Es ist Abscheu auf den ersten Blick, die Edward Feathers und Terry Veneering, die glänzendsten Juristen des Empire, ein Leben lang verbindet. Als ebenbürtige Gegner in zahllosen Prozessen hassen sie einander schon, bevor sie sich in dieselbe Frau verlieben. Und es wird ein Leben lang dauern, bis sie bemerken, dass sie ebenso gut Freunde sein könnten. Was hat Feathers Frau Betty so angezogen an Veneering, der mit der schönsten Frau Hongkongs verheiratet ist? Worum beneiden die erbitterten Feinde sich mit solcher Intensität? Mit weiser Gelassenheit entfaltet Gardam ihre Geschichte und erzeugt die Illusion, diese Menschen und vielleicht sogar das Leben selbst verstanden zu haben.
buecher-magazin.deEin Kreis schließt sich - jetzt, da sie alle tot sind. Betty fiel bei der Gartenarbeit einfach um, sie war die Erste. Terry hatte einen Unfall, und zuletzt hat es auch noch Old Filth erwischt. Diesen drei unwiderstehlichen, eigenwilligen Figuren hat die Grand Old Lady der englischen Literatur, Jane Gardam, drei Bücher gewidmet. Der abschließende Band "Letzte Freunde" konzentriert sich auf Terry Veneering und erzählt aus seiner Kindheit und Jugend und wie er zu dem geworden ist, der er war. Eine schillernde Geschichte, fürwahr. Irrlichternd ist auch das Verhältnis der drei untereinander: Betty und Edward Feathers waren jahrzehntelang und keineswegs unglücklich miteinander verheiratet. Und irgendwie dazwischen stand Sir Terry Veneering, der von Kind an wusste, dass er "bezirzen, verzücken und erobern würde". Gelungen ist ihm das auch bei Betty, aparterweise am Vorabend ihrer Heirat. Und nicht nur deshalb sind sich die beiden Männer spinnefeind - Konkurrenten sind sie auch beruflich: zwei Titanen, die auf ihre alten Tage und zu ihrem eigenen Erstaunen noch andere Gemeinsamkeiten entdecken. Es ist das reinste Vergnügen, der feinen und unaufdringlichen Erzählweise der 1928 geborenen Autorin zu folgen, wie sie gleichermaßen mit Scharfsinn und Sympathie ihren Figuren begegnet.
© BÜCHERmagazin, Jeanette Stickler
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2016Strahlend unseriös
Neues über Terry Veneering: Jane Gardam beschließt mit dem Roman „Letzte Freunde“
ihre großartige „Old Filth“-Trilogie über das Sterben des alten England
VON DAVID PFEIFER
Wenn Menschen sterben, ist ein guter Rat für die Hinterbliebenen, das Leben nicht vom Ende her zu betrachten. Nicht der Tod sollte bei der Erinnerung im Mittelpunkt stehen, sondern das gemeinsam Erlebte und das, was das Leben ausgemacht hat.
In Jane Gardams Roman-Triptychon rund um das alte englische Ehepaar Elisabeth und Edward Feathers wird viel gestorben. Alte Menschen sinken am Ende ihrer Tage tot in ein Blumenbeet oder treten hinaus in die Hitze Malaysias, die sie rasch umbringt. Im ersten Band, „Ein untadeliger Mann“, hatte Gardam sich auf die Perspektive von Edward konzentriert, der als Anwalt in der britischen Kronkolonie Hongkong Karriere gemacht hat und bis zu seinem Tod „Old Filth“ genannt wird (für „Failed In London, Try Hongkong“). Im zweiten Teil, „Eine treue Frau“ erzählte Gardam die gleiche Geschichte aus der Sicht von Elisabeth, Betty, die zwar ihr Leben mit Filth verbringt, dabei aber von einem anderen Mann träumt: Terry Veneering. Um diesen Mann kreist nun der dritte und abschließende Band: „Letzte Freunde“.
Die Erzählung beginnt in Dorset, der Grafschaft mit den im Durchschnitt ältesten Einwohnern Großbritanniens. Gardam fasst zusammen, dass alle drei, Betty, Veneering und Filth, bereits gestorben sind, in dieser Reihenfolge, was man aus den ersten Teilen natürlich schon weiß – also hält sie sich kurz. Die Spannung ihrer Erzählung liegt ja gerade darin begründet, dass man im zweiten Band Dinge erfährt, die auch schon im ersten erzählt wurden, nur in gänzlich neuer Interpretation.
Terry Veneering, der in Edwards Erinnerung ein Hallodri war, ein undurchsichtiger und tendenziell unseriöser Gegenspieler, wird in Bettys Geschichte zu einem strahlenden, begehrenswerten Mann. Dass Veneering sich nach Bettys Tod für die wenigen verbleibenden Jahre noch mit Filth anfreunden kann, war eine jener romantischen Wendungen in den ersten beiden Romanen, zu denen Gardam immer wieder mal ansetzt, ohne dabei in Pathos oder gar Kitsch abzugleiten.
Gleich zu Beginn erzählt Jane Gardam in diesem letzten Band der Trilogie, dass in die Häuser der Feathers und Terry Veneerings in Dorset neue Leute eingezogen sind. Denn anders, als es ein eher doofer Trostspruch will, geht das Leben ja nicht weiter. Nur das Leben anderer Leute geht weiter, in den Kulissen, die man für das eigene Leben gehalten hat. Terry Veneering wird herausrenoviert, die neuen Mieter in seinem Haus finden Hinterlassenschaften auf dem Dachboden. Sie kannten seinen Nachbarn Edward Feathers noch und setzen die beiden zueinander in Beziehung.
Nun erwartet man in „Letzte Freunde“ eine Schilderung dieser späten Freundschaft, aber die kommt nur am Rande vor. Jane Gardam betrachtet das Leben eben nicht vom Ende her. Ins Zentrum dieses Romans stellt sie nicht die Annäherung der alten Herren, sondern Terry Veneering selber, der zugleich undurchsichtig, strahlend, unseriös und begehrenswert ist. Die Gründe dafür wird man erfahren. Seine Kindheit und Jugend nehmen große Teile der Erzählung ein. Dabei ist seine hart arbeitende, Kohle verkaufende Mutter genau so prägend, wie sein geheimnisvoller Vater, der einerseits als tanzender Kosake aus dem Zirkus, andererseits als russischer Agent beschrieben wird.
Terry Veneering stammt also aus einem Elternhaus, das finanziell arm aber dafür sehr reich an fantastischen Figuren ist. Der junge Veneering wird auf recht märchenhafte Weise erzogen, gefördert, gerettet, später dann zu einem angesehenen Anwalt und erbitterten Gegner des stocksoliden Edward Feathers. Man muss sich bei der Lektüre gelegentlich daran erinnern, dass es sich um eine fiktive Biografie handelt, dass man kein Geschichtsdokument in den Händen hält. Denn da man die Figuren und viele Ereignisse schon so genau aus den früheren Bänden zu kennen meint, fühlt es sich streckenweise so an, als würde man Spannendes über die Jugend von Winston Churchill oder Elvis Presley lesen.
Dass ihre Charaktere die Tiefe und Glaubwürdigkeit echter Zeitgenossen annehmen, zeugt von der großen Erzählkunst Jane Gardams. Ihre Figuren handeln und sprechen so logisch und so widersprüchlich, wie es sonst nur echte Menschen tun. Weswegen man der Autorin auch in den ersten zwei Romanen schon allerlei Zufälle blind abgekauft hat – weil sie zu irrwitzig erschienen, um erfunden zu sein. Geschichten, wie sie nur das Leben schreibt, könnte man dazu sagen, wenn das nicht eine viel zu abgegriffene Formulierung wäre, wie sie Jane Gardam nie herausrutschen würde (und wie sie sich auch in der guten deutschen Übersetzung nicht eingeschlichen hat).
Überhaupt ist Jane Gardams Schreiben von großer Klarheit und einer Souveränität, die einerseits spektakulär bescheiden wirkt, andererseits einen ungeheuren Sog erzeugt. Sie wechselt die Erzählformen leichtfüßig, ein Kapitel ist in Briefform verfasst, ein anderes wie ein Theaterstück und der Rhythmus ändert sich, ohne dass es jemals angestrengt wirkt. Auch die Kunst des Weglassens beherrscht diese Erzählerin perfekt. Manchmal werden zwanzig Lebensjahre in zwei Absätzen abgehandelt, dann wieder wird eine Gartenarbeit in solcher Ausführlichkeit beschrieben, als müsse ein schönes Gemälde in allen Feinheiten anschaulich gemacht werden.
Nun könnte man einwenden, die Schriftstellerin sei 88 Jahre alt, und in England schon seit Jahrzehnten eine feste Größe in der Literatur – natürlich beherrscht sie ihre Mittel. Doch anderen alten Schriftstellern wünscht man manchmal einen Lektor, der den Mut hätte zu sagen: „hochverehrter Autor, trotz Weltruhm – hier müssen wenigstens 200 Seiten raus!“
Bei Jane Gardam ist es umgekehrt: wenn man unbedingt irgendwas kritisieren wollte, dann, dass sie dem Erzähltempo gelegentlich zu viel opfert. Als Fan, der man ja spätestens beim dritten Band geworden sein muss, wünscht man sich manchmal etwas mehr Ausführlichkeit, weil man sich in einer Welt, die so kunstvoll erschaffen wurde, noch gerne ein wenig länger aufhalten möchte.
Neben Terry Venering treten in „Letzte Freunde“ zwei am Leben gebliebene Figuren aus dem Hintergrund, die in den ersten zwei Bänden nur Gastauftritte hatten: die etwas verwirrte Dulcie und der Anwalt Fiscal-Smith, der ausgesprochen zufällig Trauzeuge bei der Hochzeit von Betty und Edward geworden war, ein Menschenleben und einen Roman-Band zuvor.
Mittlerweile ist Fiscal-Smith ein alter Nassauer, der die Trauerfeier für Edward nutzt, um ein paar Tage bei Dulcie zu wohnen und sich bewirten zu lassen. Doch diese vermittelt nach einer Übernachtung ausgesprochen englisch und kühl, dass sein Bleiben nicht erwünscht sei. Dulcies Tochter Susan bringt den alten Mann zum Bahnhof, versucht höflich zu beschwichtigen: „ ,Wir haben noch fünf Minuten bis zum Zug. Den könnten Sie noch kriegen. Sie sind aber natürlich auch herzlich Willkommen . . ‘ ,Nein, bin ich nicht‘.“
Als sich endlich die Türen des Zuges schließen, ist die junge Frau erleichtert: „,Gott‘, dachte Susan, ,was sind diese alten Säcke langweilig‘.“ Das ist an dieser Stelle ein sehr guter Scherz, denn der Leser weiß längst, dass die alten Säcke sehr vieles sind, nur nicht langweilig. Sie mögen vielleicht ödes Zeug reden, um sich nicht zu entblößen, aber Jane Gardam erzeugt gerade dadurch Spannung. Ihre Figuren lassen eben ihrer Generation und ihrer britischen Abstammung gemäß besonders wenig von dem raus, was sie fühlen. Ältere Menschen beklagen häufig, es würde ihnen nicht richtig zugehört. Das stimmt gewiss, aber häufig sagen sie eben auch nicht das Richtige. Das liegt daran, dass sie nicht vom Scheitern und ihren Fehltritten berichten. Als Agenten des eigenen Nachruhms erzählen sie stattdessen eine Erfolgsgeschichte, münzen Zufälle in Entscheidungen um und verkaufen Kompromisse als Lebensweisheiten.
Gardam ist alt genug, um diese Impulse zu begreifen und gütig zu betrachten. Aber auch so klug, ihnen eine Erzählebene abzugewinnen, die sie in lustige, nostalgische manchmal zu Tränen rührende und bleibende Momente verwandelt. Wenn die verwitwete Dulcie im Dorfladen gebackene Bohnen für ihr einsames englisches Frühstück einkauft, hört sie beispielsweise der verwirrten Nachbarin beim Plappern zu und sehnt sich nach Asien, also auch nach der Vergangenheit, in der sie noch schöne Kleider trug und ihr Mann am Leben war.
So lässt Gardam in einer knappen Aufzählung eine große Kulisse entstehen: „Dulcie hatte eine Vision von goldenem Seetang, Tintentisch, frittierten Bananen, Ringelblumen und dem Duft unzähliger Gewürze. Ein müder, verträumter, chinesischer Koch, der aus einem Teigklumpen Nudeln für die Touristen spann; ein Stand, an dem sich die Seewölfe stapelten.“
Gardam erzählt das, was ältere Menschen normalerweise für sich behalten, was sie aber auch interessant macht – die Liebeskatastrophen, die verpassten Chancen, die Kreuzungen, an denen sie falsch abgebogen sind. Ihre Figuren haben schon mehr hinter als vor sich, ihre Möglichkeiten schwinden, die Sehnsucht nicht. So wendet Jane Gardam zum Ende hin noch mal in eine ganz andere Geschichte, beschreibt nicht mehr das Erlebte, sondern das Erleben der Alten.
Nachdem Fiscal-Smith mit dem Zug davon gefahren ist, fürchtet man als Leser schon, dass sich eine letzte Tür geschlossen hat, dass eine der wenigen Chancen auf Freundschaft und Nähe vertan ist, wo man doch schon um einige Figuren trauert, vor allem um den schillernden Terry Veneering. Doch das Buch schließt hoffnungsfroh, nicht mit dem Tod, sondern einem neuen Moment, dort wo es beginnt, in dem kleinen Ort in Dorset, in dem sich bei Jane Gardam so viele Zufälle literarisch glaubhaft verdichten. Das Leben anderer Menschen geht eben weiter, die Orte und Räume bleiben. In ihnen erzählt die Autorin das große Kommen und Gehen.
Jane Gardam: Letzte Freunde. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Das Leben anderer Leute geht in
den Kulissen weiter, die man für
das eigene Leben gehalten hat
Die Kunst des Weglassens
beherrscht diese Erzählerin
perfekt, manchmal zu perfekt
Jane Gardam, Jahrgang 1928, ist in England seit Jahrzehnten eine literarische Größe, für deutsche Leser aber eine ziemlich neue Entdeckung.
Foto: getty images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Neues über Terry Veneering: Jane Gardam beschließt mit dem Roman „Letzte Freunde“
ihre großartige „Old Filth“-Trilogie über das Sterben des alten England
VON DAVID PFEIFER
Wenn Menschen sterben, ist ein guter Rat für die Hinterbliebenen, das Leben nicht vom Ende her zu betrachten. Nicht der Tod sollte bei der Erinnerung im Mittelpunkt stehen, sondern das gemeinsam Erlebte und das, was das Leben ausgemacht hat.
In Jane Gardams Roman-Triptychon rund um das alte englische Ehepaar Elisabeth und Edward Feathers wird viel gestorben. Alte Menschen sinken am Ende ihrer Tage tot in ein Blumenbeet oder treten hinaus in die Hitze Malaysias, die sie rasch umbringt. Im ersten Band, „Ein untadeliger Mann“, hatte Gardam sich auf die Perspektive von Edward konzentriert, der als Anwalt in der britischen Kronkolonie Hongkong Karriere gemacht hat und bis zu seinem Tod „Old Filth“ genannt wird (für „Failed In London, Try Hongkong“). Im zweiten Teil, „Eine treue Frau“ erzählte Gardam die gleiche Geschichte aus der Sicht von Elisabeth, Betty, die zwar ihr Leben mit Filth verbringt, dabei aber von einem anderen Mann träumt: Terry Veneering. Um diesen Mann kreist nun der dritte und abschließende Band: „Letzte Freunde“.
Die Erzählung beginnt in Dorset, der Grafschaft mit den im Durchschnitt ältesten Einwohnern Großbritanniens. Gardam fasst zusammen, dass alle drei, Betty, Veneering und Filth, bereits gestorben sind, in dieser Reihenfolge, was man aus den ersten Teilen natürlich schon weiß – also hält sie sich kurz. Die Spannung ihrer Erzählung liegt ja gerade darin begründet, dass man im zweiten Band Dinge erfährt, die auch schon im ersten erzählt wurden, nur in gänzlich neuer Interpretation.
Terry Veneering, der in Edwards Erinnerung ein Hallodri war, ein undurchsichtiger und tendenziell unseriöser Gegenspieler, wird in Bettys Geschichte zu einem strahlenden, begehrenswerten Mann. Dass Veneering sich nach Bettys Tod für die wenigen verbleibenden Jahre noch mit Filth anfreunden kann, war eine jener romantischen Wendungen in den ersten beiden Romanen, zu denen Gardam immer wieder mal ansetzt, ohne dabei in Pathos oder gar Kitsch abzugleiten.
Gleich zu Beginn erzählt Jane Gardam in diesem letzten Band der Trilogie, dass in die Häuser der Feathers und Terry Veneerings in Dorset neue Leute eingezogen sind. Denn anders, als es ein eher doofer Trostspruch will, geht das Leben ja nicht weiter. Nur das Leben anderer Leute geht weiter, in den Kulissen, die man für das eigene Leben gehalten hat. Terry Veneering wird herausrenoviert, die neuen Mieter in seinem Haus finden Hinterlassenschaften auf dem Dachboden. Sie kannten seinen Nachbarn Edward Feathers noch und setzen die beiden zueinander in Beziehung.
Nun erwartet man in „Letzte Freunde“ eine Schilderung dieser späten Freundschaft, aber die kommt nur am Rande vor. Jane Gardam betrachtet das Leben eben nicht vom Ende her. Ins Zentrum dieses Romans stellt sie nicht die Annäherung der alten Herren, sondern Terry Veneering selber, der zugleich undurchsichtig, strahlend, unseriös und begehrenswert ist. Die Gründe dafür wird man erfahren. Seine Kindheit und Jugend nehmen große Teile der Erzählung ein. Dabei ist seine hart arbeitende, Kohle verkaufende Mutter genau so prägend, wie sein geheimnisvoller Vater, der einerseits als tanzender Kosake aus dem Zirkus, andererseits als russischer Agent beschrieben wird.
Terry Veneering stammt also aus einem Elternhaus, das finanziell arm aber dafür sehr reich an fantastischen Figuren ist. Der junge Veneering wird auf recht märchenhafte Weise erzogen, gefördert, gerettet, später dann zu einem angesehenen Anwalt und erbitterten Gegner des stocksoliden Edward Feathers. Man muss sich bei der Lektüre gelegentlich daran erinnern, dass es sich um eine fiktive Biografie handelt, dass man kein Geschichtsdokument in den Händen hält. Denn da man die Figuren und viele Ereignisse schon so genau aus den früheren Bänden zu kennen meint, fühlt es sich streckenweise so an, als würde man Spannendes über die Jugend von Winston Churchill oder Elvis Presley lesen.
Dass ihre Charaktere die Tiefe und Glaubwürdigkeit echter Zeitgenossen annehmen, zeugt von der großen Erzählkunst Jane Gardams. Ihre Figuren handeln und sprechen so logisch und so widersprüchlich, wie es sonst nur echte Menschen tun. Weswegen man der Autorin auch in den ersten zwei Romanen schon allerlei Zufälle blind abgekauft hat – weil sie zu irrwitzig erschienen, um erfunden zu sein. Geschichten, wie sie nur das Leben schreibt, könnte man dazu sagen, wenn das nicht eine viel zu abgegriffene Formulierung wäre, wie sie Jane Gardam nie herausrutschen würde (und wie sie sich auch in der guten deutschen Übersetzung nicht eingeschlichen hat).
Überhaupt ist Jane Gardams Schreiben von großer Klarheit und einer Souveränität, die einerseits spektakulär bescheiden wirkt, andererseits einen ungeheuren Sog erzeugt. Sie wechselt die Erzählformen leichtfüßig, ein Kapitel ist in Briefform verfasst, ein anderes wie ein Theaterstück und der Rhythmus ändert sich, ohne dass es jemals angestrengt wirkt. Auch die Kunst des Weglassens beherrscht diese Erzählerin perfekt. Manchmal werden zwanzig Lebensjahre in zwei Absätzen abgehandelt, dann wieder wird eine Gartenarbeit in solcher Ausführlichkeit beschrieben, als müsse ein schönes Gemälde in allen Feinheiten anschaulich gemacht werden.
Nun könnte man einwenden, die Schriftstellerin sei 88 Jahre alt, und in England schon seit Jahrzehnten eine feste Größe in der Literatur – natürlich beherrscht sie ihre Mittel. Doch anderen alten Schriftstellern wünscht man manchmal einen Lektor, der den Mut hätte zu sagen: „hochverehrter Autor, trotz Weltruhm – hier müssen wenigstens 200 Seiten raus!“
Bei Jane Gardam ist es umgekehrt: wenn man unbedingt irgendwas kritisieren wollte, dann, dass sie dem Erzähltempo gelegentlich zu viel opfert. Als Fan, der man ja spätestens beim dritten Band geworden sein muss, wünscht man sich manchmal etwas mehr Ausführlichkeit, weil man sich in einer Welt, die so kunstvoll erschaffen wurde, noch gerne ein wenig länger aufhalten möchte.
Neben Terry Venering treten in „Letzte Freunde“ zwei am Leben gebliebene Figuren aus dem Hintergrund, die in den ersten zwei Bänden nur Gastauftritte hatten: die etwas verwirrte Dulcie und der Anwalt Fiscal-Smith, der ausgesprochen zufällig Trauzeuge bei der Hochzeit von Betty und Edward geworden war, ein Menschenleben und einen Roman-Band zuvor.
Mittlerweile ist Fiscal-Smith ein alter Nassauer, der die Trauerfeier für Edward nutzt, um ein paar Tage bei Dulcie zu wohnen und sich bewirten zu lassen. Doch diese vermittelt nach einer Übernachtung ausgesprochen englisch und kühl, dass sein Bleiben nicht erwünscht sei. Dulcies Tochter Susan bringt den alten Mann zum Bahnhof, versucht höflich zu beschwichtigen: „ ,Wir haben noch fünf Minuten bis zum Zug. Den könnten Sie noch kriegen. Sie sind aber natürlich auch herzlich Willkommen . . ‘ ,Nein, bin ich nicht‘.“
Als sich endlich die Türen des Zuges schließen, ist die junge Frau erleichtert: „,Gott‘, dachte Susan, ,was sind diese alten Säcke langweilig‘.“ Das ist an dieser Stelle ein sehr guter Scherz, denn der Leser weiß längst, dass die alten Säcke sehr vieles sind, nur nicht langweilig. Sie mögen vielleicht ödes Zeug reden, um sich nicht zu entblößen, aber Jane Gardam erzeugt gerade dadurch Spannung. Ihre Figuren lassen eben ihrer Generation und ihrer britischen Abstammung gemäß besonders wenig von dem raus, was sie fühlen. Ältere Menschen beklagen häufig, es würde ihnen nicht richtig zugehört. Das stimmt gewiss, aber häufig sagen sie eben auch nicht das Richtige. Das liegt daran, dass sie nicht vom Scheitern und ihren Fehltritten berichten. Als Agenten des eigenen Nachruhms erzählen sie stattdessen eine Erfolgsgeschichte, münzen Zufälle in Entscheidungen um und verkaufen Kompromisse als Lebensweisheiten.
Gardam ist alt genug, um diese Impulse zu begreifen und gütig zu betrachten. Aber auch so klug, ihnen eine Erzählebene abzugewinnen, die sie in lustige, nostalgische manchmal zu Tränen rührende und bleibende Momente verwandelt. Wenn die verwitwete Dulcie im Dorfladen gebackene Bohnen für ihr einsames englisches Frühstück einkauft, hört sie beispielsweise der verwirrten Nachbarin beim Plappern zu und sehnt sich nach Asien, also auch nach der Vergangenheit, in der sie noch schöne Kleider trug und ihr Mann am Leben war.
So lässt Gardam in einer knappen Aufzählung eine große Kulisse entstehen: „Dulcie hatte eine Vision von goldenem Seetang, Tintentisch, frittierten Bananen, Ringelblumen und dem Duft unzähliger Gewürze. Ein müder, verträumter, chinesischer Koch, der aus einem Teigklumpen Nudeln für die Touristen spann; ein Stand, an dem sich die Seewölfe stapelten.“
Gardam erzählt das, was ältere Menschen normalerweise für sich behalten, was sie aber auch interessant macht – die Liebeskatastrophen, die verpassten Chancen, die Kreuzungen, an denen sie falsch abgebogen sind. Ihre Figuren haben schon mehr hinter als vor sich, ihre Möglichkeiten schwinden, die Sehnsucht nicht. So wendet Jane Gardam zum Ende hin noch mal in eine ganz andere Geschichte, beschreibt nicht mehr das Erlebte, sondern das Erleben der Alten.
Nachdem Fiscal-Smith mit dem Zug davon gefahren ist, fürchtet man als Leser schon, dass sich eine letzte Tür geschlossen hat, dass eine der wenigen Chancen auf Freundschaft und Nähe vertan ist, wo man doch schon um einige Figuren trauert, vor allem um den schillernden Terry Veneering. Doch das Buch schließt hoffnungsfroh, nicht mit dem Tod, sondern einem neuen Moment, dort wo es beginnt, in dem kleinen Ort in Dorset, in dem sich bei Jane Gardam so viele Zufälle literarisch glaubhaft verdichten. Das Leben anderer Menschen geht eben weiter, die Orte und Räume bleiben. In ihnen erzählt die Autorin das große Kommen und Gehen.
Jane Gardam: Letzte Freunde. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2016. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Das Leben anderer Leute geht in
den Kulissen weiter, die man für
das eigene Leben gehalten hat
Die Kunst des Weglassens
beherrscht diese Erzählerin
perfekt, manchmal zu perfekt
Jane Gardam, Jahrgang 1928, ist in England seit Jahrzehnten eine literarische Größe, für deutsche Leser aber eine ziemlich neue Entdeckung.
Foto: getty images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der letzte Teil von Jane Gardams "Old-Filth"-Trilogie ist auf Deutsch erschienen und steht den beiden Vorgängen in nichts nach, verkündet Rezensent David Pfeifer erfreut. Nun also steht Terry Veneering, erbitterter Widersacher von Edward Feathers und Objekt der Begierde von dessen Ehefrau im Mittelpunkt, klärt der Kritiker auf, den bei der Lektüre von Terrys Biografie einmal mehr das Gefühl beschleicht, hier handele es sich nicht um fiktive Personen: Denn Gardam vermag so virtuos zu erzählen, ihre Charaktere so tiefsinnig und authentisch zu schildern und Szenen mit derart viel Irrwitz zu beschreiben, dass Pfeifer kaum glauben kann, dass alles erfunden ist. Allein wie die Autorin durch das Schweigen und die Diskretion ihrer alternden Helden Spannung erzeugt, ringt dem Rezensenten größte Anerkennung ab. Die elegante, von Isabel Bogdan brillant übersetzte Sprache, das grandiose Spiel mit verschiedenen Erzählebenen und Gardams rasantes Erzähltempo lassen nur einen einzigen Kritikpunkt zu, so Pfeifer: Der Roman hätte länger sein dürfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Mit großer Wucht erreicht uns diese Geschichte um verpasste Liebe, Abgründe, Niederlagen und Lebenslügen der miteinander verfeindeten Anwälte Terry Veneering und Edward Feathers sowie dessen Ehefrau Elizabeth." Denis Scheck, Tagesspiegel, 30.10.16
"Das Schicksal derer, die ohne Eltern aufwachsen und danach ohne Imperium leben müssen, ist ohne Zweifel einen großen Roman wert. ... Das Erzähltempo Jane Gardams ist rasant und wird durch die Zeit- und gelegentlichen Perspektivsprünge zum Sturzflug, der einen bisweilen zwingt, sich an den Armlehnen des Lesesessels festzukrallen." Jörg W. Gronius, SR2 Kulturradio "BücherLese", 04.01.17
"Endlich liegt sie auch auf Deutsch komplett vor, Jane Gardams Romantrilogie. ... Mit 'Letzte Freunde' schließt sich der Kreis, und wer die drei meisterhaft erzählten Bände in Folge liest, sieht sich in einem kunstvoll geknüpften Netz der Anspielungen, Rückblenden und Verweise aufs Angenehmste verstrickt. ... Gardams Figuren wissen viel mehr, als sie aussprechen, ihre Romane sind Lehrbücher des Lebens." Herbert Wiesner, Klaus Ungerer, Rainer Moritz und Marko Martin, Die Welt, 24.12.16
"Ein Buch, wie es britischer nicht sein könnte: tongue-in-cheek. Unglaublich witzig. ... Was ich an Jane Gardam gleichzeitig besonders schätze, ist ihre Unverblümtheit. Sie hat einen sehr trockenen Witz, aber auch keinerlei Scheu, Sachen direkt anzusprechen. ... Ich bewundere auch die Chuzpe, die diese Schriftstellerin hat: Es gibt einfach keinen langweiligen Satz." Klaus Nüchtern, SWR, 01.11.16
"Subkutan wird die ganze Geschichte des britischen Kolonialreichs transportiert. ...Der Roman spielt auf mehreren Klaviaturen. ... Ein interessanter Roman, der die gegenwärtige Situation in Großbritannien wunderbar vor Augen führt." Helmut Böttiger, 01.11.16
"Diese Autorin ist hierzulande mit den ersten beiden Bänden ihrer 'Old Filth'-Trilogie eine überraschende Entdeckung gewesen, und der letzte Teil setzt das nun mit derselben Spritzigkeit fort. Authentizität und Irrwitz, Spannung durch Auslassung, rasantes Tempo und virtuoses Spiel mit verschiedenen Ebenen des Erzählens: Terry Veneering, Feind von Edward Feathers, aber begehrt von dessen Ehefrau, steht nun im Zentrum und lässt sich nicht lumpen." SWR-Bestenliste, November 2016
"Eine grandiose Trilogie. Man kann ohne Weiteres auch jeden Band für sich lesen, aber das wird kaum wollen, wer einmal mit einem angefangen hat. ... Nur staunen kann man darüber, wie frisch und frech diese Hochbetagten-Literatur auf den Ruinen des Empire gedeiht, wie souverän Jane Gardam staubtrockenen Witz, Weisheit und Menschenliebe in der Schwebe hält." Daniela Strigl, Falter, 12.10.16
"Dass ihre Charaktere die Tiefe und Glaubwürdigkeit echter Zeitgenossen annehmen, zeugt von der großen Erzählkunst Jane Gardams. Ihre Figuren handeln und sprechen so logisch und so widersprüchlich, wie es sonst nur echte Menschen tun. ... Überhaupt ist Jane Gardams Schreiben von großer Klarheit und einer Souveränität, die einerseits spektakulär bescheiden wirkt, andererseits einen ungeheuren Sog erzeugt." David Pfeifer, Süddeutsche Zeitung, 8./9.10.16
"Das Schicksal derer, die ohne Eltern aufwachsen und danach ohne Imperium leben müssen, ist ohne Zweifel einen großen Roman wert. ... Das Erzähltempo Jane Gardams ist rasant und wird durch die Zeit- und gelegentlichen Perspektivsprünge zum Sturzflug, der einen bisweilen zwingt, sich an den Armlehnen des Lesesessels festzukrallen." Jörg W. Gronius, SR2 Kulturradio "BücherLese", 04.01.17
"Endlich liegt sie auch auf Deutsch komplett vor, Jane Gardams Romantrilogie. ... Mit 'Letzte Freunde' schließt sich der Kreis, und wer die drei meisterhaft erzählten Bände in Folge liest, sieht sich in einem kunstvoll geknüpften Netz der Anspielungen, Rückblenden und Verweise aufs Angenehmste verstrickt. ... Gardams Figuren wissen viel mehr, als sie aussprechen, ihre Romane sind Lehrbücher des Lebens." Herbert Wiesner, Klaus Ungerer, Rainer Moritz und Marko Martin, Die Welt, 24.12.16
"Ein Buch, wie es britischer nicht sein könnte: tongue-in-cheek. Unglaublich witzig. ... Was ich an Jane Gardam gleichzeitig besonders schätze, ist ihre Unverblümtheit. Sie hat einen sehr trockenen Witz, aber auch keinerlei Scheu, Sachen direkt anzusprechen. ... Ich bewundere auch die Chuzpe, die diese Schriftstellerin hat: Es gibt einfach keinen langweiligen Satz." Klaus Nüchtern, SWR, 01.11.16
"Subkutan wird die ganze Geschichte des britischen Kolonialreichs transportiert. ...Der Roman spielt auf mehreren Klaviaturen. ... Ein interessanter Roman, der die gegenwärtige Situation in Großbritannien wunderbar vor Augen führt." Helmut Böttiger, 01.11.16
"Diese Autorin ist hierzulande mit den ersten beiden Bänden ihrer 'Old Filth'-Trilogie eine überraschende Entdeckung gewesen, und der letzte Teil setzt das nun mit derselben Spritzigkeit fort. Authentizität und Irrwitz, Spannung durch Auslassung, rasantes Tempo und virtuoses Spiel mit verschiedenen Ebenen des Erzählens: Terry Veneering, Feind von Edward Feathers, aber begehrt von dessen Ehefrau, steht nun im Zentrum und lässt sich nicht lumpen." SWR-Bestenliste, November 2016
"Eine grandiose Trilogie. Man kann ohne Weiteres auch jeden Band für sich lesen, aber das wird kaum wollen, wer einmal mit einem angefangen hat. ... Nur staunen kann man darüber, wie frisch und frech diese Hochbetagten-Literatur auf den Ruinen des Empire gedeiht, wie souverän Jane Gardam staubtrockenen Witz, Weisheit und Menschenliebe in der Schwebe hält." Daniela Strigl, Falter, 12.10.16
"Dass ihre Charaktere die Tiefe und Glaubwürdigkeit echter Zeitgenossen annehmen, zeugt von der großen Erzählkunst Jane Gardams. Ihre Figuren handeln und sprechen so logisch und so widersprüchlich, wie es sonst nur echte Menschen tun. ... Überhaupt ist Jane Gardams Schreiben von großer Klarheit und einer Souveränität, die einerseits spektakulär bescheiden wirkt, andererseits einen ungeheuren Sog erzeugt." David Pfeifer, Süddeutsche Zeitung, 8./9.10.16