Der neue Mercier! Die Frage nach der Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz und danach, ob wir den Gang unseres Lebens wirklich selbst bestimmen können, stellt Pascal Mercier in seinem neuen Buch Lea . Nach dem großen Erfolg des Hörbuchs Nachtzug nach Lissabon , gelingt es Mercier erneut, philosophische Reflexion, psychologische Einfühlung und erzählerische Virtuosität zu einer einzigartigen Geschichte zu verflechten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2007Die Seele hängt voller Geigen
Schicksalsmelodie: Pascal Merciers Künstlermelodram "Lea"
Schreibt er Frauenbücher für Männer oder Männerbücher für Frauen? Peter Bieri alias Pascal Mercier legt jetzt eine neue Novelle vor, in der alles drin ist: Herz, Schmerz und viel Schicksal - ein echter Schmachtfetzen.
Frauen, die lesen, gelten als gefährlich. Iris Berben wollte ihr Leben ändern, nachdem sie "Nachtzug nach Lissabon" verschlungen hatte, und ähnlich erging es 1,5 Millionen anderen Lesern und vor allem Leserinnen. Pascal Mercier, als Philosophieprofessor und Schweizer auch unter dem redlichen Namen Peter Bieri bekannt, komponiert barocken Weltekel, romantischen Weltschmerz und zeitgenössisch "gewaltlose Stärke" zu aufwühlenden Schicksalssinfonien. Mensch, werde wesentlich, sagt der Vordenker der Willensfreiheit gegen die Hirnforschung, lass ab von eitlem Tand, Geld- und Ruhmbegier und bedenke: Was die Erfolgreichen, Selbstsicheren Glück nennen, ist fadenscheinig und nur geliehen. Dem Manne ziemt es, Verantwortung zu übernehmen, und wenn er strauchelt, so bleibt er doch gerechtfertigt, solange er sanft gekämpft und tapfer gelitten hat.
Schreibt Mercier Frauenliteratur für Männer oder Männergeschichten für Frauen? Das Fragezeichen ist jedenfalls sein Markenzeichen, die krisenhafte Selbsterkenntnis und Umkehr älterer Männer sind sein Erfolgsrezept. Erfolgreiche Sprachwissenschaftler ("Perlmanns Schweigen"), erfolglose Künstler ("Der Klavierstimmer"), ausgebrannte Lehrer ("Nachtzug nach Lissabon"): Alle werden plötzlich und schmerzhaft vom Anhauch radikaler Selbstzweifel getroffen, aus der "natürlichen Selbstverständlichkeit des Lebens" heraus- und hineingerissen in unerhörte Abenteuer der Seele, Dramen von Verbrechen und Erleuchtung, Schuld und Sühne.
"Plötzlich und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür", heißt es auch in "Lea", Merciers neuem Roman, "wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana." Mercier reiht seine alten Motive wie an einer Perlenschnur auf, und keines tanzt vorwitzig aus der Reihe. "Lea" ist eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet. Auf der einen Seite die Väter, stark im Labor und Büro, Versager in der Liebe und in der "Leidenschaft des Verstehens"; am weiblichen Wärmepol: Töchter, Mütter, Frauen, beseelt, nachdenklich, unglücklich. Kühle Vernunft steht gegen künstlerische Ekstase, Schach- gegen Geigenspiel, Biokybernetik gegen Hingabe und Schmerz, Leben und Tod.
Der erfolgreiche Biokybernetiker Martijn van Vliet will seiner vernachlässigten Tochter Lea den Himmel voller Geigen hängen und vergeigt dabei alles: Karriere, Ruf, Leas und sein eigenes Leben. Lea erwachte mit acht Jahren vom Mädchen zur eigenwilligen Frau, als sie im Berner Bahnhof eine Straßenmusikantin Bachs Violinpartita in E-Dur spielen hörte. Da ist es um sie geschehen. Lea, die Heilige und "Hohepriesterin" der Musik, will einen "Dom aus Klarheit und nachtschwarzem Azur", eine "unvergleichliche Kathedrale aus sakralen Tönen" erbauen, die "heilige Messe der gestrichenen Töne" zelebrieren.
Papa, geschieden und schuldbewusst, würde ihr gern dabei helfen, reißt aber mit seiner Fürsorglichkeit, Angst und Eifersucht den herrlichen Sakralbau immer wieder ein. Lea wird immer störrischer und seltsamer, erwählt sich gegen den Willen des Vaters Marie Pasteur (charismatisch wie Marie Curie und Louis Pasteur zusammen) zur Lehrerin und den affigen alten Franzosen David zum Liebhaber. Wie im Tennis einst Vater Graf und Steffi, so entfremden sich van Vliet und "Fräulein Bach" auf langen Tourneen. Als Lea unter der "Tyrannei ihrer Begabung" zusammenbricht, sieht der Vater seine Chance gekommen: In der Hoffnung, die Tochter mit der teuersten Geige der Welt, einer Guarneri del Gesù, für sich und die Musik zurückzugewinnen, unterschlägt er Forschungsgelder und fährt nach Cremona. Die Folie à deux zwischen Vater und Wunderkind kann nur in einer Tragödie enden. Lea macht aus der Wundergeige und Vaters Seelenfrieden Kleinholz.
Dass es so kommen wird, steht von vornherein fest. Mercier spart weder an düster-ahnungsvollen Prophezeiungen noch an den passenden Fragen: "Was hatte er falsch gemacht? Was musste er sich vorwerfen? Falsches Tun? Falsches Empfinden?" Die Antworten sind vorhersehbar, die Klischees bekannt; aber immerhin ist "Lea" druckvoll erzählt und solide gebaut. Van Vliet erzählt seine traurige Geschichte einer Zufallsbekanntschaft im Provence-Urlaub. Auf der Fahrt in die Heimatstadt Bern entdeckt der Zuhörer, ein posttraumatisch zitternder Starchirurg, in der Schicksalssinfonie des Fremden seine eigene; bald beginnen die Männerfreunde einander scheue Zärtlichkeiten, Wunden und Tränen zu zeigen.
Mercier geht verschwenderisch um mit Adjektiven wie "sakral", "geheimnis-" und vor allem "seelenvoll". Es leuchtet nicht ganz ein, warum sein Biokybernetiker den Lackaffen David für Wörter wie "sublime" tadelt, wo er doch selber "hallucinant" verwendet und immer ins Französische, Italienische und Kursive fällt, wo es um Delikates oder Schicksalhaftes geht, was sich auf deutsch kitschig anhören würde. So geht die "geheimnisvolle Violinprinzessin" den langen "entsagungsvollen Weg durch die Welt der Töne in einem verzehrenden Fieber" bis zum bittersüßen Ende. "Lea" ist ein Schmachtfetzen erster Güte, auf kostbar getrimmt von der altarmenischen Grabinschrift des Mottos bis zu den Chintz-Orgien Leas. Mercier zitiert Dichter wie Auden und Whitman, tapeziert seine Provence mit Van-Gogh-Bildern und französischen Autorenfilmen; Lea hat er nach dem Ebenbild von Emmanuelle Béart in "Ein Herz im Winter" gemalt.
Fremd und schemenhaft bleibt uns die seelenvolle "Charakterfee" trotzdem. Der Erzähler vergleicht die späte Lea in ihrer roboterhaften "sakralen Sprödheit" mit einer Porzellanfigur vor dem Zerspringen; sie ist eher ein Spielball alternder Männer. "Wo stünde ich heute, wenn ich mich nicht der ungeheuren Herausforderung durch Leas Begabung gegenübergesehen hätte, der ich in keiner Weise gewachsen war?", fragt van Vliet. Er stünde vermutlich noch mitten im Leben und müsste nicht vor den Sublimen und Arroganten den plumpen Holländer aus dem Berner Viertel Bümpliz spielen - und Peter Bieri nicht Pascal Mercier, den braven Berner im Spitzenjabot des französischen Philosophen.
Im "Nachtzug nach Lissabon" entgleiste ein Lehrer; diesmal holt Mercier - weniger philosophisch, dafür eintöniger, pathetischer orgelnd - auf die alte Künstlertragödie aus dem Geigenkasten. Wäre es nur dabei geblieben!
MARTIN HALTER
Pascal Mercier: "Lea". Novelle. Hanser Verlag, München 2007. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schicksalsmelodie: Pascal Merciers Künstlermelodram "Lea"
Schreibt er Frauenbücher für Männer oder Männerbücher für Frauen? Peter Bieri alias Pascal Mercier legt jetzt eine neue Novelle vor, in der alles drin ist: Herz, Schmerz und viel Schicksal - ein echter Schmachtfetzen.
Frauen, die lesen, gelten als gefährlich. Iris Berben wollte ihr Leben ändern, nachdem sie "Nachtzug nach Lissabon" verschlungen hatte, und ähnlich erging es 1,5 Millionen anderen Lesern und vor allem Leserinnen. Pascal Mercier, als Philosophieprofessor und Schweizer auch unter dem redlichen Namen Peter Bieri bekannt, komponiert barocken Weltekel, romantischen Weltschmerz und zeitgenössisch "gewaltlose Stärke" zu aufwühlenden Schicksalssinfonien. Mensch, werde wesentlich, sagt der Vordenker der Willensfreiheit gegen die Hirnforschung, lass ab von eitlem Tand, Geld- und Ruhmbegier und bedenke: Was die Erfolgreichen, Selbstsicheren Glück nennen, ist fadenscheinig und nur geliehen. Dem Manne ziemt es, Verantwortung zu übernehmen, und wenn er strauchelt, so bleibt er doch gerechtfertigt, solange er sanft gekämpft und tapfer gelitten hat.
Schreibt Mercier Frauenliteratur für Männer oder Männergeschichten für Frauen? Das Fragezeichen ist jedenfalls sein Markenzeichen, die krisenhafte Selbsterkenntnis und Umkehr älterer Männer sind sein Erfolgsrezept. Erfolgreiche Sprachwissenschaftler ("Perlmanns Schweigen"), erfolglose Künstler ("Der Klavierstimmer"), ausgebrannte Lehrer ("Nachtzug nach Lissabon"): Alle werden plötzlich und schmerzhaft vom Anhauch radikaler Selbstzweifel getroffen, aus der "natürlichen Selbstverständlichkeit des Lebens" heraus- und hineingerissen in unerhörte Abenteuer der Seele, Dramen von Verbrechen und Erleuchtung, Schuld und Sühne.
"Plötzlich und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür", heißt es auch in "Lea", Merciers neuem Roman, "wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana." Mercier reiht seine alten Motive wie an einer Perlenschnur auf, und keines tanzt vorwitzig aus der Reihe. "Lea" ist eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet. Auf der einen Seite die Väter, stark im Labor und Büro, Versager in der Liebe und in der "Leidenschaft des Verstehens"; am weiblichen Wärmepol: Töchter, Mütter, Frauen, beseelt, nachdenklich, unglücklich. Kühle Vernunft steht gegen künstlerische Ekstase, Schach- gegen Geigenspiel, Biokybernetik gegen Hingabe und Schmerz, Leben und Tod.
Der erfolgreiche Biokybernetiker Martijn van Vliet will seiner vernachlässigten Tochter Lea den Himmel voller Geigen hängen und vergeigt dabei alles: Karriere, Ruf, Leas und sein eigenes Leben. Lea erwachte mit acht Jahren vom Mädchen zur eigenwilligen Frau, als sie im Berner Bahnhof eine Straßenmusikantin Bachs Violinpartita in E-Dur spielen hörte. Da ist es um sie geschehen. Lea, die Heilige und "Hohepriesterin" der Musik, will einen "Dom aus Klarheit und nachtschwarzem Azur", eine "unvergleichliche Kathedrale aus sakralen Tönen" erbauen, die "heilige Messe der gestrichenen Töne" zelebrieren.
Papa, geschieden und schuldbewusst, würde ihr gern dabei helfen, reißt aber mit seiner Fürsorglichkeit, Angst und Eifersucht den herrlichen Sakralbau immer wieder ein. Lea wird immer störrischer und seltsamer, erwählt sich gegen den Willen des Vaters Marie Pasteur (charismatisch wie Marie Curie und Louis Pasteur zusammen) zur Lehrerin und den affigen alten Franzosen David zum Liebhaber. Wie im Tennis einst Vater Graf und Steffi, so entfremden sich van Vliet und "Fräulein Bach" auf langen Tourneen. Als Lea unter der "Tyrannei ihrer Begabung" zusammenbricht, sieht der Vater seine Chance gekommen: In der Hoffnung, die Tochter mit der teuersten Geige der Welt, einer Guarneri del Gesù, für sich und die Musik zurückzugewinnen, unterschlägt er Forschungsgelder und fährt nach Cremona. Die Folie à deux zwischen Vater und Wunderkind kann nur in einer Tragödie enden. Lea macht aus der Wundergeige und Vaters Seelenfrieden Kleinholz.
Dass es so kommen wird, steht von vornherein fest. Mercier spart weder an düster-ahnungsvollen Prophezeiungen noch an den passenden Fragen: "Was hatte er falsch gemacht? Was musste er sich vorwerfen? Falsches Tun? Falsches Empfinden?" Die Antworten sind vorhersehbar, die Klischees bekannt; aber immerhin ist "Lea" druckvoll erzählt und solide gebaut. Van Vliet erzählt seine traurige Geschichte einer Zufallsbekanntschaft im Provence-Urlaub. Auf der Fahrt in die Heimatstadt Bern entdeckt der Zuhörer, ein posttraumatisch zitternder Starchirurg, in der Schicksalssinfonie des Fremden seine eigene; bald beginnen die Männerfreunde einander scheue Zärtlichkeiten, Wunden und Tränen zu zeigen.
Mercier geht verschwenderisch um mit Adjektiven wie "sakral", "geheimnis-" und vor allem "seelenvoll". Es leuchtet nicht ganz ein, warum sein Biokybernetiker den Lackaffen David für Wörter wie "sublime" tadelt, wo er doch selber "hallucinant" verwendet und immer ins Französische, Italienische und Kursive fällt, wo es um Delikates oder Schicksalhaftes geht, was sich auf deutsch kitschig anhören würde. So geht die "geheimnisvolle Violinprinzessin" den langen "entsagungsvollen Weg durch die Welt der Töne in einem verzehrenden Fieber" bis zum bittersüßen Ende. "Lea" ist ein Schmachtfetzen erster Güte, auf kostbar getrimmt von der altarmenischen Grabinschrift des Mottos bis zu den Chintz-Orgien Leas. Mercier zitiert Dichter wie Auden und Whitman, tapeziert seine Provence mit Van-Gogh-Bildern und französischen Autorenfilmen; Lea hat er nach dem Ebenbild von Emmanuelle Béart in "Ein Herz im Winter" gemalt.
Fremd und schemenhaft bleibt uns die seelenvolle "Charakterfee" trotzdem. Der Erzähler vergleicht die späte Lea in ihrer roboterhaften "sakralen Sprödheit" mit einer Porzellanfigur vor dem Zerspringen; sie ist eher ein Spielball alternder Männer. "Wo stünde ich heute, wenn ich mich nicht der ungeheuren Herausforderung durch Leas Begabung gegenübergesehen hätte, der ich in keiner Weise gewachsen war?", fragt van Vliet. Er stünde vermutlich noch mitten im Leben und müsste nicht vor den Sublimen und Arroganten den plumpen Holländer aus dem Berner Viertel Bümpliz spielen - und Peter Bieri nicht Pascal Mercier, den braven Berner im Spitzenjabot des französischen Philosophen.
Im "Nachtzug nach Lissabon" entgleiste ein Lehrer; diesmal holt Mercier - weniger philosophisch, dafür eintöniger, pathetischer orgelnd - auf die alte Künstlertragödie aus dem Geigenkasten. Wäre es nur dabei geblieben!
MARTIN HALTER
Pascal Mercier: "Lea". Novelle. Hanser Verlag, München 2007. 253 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2007Mit dieser Geige findet sie den Tod
„Jugend musiziert” muss nicht in jedem Fall ein gutes Therapieprogramm sein: Pascal Mercier vergreift sich in seiner Novelle „Lea”
Ein wunderbares Novellenthema. Doch ein verschenktes Buch. Man muss es also in der Möglichkeitsform lesen und sich auf jeder Seite vorstellen, wie es wäre, wenn der begabte Erzähler Pascal Mercier diese Geschichte von Lea, dem Mädchen, das von der lähmenden Trauer nach dem Tod der Mutter über das Hochgefühl des Geigenspiels in Wahnsinn und Tod endet, tatsächlich in den straffen Ton der Novelle gebracht hätte. Die Anfangsszene könnte dieselbe sein wie in diesem Buch: ein Café in der Provence. Dem Erzähler Adrian Herzog, auch er Vater einer ihm entwachsenen Tochter, läuft dort Martijn van Vliet, der Vater Leas, über den Weg. Beide kommen zufällig aus Bern und beschließen, den Heimweg gemeinsam anzutreten. Rollte in Merciers „Nachtzug nach Lissabon” das Erzählen westwärts, fährt es hier im Auto über Valence und Genf also in die andere Richtung. Das weckt bei einem Autor wie Mercier große Erwartung. Statt die traurige Geschichte von Lea aus dem Mund van Vliets auf dem Beifahrersitz bestimmt und schnell vorbeiziehen zu lassen wie die Landschaft jenseits der Windschutzscheibe, hält die Erzählung sich aber bei jeder Gefühlsgabelung, jedem Verzweiflungstunnel, jedem Hoffnungstümpel auf, als hätte das Auto nicht mehr als zwei Gänge. So hat dieses Buch hundertdreißig Seiten zu viel.
Dass die Fahrt mit dem immerfort zum Flachmann und zu den Zigaretten greifenden van Vliet keine Vergnügungstour sein würde, ist dem Beobachter Adrian bald klar. Er hat bemerkt, dass der Mann bei jedem auf der Landstraße entgegenkommenden Lastwagen kurz die Hände vom Steuer nimmt: offenbar, um nicht das Falsche zu tun. Es sei das letzte Mal, dass er diese Strecke zwischen Bern und Saint-Rémy-en-Provence abfahre, sagt der Fremde. Seine Tochter Lea war dort interniert gewesen und unzählige Male war er heimlich angereist, um sie mit dem Fernglas im Anstaltsgarten zu beobachten. Der Arzt hatte ihm jeden Kontakt mit ihr untersagt. Wie es dazu kam, erfahren wir aus der schwermütigen Hypothesenkaskade – „ach, wäre doch dieses und jenes anders gelaufen!” – der Erzählung, die van Vliet drei Tage lang an Mittelmeerstränden, Restauranttischen, in Hotels, auf Seepromenaden und eben auf dem Beifahrersitz von sich gibt.
Mit der verstorbenen Mutter schienen vor knapp zwanzig Jahren auch die Lebensgeister von der kleinen Lea gewichen zu sein, bis sie eines Tages in der Berner Bahnhofshalle stehenblieb, an der Hand des Vaters zerrte und mit heller, bestimmter Stimme „Écoute!” sagte. Eine Frau spielte in der Menge Bachs E-Dur-Partita. Hätte der Vater die Kleine damals besser einfach fortziehen sollen? Wäre sie auch auf andere Weise als durch Geigenklänge aus ihrer Dumpfheit erwacht? Wäre ihr Talent dennoch ans Licht gekommen? Und was wäre aus ihm, dem Vater, geworden? – So und ähnlich spekuliert bei Mercier der Erzählende umständlich drauflos, wo das Geschehen schon längst weiter sein sollte.
Im Aufglühen der begabten Tochter beim Geigenunterricht verblasst die brillante Karriere des Vaters als Forscher an der Universität. Er versäumt wichtige Sitzungen über der Freude am Wiederaufleben des Mädchens – und ahnt doch dumpf, dass etwas falsch läuft. „Ich habe mit einer Geige das Leben meiner Tochter zerstört”, sagte er sich später manchmal, wenn er sie durchs Fernglas in der Anstalt beobachtete. Die Kleine war wild auf „il diabolo” Paganini und suchte mit Fingerdehnübungen dessen teuflische Griffe nachzuvollziehen. Der Vater wagte nicht einzugreifen. Er fürchtete, die Töne könnten aus der Wohnung verschwinden. Genau dies trat dann aber ein, als Lea Wettbewerbe gewann, die ersten Konzerte gab und im neuen Geigenlehrer einen Meister, Gönner, Halbgott und heimlichen Geliebten fand. Der Vater hasste diesen Musiker und vernachlässigte darüber ganz die kleinen Fehlleistungen und Symptome, in denen die Verwirrung Leas sich ankündigte. Er wollte das kleine Mädchen nicht loslassen.
Nicht nur die Zwischenhalte tagsüber auf der Autobahn und nachts im Hotel, die Griffe zu Flachmann oder Weinflasche im Restaurant rahmen im Buch periodisch die Erzählungen van Vliets. Der Zuhörer Adrian Herzog hat selbst seine Geschichte. Er war gerade bei seiner ihm stets fremd gebliebenen Tochter in Avignon und kennt selbst auch jenen kritischen Augenblick, wo Virtuosität in Selbstverlust umkippen kann. „Mach du es, Paul” – hatte er, der Starchirurg, eines Tages am Operationstisch plötzlich zum Oberarzt sagen müssen, weil ihm nach einem knapp verhinderten Autounfall hinter dem Mundschutz der Schweiß trieb und die Luft fehlte. Und wenn sein Begleiter im Nebenzimmer schnarcht, liest Herzog nachts auf der Rückreise nach Bern Somerset Maugham.
Das alles könnte eine Novelle gut vertragen – wäre sie nur nicht so lose geschnürt. Pedantische Ausdrücklichkeit, geschwätzige Wortwiederholungen wie „Doch jetzt machte es nichts. Irgendwie machte es nichts” und an Kitsch grenzende Gefühlsbeschreibung verderben das Ganze. Zügig wird die Geschichte erst im letzten Drittel des Buchs. Lea ist mittlerweile zwanzig geworden. Die Anführungszeichen von van Vliets direkter Rede werden seltener, Adrian übernimmt öfter nun aus der Erinnerung selbst das Erzählen, und die Geschichte steuert geradewegs auf die Katastrophe zu. Krise der plötzlich nur noch herumhängenden Lea, der schon die Gedanken verrutschen, surreal wirkende Reise des Vaters nach Cremona zum Kauf einer „Guarneri del Gesù”, obskure Geldtransaktionen auf ein Nummernkonto, Täuschungsmanöver gegenüber den Universitätskollegen, Jonglieren mit Computercodes für den Zugang zur Institutsbuchhaltung, neue Triumphe der Tochter – und dann der furchtbare Moment nach Leas Konzert in Stockholm auf der Hoteltreppe: An diesen Stellen kehrt das große Erzähltalent Pascal Merciers wieder, mag er auch selbst hier manchmal mit überflüssigen Rückblenden oder Erläuterungen sich ins Handwerk pfuschen. Das Ergebnis ist ein enttäuschendes Buch eines Autors, der viel kann, sich viel vornahm und, um das Risiko des Unternehmens offenbar wissend, auf die kleine Form setzte, die zu groß geriet. Es entstand ein Mischwesen aus Novelle und Roman, das den Leser erst gegen Ende erfasst, dann aber auch nicht mehr loslässt.JOSEPH HANIMANN
PASCAL MERCIER: Lea. Novelle. Carl Hanser Verlag, München 2007. 253 Seiten, 19,90 Euro.
Beim Geigenspiel erblüht die begabte Tochter. Foto: Gail Mooney/Masterfile
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„Jugend musiziert” muss nicht in jedem Fall ein gutes Therapieprogramm sein: Pascal Mercier vergreift sich in seiner Novelle „Lea”
Ein wunderbares Novellenthema. Doch ein verschenktes Buch. Man muss es also in der Möglichkeitsform lesen und sich auf jeder Seite vorstellen, wie es wäre, wenn der begabte Erzähler Pascal Mercier diese Geschichte von Lea, dem Mädchen, das von der lähmenden Trauer nach dem Tod der Mutter über das Hochgefühl des Geigenspiels in Wahnsinn und Tod endet, tatsächlich in den straffen Ton der Novelle gebracht hätte. Die Anfangsszene könnte dieselbe sein wie in diesem Buch: ein Café in der Provence. Dem Erzähler Adrian Herzog, auch er Vater einer ihm entwachsenen Tochter, läuft dort Martijn van Vliet, der Vater Leas, über den Weg. Beide kommen zufällig aus Bern und beschließen, den Heimweg gemeinsam anzutreten. Rollte in Merciers „Nachtzug nach Lissabon” das Erzählen westwärts, fährt es hier im Auto über Valence und Genf also in die andere Richtung. Das weckt bei einem Autor wie Mercier große Erwartung. Statt die traurige Geschichte von Lea aus dem Mund van Vliets auf dem Beifahrersitz bestimmt und schnell vorbeiziehen zu lassen wie die Landschaft jenseits der Windschutzscheibe, hält die Erzählung sich aber bei jeder Gefühlsgabelung, jedem Verzweiflungstunnel, jedem Hoffnungstümpel auf, als hätte das Auto nicht mehr als zwei Gänge. So hat dieses Buch hundertdreißig Seiten zu viel.
Dass die Fahrt mit dem immerfort zum Flachmann und zu den Zigaretten greifenden van Vliet keine Vergnügungstour sein würde, ist dem Beobachter Adrian bald klar. Er hat bemerkt, dass der Mann bei jedem auf der Landstraße entgegenkommenden Lastwagen kurz die Hände vom Steuer nimmt: offenbar, um nicht das Falsche zu tun. Es sei das letzte Mal, dass er diese Strecke zwischen Bern und Saint-Rémy-en-Provence abfahre, sagt der Fremde. Seine Tochter Lea war dort interniert gewesen und unzählige Male war er heimlich angereist, um sie mit dem Fernglas im Anstaltsgarten zu beobachten. Der Arzt hatte ihm jeden Kontakt mit ihr untersagt. Wie es dazu kam, erfahren wir aus der schwermütigen Hypothesenkaskade – „ach, wäre doch dieses und jenes anders gelaufen!” – der Erzählung, die van Vliet drei Tage lang an Mittelmeerstränden, Restauranttischen, in Hotels, auf Seepromenaden und eben auf dem Beifahrersitz von sich gibt.
Mit der verstorbenen Mutter schienen vor knapp zwanzig Jahren auch die Lebensgeister von der kleinen Lea gewichen zu sein, bis sie eines Tages in der Berner Bahnhofshalle stehenblieb, an der Hand des Vaters zerrte und mit heller, bestimmter Stimme „Écoute!” sagte. Eine Frau spielte in der Menge Bachs E-Dur-Partita. Hätte der Vater die Kleine damals besser einfach fortziehen sollen? Wäre sie auch auf andere Weise als durch Geigenklänge aus ihrer Dumpfheit erwacht? Wäre ihr Talent dennoch ans Licht gekommen? Und was wäre aus ihm, dem Vater, geworden? – So und ähnlich spekuliert bei Mercier der Erzählende umständlich drauflos, wo das Geschehen schon längst weiter sein sollte.
Im Aufglühen der begabten Tochter beim Geigenunterricht verblasst die brillante Karriere des Vaters als Forscher an der Universität. Er versäumt wichtige Sitzungen über der Freude am Wiederaufleben des Mädchens – und ahnt doch dumpf, dass etwas falsch läuft. „Ich habe mit einer Geige das Leben meiner Tochter zerstört”, sagte er sich später manchmal, wenn er sie durchs Fernglas in der Anstalt beobachtete. Die Kleine war wild auf „il diabolo” Paganini und suchte mit Fingerdehnübungen dessen teuflische Griffe nachzuvollziehen. Der Vater wagte nicht einzugreifen. Er fürchtete, die Töne könnten aus der Wohnung verschwinden. Genau dies trat dann aber ein, als Lea Wettbewerbe gewann, die ersten Konzerte gab und im neuen Geigenlehrer einen Meister, Gönner, Halbgott und heimlichen Geliebten fand. Der Vater hasste diesen Musiker und vernachlässigte darüber ganz die kleinen Fehlleistungen und Symptome, in denen die Verwirrung Leas sich ankündigte. Er wollte das kleine Mädchen nicht loslassen.
Nicht nur die Zwischenhalte tagsüber auf der Autobahn und nachts im Hotel, die Griffe zu Flachmann oder Weinflasche im Restaurant rahmen im Buch periodisch die Erzählungen van Vliets. Der Zuhörer Adrian Herzog hat selbst seine Geschichte. Er war gerade bei seiner ihm stets fremd gebliebenen Tochter in Avignon und kennt selbst auch jenen kritischen Augenblick, wo Virtuosität in Selbstverlust umkippen kann. „Mach du es, Paul” – hatte er, der Starchirurg, eines Tages am Operationstisch plötzlich zum Oberarzt sagen müssen, weil ihm nach einem knapp verhinderten Autounfall hinter dem Mundschutz der Schweiß trieb und die Luft fehlte. Und wenn sein Begleiter im Nebenzimmer schnarcht, liest Herzog nachts auf der Rückreise nach Bern Somerset Maugham.
Das alles könnte eine Novelle gut vertragen – wäre sie nur nicht so lose geschnürt. Pedantische Ausdrücklichkeit, geschwätzige Wortwiederholungen wie „Doch jetzt machte es nichts. Irgendwie machte es nichts” und an Kitsch grenzende Gefühlsbeschreibung verderben das Ganze. Zügig wird die Geschichte erst im letzten Drittel des Buchs. Lea ist mittlerweile zwanzig geworden. Die Anführungszeichen von van Vliets direkter Rede werden seltener, Adrian übernimmt öfter nun aus der Erinnerung selbst das Erzählen, und die Geschichte steuert geradewegs auf die Katastrophe zu. Krise der plötzlich nur noch herumhängenden Lea, der schon die Gedanken verrutschen, surreal wirkende Reise des Vaters nach Cremona zum Kauf einer „Guarneri del Gesù”, obskure Geldtransaktionen auf ein Nummernkonto, Täuschungsmanöver gegenüber den Universitätskollegen, Jonglieren mit Computercodes für den Zugang zur Institutsbuchhaltung, neue Triumphe der Tochter – und dann der furchtbare Moment nach Leas Konzert in Stockholm auf der Hoteltreppe: An diesen Stellen kehrt das große Erzähltalent Pascal Merciers wieder, mag er auch selbst hier manchmal mit überflüssigen Rückblenden oder Erläuterungen sich ins Handwerk pfuschen. Das Ergebnis ist ein enttäuschendes Buch eines Autors, der viel kann, sich viel vornahm und, um das Risiko des Unternehmens offenbar wissend, auf die kleine Form setzte, die zu groß geriet. Es entstand ein Mischwesen aus Novelle und Roman, das den Leser erst gegen Ende erfasst, dann aber auch nicht mehr loslässt.JOSEPH HANIMANN
PASCAL MERCIER: Lea. Novelle. Carl Hanser Verlag, München 2007. 253 Seiten, 19,90 Euro.
Beim Geigenspiel erblüht die begabte Tochter. Foto: Gail Mooney/Masterfile
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein Sujet, das sich durchaus für eine schöne Novelle anbietet, nur leider hat Pascal Mercier es in seinem Buch "Lea" völlig verdorben, beschwert sich Joseph Hanimann. Erzählt wird eine Vater-Tochter-Geschichte. Nach dem Tod der Mutter versinkt die kleine Tochter Lea in Trauer, bis sie die Geige entdeckt und sich darauf, vom Vater bestärkt, zum Wunderkind entwickelt, am Ende jedoch den Verstand verliert. Hanimann findet, dass die Form der Novelle das dramatische Geschehen, das auch noch kriminelle Geldbeschaffungsmaßnahmen des Vaters beinhaltet, durchaus fassen könnte, wenn Mercier nicht so redselig, kleinteilig und mit viel Redundanz ans Werk gegangen wäre. 130 Seiten würde der Rezensent ohne Weiteres streichen, um die Handlung zu straffen und dann käme, wie er meint, auch wieder der großartige Erzähler zum Vorschein, der mit "Nachtzug nach Lissabon" seine Leser begeistert hat. So aber stellt das Buch eine einzige Enttäuschung dar, meint Hanimann unzufrieden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Während die Figuren immer komplizierter fühlen und unlogischer handeln, wird die Geschichte selbst nie kompliziert oder unlogisch, schon gar nicht sentimental. Die schreckliche Tiefe der Empfindungen wird überbaut von federnden Hängebrücken des Erzählers, die höchstens einen leichten Schwindel beim Leser hinterlassen." Beatrix Langner, Neue Zürcher Zeitung, 18.07.07
"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." Ditta Rudle, Buchkultur, August/September 07
"Eine gute Novelle verschlingt man in einem Zug. "Lea" schaffen Sie in einer Nacht." Brigitte, 09.05.07
"Ein beeindruckender Roman über die Gewalt der Gefühle und die Fremdheit der Menschen untereinander." ZDF Aspekte, 04.05.07
"Eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.07
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." Christian Jürgens und Süleyman Kayaalp, Bücher, 4/07
"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." Ditta Rudle, Buchkultur, August/September 07
"Eine gute Novelle verschlingt man in einem Zug. "Lea" schaffen Sie in einer Nacht." Brigitte, 09.05.07
"Ein beeindruckender Roman über die Gewalt der Gefühle und die Fremdheit der Menschen untereinander." ZDF Aspekte, 04.05.07
"Eine spätromantische Künstlernovelle mit allem Drum und Dran: Genie und Wahnsinn, Liebe und Verrat, Raserei und Selbstzerstörung, hübsch übersichtlich geordnet." Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.07
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." Christian Jürgens und Süleyman Kayaalp, Bücher, 4/07
"Ein beeindruckender Roman über die Gewalt der Gefühle und die Fremdheit der Menschen untereinander." -- ZDF Aspekte
"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." -- Buchkultur
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." -- Bücher
"Perfekt gebaut, spannend, unterhaltsam und rätselhaft genug, um im Gedächtnis zu bleiben." -- Buchkultur
"Ein Buch, das so viele Bilder in sich trägt, dass man es einfach verfilmen muss, und Sätze, dass man weinen möchte, weil sie so schön sind." -- Bücher