Liebe". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 206 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Nach dem Erfolg der 'Neapolitanischen Saga' erscheint Elena Ferrantes Debütroman in einer fabelhaften Neuübersetzung. In Lästige Liebe zeigt sich schon ihr feines Gefühl für Frauenfiguren.« Kathleen Hildebrand Süddeutsche Zeitung 20181107