Es ist eine glückliche Kindheit, gefolgt von erfüllten Jugendjahren. Sein Vater ist ein wohl situierter Kaufmann, Glaube und Tradition bestimmen das Leben der Familie. Als einziger der Geschwister darf Ludwig das Gymnasium besuchen. Er trainiert die Fußballmannschaft und singt im Synagogenchor. Es sind die letzten goldenen Jahre des deutsch-jüdischen Miteinanders, die 1930 mit dem Aufstieg der Nazis ein grausames Ende finden. "Lauft weg, so weit ihr könnt!", mahnt der Ortspfarrer die beiden Brüder Ludwig und Heinrich Seligmann. Kurz darauf, im März 1933, fliehen die jungen Männer aus Nazi-Deutschland nach Frankreich.
buecher-magazin.deWenn Axel Milberg liest, wird es einem warm ums Herz und es verliert sich das Bild eines Vorlesers. So lebendig werden die Atmosphären von Synagoge, Schule, Fußballplatz oder Kaufhaus-Büros, den entscheidenden Schauplätzen in Rafael Seligmanns Roman über seinen Vater. Er beschreibt die Zeit von 1914 bis zur Flucht Ludwigs nach Israel 1933 und damit die letzte Phase eines halbwegs selbstverständlichen Zusammenlebens zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Das Milieu ist die bayerisch-schwäbische Provinz. Hier wachsen Ludwig und sein älterer Bruder Heinrich auf. In einem Haushalt, in dem viel Wert auf jüdische Traditionen gelegt wird. Beide werden Kaufleute. Erst erfolgreich, dann immer stärker in Bedrängnis durch die Krisen der Zeit und Antisemitismus. Die Darstellung des bürgerlich jüdischen Lebens ist liebevoll, ohne beschönigend zu sein. Weil sie aus der Perspektive der Handelnden geschrieben ist, nicht mit dem (Besser-)Wissen von heute, wird u.a. plausibel, warum viele jüdische Familien trotz der Bedrohung Deutschland nicht sofort verließen. Milbergs ruhiger Erzählfluss krönt dieses Porträt einer prekären Zwischenzeit.
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2020Der kurze Traum vom kleinen Glück
Ein Roman über jüdisches Leben zur Nazizeit in der bayerischen Provinz: Raphael Seligmann erzählt vom Leben seines Vaters
Als die Eltern heirateten, wurden sie vom ganzen Ort gefeiert. Erst in der schönen Synagoge, die 1781 der Kirchenbaumeister Joseph Dossenberger errichtet hatte. Dann ging es unter dem Hochzeitsbaldachin hinaus ins Städtchen, der Synagogendiener spielte Klarinette, der Gesangsverein Zion sang, die christlichen Bewohner Ichenhausens riefen „Hoch die Brautleut‘“. So hat Isaak Seligmann seinem Sohn Ludwig von der Hochzeit erzählt, Ludwig erzählte es seinem Sohn Rafael, und der schrieb es auf. Im Sommer vergangenen Jahres ist „Lauf, Ludwig, lauf!“ erschienen.
Ichenhausen liegt südlich von Günzburg, in Bayerisch-Schwaben. Einst gehörte es zur Habsburger Markgrafschaft Burgau, die eine relativ tolerante Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung betrieben. Die Enklave zog jene an, die aus Augsburg und Memmingen vertrieben wurden, 1730 war Ichenhausen mit 700 Einwohnern die größte jüdische Gemeinde der Markgrafschaft, vor dem Ersten Weltkrieg lebten noch mehr als 400 Menschen jüdischen Glaubens dort, 1933 gut 300. Heute gibt es in Ichenhausen keine jüdische Gemeinde mehr, wer nicht emigrieren konnte, wurde ermordet. Seligmann schreibt, von den 220 Juden, die in die Todeslager deportiert wurden, überlebte einer. Nur die Synagoge steht noch. Zwar wurde sie in der Pogromnacht 1938 verwüstet und geschändet, aber nicht angezündet – der Mob hatte Angst um die eigenen Häuser. Heute ist sie eine Begegnungsstätte, und der blaue Sternenhimmel strahlt wieder so, wie er damals gestrahlt haben muss, als der kleine Ludwig zu ihm hinaufschaute.
Rafael Seligmann erzählt in „Lauf, Ludwig, lauf!“ die Kindheit seines Vaters, dessen Erwachsenwerden, dessen Flucht vor den Nazis. Seligmann selbst wurde 1947 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1957 in Deutschland und ist ein mitunter provokanter, eigenständig denkender Journalist und Publizist, hat mehrere Romane wie „Der Musterjude“ geschrieben und will nun in drei Teilen Familiengeschichte erzählen. Der vorliegende Band ist der erste davon.
Seligmann lässt seinen Vater Ludwig selbst erzählen. Das ist natürlich fundierte Fiktion, der Vater starb 1975, hinterließ aber einige Aufzeichnungen. Vor allem hatten Ludwig und sein Bruder Heinrich dem Sohn und Neffen viel erzählt. Und Rafael Seligmann baute es zu einem Roman zusammen. Dabei macht er gar keinen Hehl daraus, dass er nun seinen Vater angereichert mit dem Wissen des Nachgeborenen berichten lässt. Immer wieder hebt die Erzählperspektive ab zu einer Draufsicht, was das Verstehen erleichtert, ein stimmiges Gesamtbild des Landjudentums bis zum Beginn der Nazibarbarei entstehen lässt, aber zunächst auch mit dem eingangs eher kindlichen Erzählduktus kollidiert.
Zunächst lässt Seligmann seinen Vater von einer Idylle berichten, von einer behüteten Kindheit, dem religiösen Vater, dem Eingebundensein in die Gemeinde. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Bei seinem ersten Heimurlaub kehrt der Vater Isaak als stolzer Offizier heim; nach Ende des Krieges als gebrochener, verstörter, depressiver Mensch. Nicht nur die Gräuel der Schützengräben musste er erfahren, auch erste antisemitische Anfeindungen. „Statt dahin zu gehen, wo wir kämpften, hat der Kaiser nachzählen lassen, ob genug Juden an der Front gestanden und gefallen sind.“ Die oberen Offiziersränge blieben Juden verwehrt, zusammenschießen aber durften sie sich lassen. Zwei Seiten später bekommt Ludwig von einem Lehrer am Gymnasium Günzburg zu hören, er sei ja gar kein richtiger Deutscher.
Ludwig ist begabt. Mit einer schönen Stimme und einem flinken Kopf. Den Besuch des Gymnasiums sparen sich die Eltern vom Mund ab, der ältere Bruder Heinrich muss Metzger werden und ist sauer. Lange geht es ohnehin nicht gut, Vater Isaak kann wegen seiner Depression das Geschäft nicht mehr führen, Ludwig muss zurück nach Ichenhausen, um seinem Bruder dabei zu helfen, Arbeitskleidung an die Bauern zu verkaufen. Die haben aber auch kein Geld mehr. Seligmann erzählt hier einerseits jüdisches Leben, andererseits auch einen Roman der Zeit, Kapp-Putsch, Hitlers Umsturzversuch in München, aus weiter Ferne wahrgenommen. Unmittelbarer trifft die Inflation, wer Waren hat, geht jedoch gestärkt daraus hervor. Das lernt Ludwig beim Ulmer Kaufmann Bodenheimer, der kräftig expandiert und Ludwig gern als seinen Sohn sähe. Dann kommt der New Yorker Börsencrash, die Aktien fallen ins Bodenlose, deutsche Banken gehen pleite, in Lindau gibt es den ersten Nazi-Oberbürgermeister Deutschlands, Seligmanns Schuldner zahlen nicht, die von Bodenheimer noch weniger – mit dem Juden kann man es ja machen. Bodenheimer bringt sich um, Ricarda, seine von Ludwig mit knieweicher Faszination beäugte Tochter, wird in Palästina einen Kibbuz mitaufbauen. Jahre später trifft Ludwig sie dort wieder.
Auch die Seligmanns kommen gut aus der Inflation. Das Geschäft beginnt zu brummen, selbst der Vater schöpft neuen Lebensmut, die Brüder fahren mit dem Chevrolet nach München, gehen in die Oper, wohnen im Bayerischen Hof, das Doppelzimmer 52 Mark. „Doch das außergewöhnlich teure Hotel und das arrogante Publikum im Spatenhaus, das wir nach der Aufführung aufsuchten, blieben mir fremd.“ Mit dem Schwarzen Freitag ist alles vorbei. Seligmann erzählt sehr geradlinig den Aufstieg der Nazis anhand des wirtschaftlichen Abstiegs Deutschlands, was in sich vollkommen plausibel, aber vielleicht nicht die ganze Wahrheit ist. Liest sich aber hundertprozentig schlüssig.
Ach, da sind dann noch Amouren. Ludwig verbringt seine erste Nacht mit einer Frau. Ein patentes Serviermädel, auf Vertreterreisen kommt man rum. Und lebensweise ist sie auch, sagt ihm am Morgen, „deine Leut’ werden’s nie zulassen, dass du a Schickse heirat’st“. Daran verblüfft, dass eine Mindelheimer Wirtshausbedienung das jiddische Wort Schickse (nichtjüdische Frau) kennt, so viel zur Draufsicht. Nach kurzer Trübsal gerät Ludwig in die Fänge der Ichenhausener Kantorengattin, deren Mann keine Lust auf den Vollzug der Ehe hat, und das schon seit zehn Jahren, was zu einer einmaligen Explosion der Wollust führt, vor deren Fortsetzung Ludwig flieht.
Es ist, gerade in den Jahren zwischen 1923 und 1929, ein rasantes, aber auch immer wieder kleines Leben, das die beiden jungen Männer führen. Ludwig wurde 1907 geboren, sein Bruder Heinrich 1905. Dann fangen die politischen Ereignisse an, über sie hinweg zu poltern, die Nazis kommen hoch – Seligmann schildert sehr plastisch die Illegitimität der Machtergreifung –, der Traum von einem kleinen Glück ist aus. Beide Brüder haben nichtjüdische Frauen, Ludwig wird verdroschen, das Geschäft beschmiert, ein Freund warnt sie vor der Verhaftung. Sie sollen nach Dachau gebracht werden, fliehen indes in die Schweiz, von dort ins Elsass, schließlich nach Palästina, wohin sie Vater und Mutter nachholen. Für die meisten Juden Ichenhausens, für die, die die Bedrohung nicht wahrhaben wollen, ist es bald zu spät.
Ludwig spielte ungeheuer gern und gut Fußball, er war schneller als jeder andere. In Ichenhausen galt er bald als Tor-Garant. „Lauf, Ludwig, lauf!“, so trieben ihn die Zuschauer nach vorn. Bis 1933. Dann durfte er nicht mehr mitspielen. Zum letzten Mal hört Ludwig den Satz vom Prälat Sinsheimer. Lauf weg, und zwar möglichst weit. Am nächsten Tag ist er in der Schweiz.
EGBERT THOLL
Rafael Seligmann: Lauf, Ludwig, lauf, Langenmüller, 320 Seiten, 24 Euro; auch verfügbar als Hörbuch CD, eBook epub und Hörbuch Download
Sein Lehrer am Gymnasium
sagt zu Ludwig, er sei
kein richtiger Deutscher
Als junger Mann wusste Raphael Seligmann das Leben zu genießen – bis die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Foto: Privat
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Ein Roman über jüdisches Leben zur Nazizeit in der bayerischen Provinz: Raphael Seligmann erzählt vom Leben seines Vaters
Als die Eltern heirateten, wurden sie vom ganzen Ort gefeiert. Erst in der schönen Synagoge, die 1781 der Kirchenbaumeister Joseph Dossenberger errichtet hatte. Dann ging es unter dem Hochzeitsbaldachin hinaus ins Städtchen, der Synagogendiener spielte Klarinette, der Gesangsverein Zion sang, die christlichen Bewohner Ichenhausens riefen „Hoch die Brautleut‘“. So hat Isaak Seligmann seinem Sohn Ludwig von der Hochzeit erzählt, Ludwig erzählte es seinem Sohn Rafael, und der schrieb es auf. Im Sommer vergangenen Jahres ist „Lauf, Ludwig, lauf!“ erschienen.
Ichenhausen liegt südlich von Günzburg, in Bayerisch-Schwaben. Einst gehörte es zur Habsburger Markgrafschaft Burgau, die eine relativ tolerante Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung betrieben. Die Enklave zog jene an, die aus Augsburg und Memmingen vertrieben wurden, 1730 war Ichenhausen mit 700 Einwohnern die größte jüdische Gemeinde der Markgrafschaft, vor dem Ersten Weltkrieg lebten noch mehr als 400 Menschen jüdischen Glaubens dort, 1933 gut 300. Heute gibt es in Ichenhausen keine jüdische Gemeinde mehr, wer nicht emigrieren konnte, wurde ermordet. Seligmann schreibt, von den 220 Juden, die in die Todeslager deportiert wurden, überlebte einer. Nur die Synagoge steht noch. Zwar wurde sie in der Pogromnacht 1938 verwüstet und geschändet, aber nicht angezündet – der Mob hatte Angst um die eigenen Häuser. Heute ist sie eine Begegnungsstätte, und der blaue Sternenhimmel strahlt wieder so, wie er damals gestrahlt haben muss, als der kleine Ludwig zu ihm hinaufschaute.
Rafael Seligmann erzählt in „Lauf, Ludwig, lauf!“ die Kindheit seines Vaters, dessen Erwachsenwerden, dessen Flucht vor den Nazis. Seligmann selbst wurde 1947 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1957 in Deutschland und ist ein mitunter provokanter, eigenständig denkender Journalist und Publizist, hat mehrere Romane wie „Der Musterjude“ geschrieben und will nun in drei Teilen Familiengeschichte erzählen. Der vorliegende Band ist der erste davon.
Seligmann lässt seinen Vater Ludwig selbst erzählen. Das ist natürlich fundierte Fiktion, der Vater starb 1975, hinterließ aber einige Aufzeichnungen. Vor allem hatten Ludwig und sein Bruder Heinrich dem Sohn und Neffen viel erzählt. Und Rafael Seligmann baute es zu einem Roman zusammen. Dabei macht er gar keinen Hehl daraus, dass er nun seinen Vater angereichert mit dem Wissen des Nachgeborenen berichten lässt. Immer wieder hebt die Erzählperspektive ab zu einer Draufsicht, was das Verstehen erleichtert, ein stimmiges Gesamtbild des Landjudentums bis zum Beginn der Nazibarbarei entstehen lässt, aber zunächst auch mit dem eingangs eher kindlichen Erzählduktus kollidiert.
Zunächst lässt Seligmann seinen Vater von einer Idylle berichten, von einer behüteten Kindheit, dem religiösen Vater, dem Eingebundensein in die Gemeinde. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Bei seinem ersten Heimurlaub kehrt der Vater Isaak als stolzer Offizier heim; nach Ende des Krieges als gebrochener, verstörter, depressiver Mensch. Nicht nur die Gräuel der Schützengräben musste er erfahren, auch erste antisemitische Anfeindungen. „Statt dahin zu gehen, wo wir kämpften, hat der Kaiser nachzählen lassen, ob genug Juden an der Front gestanden und gefallen sind.“ Die oberen Offiziersränge blieben Juden verwehrt, zusammenschießen aber durften sie sich lassen. Zwei Seiten später bekommt Ludwig von einem Lehrer am Gymnasium Günzburg zu hören, er sei ja gar kein richtiger Deutscher.
Ludwig ist begabt. Mit einer schönen Stimme und einem flinken Kopf. Den Besuch des Gymnasiums sparen sich die Eltern vom Mund ab, der ältere Bruder Heinrich muss Metzger werden und ist sauer. Lange geht es ohnehin nicht gut, Vater Isaak kann wegen seiner Depression das Geschäft nicht mehr führen, Ludwig muss zurück nach Ichenhausen, um seinem Bruder dabei zu helfen, Arbeitskleidung an die Bauern zu verkaufen. Die haben aber auch kein Geld mehr. Seligmann erzählt hier einerseits jüdisches Leben, andererseits auch einen Roman der Zeit, Kapp-Putsch, Hitlers Umsturzversuch in München, aus weiter Ferne wahrgenommen. Unmittelbarer trifft die Inflation, wer Waren hat, geht jedoch gestärkt daraus hervor. Das lernt Ludwig beim Ulmer Kaufmann Bodenheimer, der kräftig expandiert und Ludwig gern als seinen Sohn sähe. Dann kommt der New Yorker Börsencrash, die Aktien fallen ins Bodenlose, deutsche Banken gehen pleite, in Lindau gibt es den ersten Nazi-Oberbürgermeister Deutschlands, Seligmanns Schuldner zahlen nicht, die von Bodenheimer noch weniger – mit dem Juden kann man es ja machen. Bodenheimer bringt sich um, Ricarda, seine von Ludwig mit knieweicher Faszination beäugte Tochter, wird in Palästina einen Kibbuz mitaufbauen. Jahre später trifft Ludwig sie dort wieder.
Auch die Seligmanns kommen gut aus der Inflation. Das Geschäft beginnt zu brummen, selbst der Vater schöpft neuen Lebensmut, die Brüder fahren mit dem Chevrolet nach München, gehen in die Oper, wohnen im Bayerischen Hof, das Doppelzimmer 52 Mark. „Doch das außergewöhnlich teure Hotel und das arrogante Publikum im Spatenhaus, das wir nach der Aufführung aufsuchten, blieben mir fremd.“ Mit dem Schwarzen Freitag ist alles vorbei. Seligmann erzählt sehr geradlinig den Aufstieg der Nazis anhand des wirtschaftlichen Abstiegs Deutschlands, was in sich vollkommen plausibel, aber vielleicht nicht die ganze Wahrheit ist. Liest sich aber hundertprozentig schlüssig.
Ach, da sind dann noch Amouren. Ludwig verbringt seine erste Nacht mit einer Frau. Ein patentes Serviermädel, auf Vertreterreisen kommt man rum. Und lebensweise ist sie auch, sagt ihm am Morgen, „deine Leut’ werden’s nie zulassen, dass du a Schickse heirat’st“. Daran verblüfft, dass eine Mindelheimer Wirtshausbedienung das jiddische Wort Schickse (nichtjüdische Frau) kennt, so viel zur Draufsicht. Nach kurzer Trübsal gerät Ludwig in die Fänge der Ichenhausener Kantorengattin, deren Mann keine Lust auf den Vollzug der Ehe hat, und das schon seit zehn Jahren, was zu einer einmaligen Explosion der Wollust führt, vor deren Fortsetzung Ludwig flieht.
Es ist, gerade in den Jahren zwischen 1923 und 1929, ein rasantes, aber auch immer wieder kleines Leben, das die beiden jungen Männer führen. Ludwig wurde 1907 geboren, sein Bruder Heinrich 1905. Dann fangen die politischen Ereignisse an, über sie hinweg zu poltern, die Nazis kommen hoch – Seligmann schildert sehr plastisch die Illegitimität der Machtergreifung –, der Traum von einem kleinen Glück ist aus. Beide Brüder haben nichtjüdische Frauen, Ludwig wird verdroschen, das Geschäft beschmiert, ein Freund warnt sie vor der Verhaftung. Sie sollen nach Dachau gebracht werden, fliehen indes in die Schweiz, von dort ins Elsass, schließlich nach Palästina, wohin sie Vater und Mutter nachholen. Für die meisten Juden Ichenhausens, für die, die die Bedrohung nicht wahrhaben wollen, ist es bald zu spät.
Ludwig spielte ungeheuer gern und gut Fußball, er war schneller als jeder andere. In Ichenhausen galt er bald als Tor-Garant. „Lauf, Ludwig, lauf!“, so trieben ihn die Zuschauer nach vorn. Bis 1933. Dann durfte er nicht mehr mitspielen. Zum letzten Mal hört Ludwig den Satz vom Prälat Sinsheimer. Lauf weg, und zwar möglichst weit. Am nächsten Tag ist er in der Schweiz.
EGBERT THOLL
Rafael Seligmann: Lauf, Ludwig, lauf, Langenmüller, 320 Seiten, 24 Euro; auch verfügbar als Hörbuch CD, eBook epub und Hörbuch Download
Sein Lehrer am Gymnasium
sagt zu Ludwig, er sei
kein richtiger Deutscher
Als junger Mann wusste Raphael Seligmann das Leben zu genießen – bis die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Foto: Privat
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