Einer der Größten des Kinos, vielleicht der größte Regisseur seiner Epoche: Zur Machtergreifung dreht G.W. Pabst in Frankreich; vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Aber unter der blendenden Sonne Kaliforniens sieht der weltberühmte Regisseur mit einem Mal aus wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Und so findet Pabst sich, fast wie ohne eigenes Zutun, in seiner Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt die heimgekehrte Familie mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin will das Filmgenie haben, er kennt keinen Widerspruch, und er verspricht viel. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, dass er sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen wird, ist er schon den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen.
Daniel Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.
Ulrich Noethens warmes, dunkles Timbre lässt eine intime und eindrückliche Stimmung entstehen.
Daniel Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.
Ulrich Noethens warmes, dunkles Timbre lässt eine intime und eindrückliche Stimmung entstehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2023Keiner filmt für sich allein
Die Kunst und ihr Preis: Daniel Kehlmanns Roman "Lichtspiel" erzählt davon, wie der große Regisseur Georg Wilhelm Pabst unter den Nazis trotz allem weiter Filme drehte.
Von Peter Körte
Das Kino hat es mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann nicht nur gut gemeint. Auch wenn er das vielleicht ein wenig anders sehen mag. Ja, drei seiner Romane wurden verfilmt, "Die Vermessung der Welt" sogar unter seiner Mitwirkung, doch die Filme hatten immer etwas Papiernes, Bemühtes, wenn nicht Beflissenes. Ob sie Kehlmann, der viel über das Kino geschrieben hat und sich sehr gut auskennt, gefallen hätten - unter anderen Vorzeichen?
Nun hat Daniel Kehlmann in "Lichtspiel" einfach mal die Konstellation verändert: Er hat einen Roman über G.W. Pabst (1885-1967) geschrieben, der neben Lubitsch, Murnau und Fritz Lang zu den großen Regisseuren der Stummfilmzeit zählt. Ein Buch über eine historische Figur, wie zuvor über Tyll, Gauß, Humboldt, nur näher an der Gegenwart. Es ist keine brave Biographie von der Wiege bis zur Bahre, eher ein tiefenscharfes Porträt anhand von Schlüsselmomenten einer Karriere. Und es berührt Fragen, Ambivalenzen, denen zurzeit auch ein Film von Dominik Graf nachgeht, "Jeder schreibt für sich allein" nach dem gleichnamigen Buch von Anatol Regnier.
Graf und Regnier handeln von Schriftstellern, die während des Nationalsozialismus nicht ins Exil gingen. Auch Georg Wilhelm Pabst war ein Künstler, der blieb, obwohl er zunächst nicht wollte, der hineingeriet und dann nicht mehr wusste, wie er wieder rauskommen sollte. Der sich am Ende so verstrickt hatte, dass es ihm unmöglich erschien, zu gehen. Seinem Ruf hat das später nicht gutgetan, teils war er geächtet, wurde vereinzelt sogar "Kriegsverbrecher" genannt. Das war er definitiv ebenso wenig wie Erich Kästner, der mit Goebbels' Segen das Drehbuch zu "Münchhausen" schrieb. Aber man filmt halt nicht für sich allein. Pabst wollte unbedingt arbeiten, und ohne die Zustimmung der Reichsfilmkammer, ohne Unterwerfung unter Kontrolle und Zensur, war das unmöglich.
Natürlich hat Kehlmann die Pabst-Filme nicht nur angesehen, "Die freudlose Gasse" (1925) in ihrer Neusachlichkeit etwa oder "Die Büchse der Pandora" (1929) mit der so unglaublich modern anmutenden Louise Brooks, von der Zensur verstümmelt wegen seiner Freizügigkeit. Er hat einzelne Szenen geradezu reanimiert, sie wieder vor Augen geführt, indem er erzählt. Er hat auch gründlich recherchiert und dort, wo sich Leerstellen auftun, einen Raum für Fiktionalisierungen erschlossen. So werden ihm diese Unglücksjahre eines Regisseurs zu einem exemplarischen Buch: über den schmalen Grat zwischen Kompromiss und Selbstverleugnung, zwischen Kotau und Subversion, zwischen künstlerischer Integrität und Korrumpierbarkeit. Und über die Schwierigkeit, Person und Werk, Leben und Kunst voneinander zu trennen.
Kehlmann hat Pabst dabei nicht geschont, er lässt erkennen, wie Verantwortungslosigkeit aus der angemaßten Verantwortung für die Vollendung des eigenen Werks resultiert. Die erzählerische Linie ist schon zu erkennen an der klugen Rahmung: Ein etwas verwirrter alter Mann wird zu Beginn aus dem Altersheim in eine österreichische Talkshow chauffiert, Pabst ist da längst tot. Den Moderator der Sendung, Heinz Conrads, gab es tatsächlich. Franz Wilzek als Pabsts ehemaliger Assistent ist eine fiktive Gestalt. In seinen Kopf drängen seltsame Bilder, Fetzen von Szenen, die man erst später begreifen wird.
Dem alten Wilzek gehört auch das letzte Kapitel des Romans, dessen drei große Blöcke schlicht "Draußen", "Drinnen" und "Danach" heißen. "Draußen", das ist Hollywood, dem Pabst 1934 den Rücken kehrte, weil er mit dem System nicht klarkam, das ist die Zeit in Paris. "Drinnen" beginnt mit einem Besuch bei der kranken Mutter in der Steiermark, im September 1939, der Krieg ist da, ein Rückweg versperrt. "Drinnen" ist auch das Arrangement mit Goebbels und dessen Schergen, die Arbeit an den Spielfilmen "Komödianten" und "Paracelsus" - zwar keine Durchhalteepen, aber heroisch grundiert und sehr konventionell. "Danach" ist die Zeit nach 1945.
Es gibt in all diesen Kapiteln fabelhafte Szenen, die sich Kehlmanns sprachlicher Subtilität verdanken. Da lässt sich eine Wahrnehmung durch eine andere überblenden so leicht wie in einem Film. Etwa beim Besuch in Goebbels' protzigem Büro, wenn Pabst den Minister vor sich gesehen zu haben glaubt und der dann erst reinkommt, mit dem Regisseur Katz und Maus spielt, sich unterm Schreibtisch in ein Nagetier zu verwandeln scheint, wieder auftaucht und sagt: "Aber ohne Canossa wird's leider nicht abgehen.'"
Auch die Begegnungen mit Leni Riefenstahl, die Pabst seit seiner Ko-Regie bei "Die weiße Hölle vom Piz Palü" kannte, sind präzise inszeniert. Pabst verachtet sie, ihr mechanisches Schauspiel vor der Kamera, aber er unterstützt sie am Set von "Tiefland", lässt sich von ihr maßregeln und erlebt, wie aus dem Zwangslager Salzburg-Maxglan Sinti und Roma als Komparsen rekrutiert werden. "'Man kann nichts tun', sagte Wilzek. 'Nein', sagte Pabst. 'Kann man nicht.'" Man ahnt hier nicht, welch hässliches Echo diese Szene haben wird.
Kehlmann wechselt immer wieder die Perspektive, springt ins Präsens, wenn Pabsts Sohn Jakob auftaucht. Auch dieser Sohn ist eine erfundene Gestalt, Pabst hatte zwei Söhne, keiner hieß Jakob. Diese kleinen Verschiebungen, die unsichtbaren Übergänge zwischen Fiktion und faktisch Belegtem sind eine Stärke des Buchs. Daraus entstehen immer wieder brillante Vignetten: von Pabsts Bittstellerbesuch bei der Garbo in Hollywood, seinem Treffen mit der süffisanten, von ihm verzweifelt begehrten Louise Brooks. Oder von einer frostigen Begegnung mit Fritz Lang.
Und dann lauert da, wie ein Geheimnis, das ein Abgrund ist, "Der Fall Molander". Kehlmann macht den Film zum Exempel, zum Spiegel, in dem alles sichtbar wird: Pabsts Verhältnis zum Kino, zur Kunst, zur Welt, zur Moral, zu den Nazis. Und wie er das erzählt, lohnt allein schon die Lektüre.
"Der Fall Molander" entstand nach "Die Sternengeige", einem dürftigen Roman des glühenden Nazis Anton Karrasch. Pabsts Hinhaltetechnik, seine gewundene Ablehnung von Stoffen ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Er hat dann diesen Film gedreht, Ende 1944 in Prag in den Barrandov-Studios, während der Krieg immer näher rückte. Es gibt ein Drehbuch im Nachlass des Autors Erich Hasselbach und knappe Berichte der Produktionsfirma im Bundesarchiv. Ein Aufsatz von Mona Harring attestiert dem Skript, das auch detaillierte Angaben zu Einstellungen und Kamerabewegungen enthält, dass Handlung, Figurenzeichnung und Bildgestaltung "dem UFA-Stil und folglich den Konventionen der Zeit entsprechen".
Der Film war im Schnitt, vielleicht sogar fertig. Aber das Material ist verschollen. Es könnte zerstört oder von den Sowjets konfisziert worden sein. Wikipedia behauptet, es liege im Národní Filmový Archiv in Prag. Auf Anfrage der F.A.S. hieß es, das sei falsch, es gebe nichts. Auch die Murnau-Stiftung weiß nichts über den Verbleib, obwohl sie die Aufführungsrechte an einem Film besitzt, den es nicht mehr gibt.
Daniel Kehlmann hat diese weißen Stellen für eine Augen öffnende Projektion genutzt. Bei ihm schreibt Pabst das Drehbuch, inszeniert wie in seinen großen Zeiten, geht noch mal aufs Ganze - bis zu dem Moment, als Ersatz für rund siebenhundert Soldaten gefunden werden muss, die als Komparsen einen Konzertsaal füllen sollten. Woher neue Komparsen kommen, ist Pabst egal; er ist besessen davon, den Film fertigzustellen. Was dann geschieht, wird für seinen Assistenten Wilzek zum Trauma. Pabst hat es in seiner Erinnerung stets verdrängt.
Wie im Fieber schneidet er zusammen mit Wilzek den Film, am Ende aus Zeitnot direkt das Negativ. Sie fliehen vor den Russen. Kehlmann beschreibt diese Flucht als Trip, als ein Taumeln zwischen Realitätsverlust und Allmachtsphantasie. Pabst sieht bei den flüchtenden Massen D. W. Griffiths Monumentalszenen vor sich, denkt an die Kosten, ist derart im Rausch, "dass es ihm schien, als könnte er hier draußen weitermachen, als stünde alles, was er sah, zur Disposition". Das Kriegsende wird ihm zum Anschlussproblem zwischen zwei Szenen, aus dem kein Achsensprung hinausführt. Und diese Wahrnehmung der Welt als Film, von Kehlmann klar, dicht, unprätentiös geschildert, diese Verwechslung von Kino und Leben ist das persönliche Drama des Regisseurs.
Das "Danach" besteht aus Teilnahmslosigkeit, "Geistesabwesenheit". Pabst redet nur vom "Fall Molander", memoriert den Film in Gedanken. Die Produktionsbedingungen sind ihm entfallen. "Geheimnisvolle Tiefe", der Film nach dem Drehbuch seiner Frau Trude, lässt ihn kalt. Als sie ihn fragt, wie er das Drehbuch finde, sagt er: "'Es hat ein paar gute Sätze.'" Liebe ist da nicht mehr im Spiel auf beiden Seiten. Die Filme über die Nazizeit, "Der letzte Akt" und "Es geschah am 20. Juli" mit Bernhard Wicki als Stauffenberg, und das übrige Spätwerk kommen gar nicht mehr vor.
Am Ende ist die Bilanz ziemlich trostlos. Pabst steht schlecht da: als Ehemann, als Vater, als Mensch, der Verantwortung trägt, als politischer Zeitgenosse, der mal "der rote Pabst" genannt wurde. Es bleiben ein Werk, das ihn überdauert, und die Anpassung an Umstände, die er nicht so genau kennen wollte. "Und weißt du, so schlecht sind sie nicht", sagt er zu seiner Frau, die ihm seinen Opportunismus vorhält. Er phantasiert sich lieber in seine Welt: "'Der Fall Molander' hingegen würde funkelnd modern sein. Der Krieg war in ein paar Wochen vorbei, und dann würde die Welt sein Werk mit Staunen sehen", lässt Kehlmann ihn kurz vor Kriegsende sagen.
Es ist der Coup, der Kunstgriff des Romans, dass er an einem verschollenen, literarisch noch einmal erfundenen Film zeigt, wo Kunst und Leben sich eben nicht trennen lassen, wann das Verhältnis von Mitteln und Zweck so pervertiert wird, dass einer sich schuldig macht. Und so handelt der Roman auch von der Kunst und ihrem Preis. Von einem "Lichtspiel", das es ohne Schatten und Dunkel nicht gäbe.
Daniel Kehlmann ist zu souverän, um ein moralisches Urteil zu fällen. Er schenkt Pabst stattdessen eine ästhetische Einsicht, die fiktiv sein mag, aber wahr ist. 1944, während der schwergängigen Arbeit am Drehbuch zum "Fall Molander", sieht Pabst im Schneideraum einen Film seines Freundes Helmut Käutner. Es handelt sich um "Unter den Brücken", "eine sanfte Liebesgeschichte unter Menschen, die auf Lastkähnen in Berlin lebten", einer der sogenannten "Überläuferfilme", die erst nach Kriegsende ins Kino kamen. Und Pabst dämmert da, dass dieser Film die Zukunft verkörpert.
Daniel Kehlmann: "Lichtspiel". Roman. Rowohlt, 478 Seiten, 26 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kunst und ihr Preis: Daniel Kehlmanns Roman "Lichtspiel" erzählt davon, wie der große Regisseur Georg Wilhelm Pabst unter den Nazis trotz allem weiter Filme drehte.
Von Peter Körte
Das Kino hat es mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann nicht nur gut gemeint. Auch wenn er das vielleicht ein wenig anders sehen mag. Ja, drei seiner Romane wurden verfilmt, "Die Vermessung der Welt" sogar unter seiner Mitwirkung, doch die Filme hatten immer etwas Papiernes, Bemühtes, wenn nicht Beflissenes. Ob sie Kehlmann, der viel über das Kino geschrieben hat und sich sehr gut auskennt, gefallen hätten - unter anderen Vorzeichen?
Nun hat Daniel Kehlmann in "Lichtspiel" einfach mal die Konstellation verändert: Er hat einen Roman über G.W. Pabst (1885-1967) geschrieben, der neben Lubitsch, Murnau und Fritz Lang zu den großen Regisseuren der Stummfilmzeit zählt. Ein Buch über eine historische Figur, wie zuvor über Tyll, Gauß, Humboldt, nur näher an der Gegenwart. Es ist keine brave Biographie von der Wiege bis zur Bahre, eher ein tiefenscharfes Porträt anhand von Schlüsselmomenten einer Karriere. Und es berührt Fragen, Ambivalenzen, denen zurzeit auch ein Film von Dominik Graf nachgeht, "Jeder schreibt für sich allein" nach dem gleichnamigen Buch von Anatol Regnier.
Graf und Regnier handeln von Schriftstellern, die während des Nationalsozialismus nicht ins Exil gingen. Auch Georg Wilhelm Pabst war ein Künstler, der blieb, obwohl er zunächst nicht wollte, der hineingeriet und dann nicht mehr wusste, wie er wieder rauskommen sollte. Der sich am Ende so verstrickt hatte, dass es ihm unmöglich erschien, zu gehen. Seinem Ruf hat das später nicht gutgetan, teils war er geächtet, wurde vereinzelt sogar "Kriegsverbrecher" genannt. Das war er definitiv ebenso wenig wie Erich Kästner, der mit Goebbels' Segen das Drehbuch zu "Münchhausen" schrieb. Aber man filmt halt nicht für sich allein. Pabst wollte unbedingt arbeiten, und ohne die Zustimmung der Reichsfilmkammer, ohne Unterwerfung unter Kontrolle und Zensur, war das unmöglich.
Natürlich hat Kehlmann die Pabst-Filme nicht nur angesehen, "Die freudlose Gasse" (1925) in ihrer Neusachlichkeit etwa oder "Die Büchse der Pandora" (1929) mit der so unglaublich modern anmutenden Louise Brooks, von der Zensur verstümmelt wegen seiner Freizügigkeit. Er hat einzelne Szenen geradezu reanimiert, sie wieder vor Augen geführt, indem er erzählt. Er hat auch gründlich recherchiert und dort, wo sich Leerstellen auftun, einen Raum für Fiktionalisierungen erschlossen. So werden ihm diese Unglücksjahre eines Regisseurs zu einem exemplarischen Buch: über den schmalen Grat zwischen Kompromiss und Selbstverleugnung, zwischen Kotau und Subversion, zwischen künstlerischer Integrität und Korrumpierbarkeit. Und über die Schwierigkeit, Person und Werk, Leben und Kunst voneinander zu trennen.
Kehlmann hat Pabst dabei nicht geschont, er lässt erkennen, wie Verantwortungslosigkeit aus der angemaßten Verantwortung für die Vollendung des eigenen Werks resultiert. Die erzählerische Linie ist schon zu erkennen an der klugen Rahmung: Ein etwas verwirrter alter Mann wird zu Beginn aus dem Altersheim in eine österreichische Talkshow chauffiert, Pabst ist da längst tot. Den Moderator der Sendung, Heinz Conrads, gab es tatsächlich. Franz Wilzek als Pabsts ehemaliger Assistent ist eine fiktive Gestalt. In seinen Kopf drängen seltsame Bilder, Fetzen von Szenen, die man erst später begreifen wird.
Dem alten Wilzek gehört auch das letzte Kapitel des Romans, dessen drei große Blöcke schlicht "Draußen", "Drinnen" und "Danach" heißen. "Draußen", das ist Hollywood, dem Pabst 1934 den Rücken kehrte, weil er mit dem System nicht klarkam, das ist die Zeit in Paris. "Drinnen" beginnt mit einem Besuch bei der kranken Mutter in der Steiermark, im September 1939, der Krieg ist da, ein Rückweg versperrt. "Drinnen" ist auch das Arrangement mit Goebbels und dessen Schergen, die Arbeit an den Spielfilmen "Komödianten" und "Paracelsus" - zwar keine Durchhalteepen, aber heroisch grundiert und sehr konventionell. "Danach" ist die Zeit nach 1945.
Es gibt in all diesen Kapiteln fabelhafte Szenen, die sich Kehlmanns sprachlicher Subtilität verdanken. Da lässt sich eine Wahrnehmung durch eine andere überblenden so leicht wie in einem Film. Etwa beim Besuch in Goebbels' protzigem Büro, wenn Pabst den Minister vor sich gesehen zu haben glaubt und der dann erst reinkommt, mit dem Regisseur Katz und Maus spielt, sich unterm Schreibtisch in ein Nagetier zu verwandeln scheint, wieder auftaucht und sagt: "Aber ohne Canossa wird's leider nicht abgehen.'"
Auch die Begegnungen mit Leni Riefenstahl, die Pabst seit seiner Ko-Regie bei "Die weiße Hölle vom Piz Palü" kannte, sind präzise inszeniert. Pabst verachtet sie, ihr mechanisches Schauspiel vor der Kamera, aber er unterstützt sie am Set von "Tiefland", lässt sich von ihr maßregeln und erlebt, wie aus dem Zwangslager Salzburg-Maxglan Sinti und Roma als Komparsen rekrutiert werden. "'Man kann nichts tun', sagte Wilzek. 'Nein', sagte Pabst. 'Kann man nicht.'" Man ahnt hier nicht, welch hässliches Echo diese Szene haben wird.
Kehlmann wechselt immer wieder die Perspektive, springt ins Präsens, wenn Pabsts Sohn Jakob auftaucht. Auch dieser Sohn ist eine erfundene Gestalt, Pabst hatte zwei Söhne, keiner hieß Jakob. Diese kleinen Verschiebungen, die unsichtbaren Übergänge zwischen Fiktion und faktisch Belegtem sind eine Stärke des Buchs. Daraus entstehen immer wieder brillante Vignetten: von Pabsts Bittstellerbesuch bei der Garbo in Hollywood, seinem Treffen mit der süffisanten, von ihm verzweifelt begehrten Louise Brooks. Oder von einer frostigen Begegnung mit Fritz Lang.
Und dann lauert da, wie ein Geheimnis, das ein Abgrund ist, "Der Fall Molander". Kehlmann macht den Film zum Exempel, zum Spiegel, in dem alles sichtbar wird: Pabsts Verhältnis zum Kino, zur Kunst, zur Welt, zur Moral, zu den Nazis. Und wie er das erzählt, lohnt allein schon die Lektüre.
"Der Fall Molander" entstand nach "Die Sternengeige", einem dürftigen Roman des glühenden Nazis Anton Karrasch. Pabsts Hinhaltetechnik, seine gewundene Ablehnung von Stoffen ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Er hat dann diesen Film gedreht, Ende 1944 in Prag in den Barrandov-Studios, während der Krieg immer näher rückte. Es gibt ein Drehbuch im Nachlass des Autors Erich Hasselbach und knappe Berichte der Produktionsfirma im Bundesarchiv. Ein Aufsatz von Mona Harring attestiert dem Skript, das auch detaillierte Angaben zu Einstellungen und Kamerabewegungen enthält, dass Handlung, Figurenzeichnung und Bildgestaltung "dem UFA-Stil und folglich den Konventionen der Zeit entsprechen".
Der Film war im Schnitt, vielleicht sogar fertig. Aber das Material ist verschollen. Es könnte zerstört oder von den Sowjets konfisziert worden sein. Wikipedia behauptet, es liege im Národní Filmový Archiv in Prag. Auf Anfrage der F.A.S. hieß es, das sei falsch, es gebe nichts. Auch die Murnau-Stiftung weiß nichts über den Verbleib, obwohl sie die Aufführungsrechte an einem Film besitzt, den es nicht mehr gibt.
Daniel Kehlmann hat diese weißen Stellen für eine Augen öffnende Projektion genutzt. Bei ihm schreibt Pabst das Drehbuch, inszeniert wie in seinen großen Zeiten, geht noch mal aufs Ganze - bis zu dem Moment, als Ersatz für rund siebenhundert Soldaten gefunden werden muss, die als Komparsen einen Konzertsaal füllen sollten. Woher neue Komparsen kommen, ist Pabst egal; er ist besessen davon, den Film fertigzustellen. Was dann geschieht, wird für seinen Assistenten Wilzek zum Trauma. Pabst hat es in seiner Erinnerung stets verdrängt.
Wie im Fieber schneidet er zusammen mit Wilzek den Film, am Ende aus Zeitnot direkt das Negativ. Sie fliehen vor den Russen. Kehlmann beschreibt diese Flucht als Trip, als ein Taumeln zwischen Realitätsverlust und Allmachtsphantasie. Pabst sieht bei den flüchtenden Massen D. W. Griffiths Monumentalszenen vor sich, denkt an die Kosten, ist derart im Rausch, "dass es ihm schien, als könnte er hier draußen weitermachen, als stünde alles, was er sah, zur Disposition". Das Kriegsende wird ihm zum Anschlussproblem zwischen zwei Szenen, aus dem kein Achsensprung hinausführt. Und diese Wahrnehmung der Welt als Film, von Kehlmann klar, dicht, unprätentiös geschildert, diese Verwechslung von Kino und Leben ist das persönliche Drama des Regisseurs.
Das "Danach" besteht aus Teilnahmslosigkeit, "Geistesabwesenheit". Pabst redet nur vom "Fall Molander", memoriert den Film in Gedanken. Die Produktionsbedingungen sind ihm entfallen. "Geheimnisvolle Tiefe", der Film nach dem Drehbuch seiner Frau Trude, lässt ihn kalt. Als sie ihn fragt, wie er das Drehbuch finde, sagt er: "'Es hat ein paar gute Sätze.'" Liebe ist da nicht mehr im Spiel auf beiden Seiten. Die Filme über die Nazizeit, "Der letzte Akt" und "Es geschah am 20. Juli" mit Bernhard Wicki als Stauffenberg, und das übrige Spätwerk kommen gar nicht mehr vor.
Am Ende ist die Bilanz ziemlich trostlos. Pabst steht schlecht da: als Ehemann, als Vater, als Mensch, der Verantwortung trägt, als politischer Zeitgenosse, der mal "der rote Pabst" genannt wurde. Es bleiben ein Werk, das ihn überdauert, und die Anpassung an Umstände, die er nicht so genau kennen wollte. "Und weißt du, so schlecht sind sie nicht", sagt er zu seiner Frau, die ihm seinen Opportunismus vorhält. Er phantasiert sich lieber in seine Welt: "'Der Fall Molander' hingegen würde funkelnd modern sein. Der Krieg war in ein paar Wochen vorbei, und dann würde die Welt sein Werk mit Staunen sehen", lässt Kehlmann ihn kurz vor Kriegsende sagen.
Es ist der Coup, der Kunstgriff des Romans, dass er an einem verschollenen, literarisch noch einmal erfundenen Film zeigt, wo Kunst und Leben sich eben nicht trennen lassen, wann das Verhältnis von Mitteln und Zweck so pervertiert wird, dass einer sich schuldig macht. Und so handelt der Roman auch von der Kunst und ihrem Preis. Von einem "Lichtspiel", das es ohne Schatten und Dunkel nicht gäbe.
Daniel Kehlmann ist zu souverän, um ein moralisches Urteil zu fällen. Er schenkt Pabst stattdessen eine ästhetische Einsicht, die fiktiv sein mag, aber wahr ist. 1944, während der schwergängigen Arbeit am Drehbuch zum "Fall Molander", sieht Pabst im Schneideraum einen Film seines Freundes Helmut Käutner. Es handelt sich um "Unter den Brücken", "eine sanfte Liebesgeschichte unter Menschen, die auf Lastkähnen in Berlin lebten", einer der sogenannten "Überläuferfilme", die erst nach Kriegsende ins Kino kamen. Und Pabst dämmert da, dass dieser Film die Zukunft verkörpert.
Daniel Kehlmann: "Lichtspiel". Roman. Rowohlt, 478 Seiten, 26 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2023Makellos,
eigentlich
Der Roman „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann
löst alle Erwartungen ein. Und ist doch kaum
mehr als die Abfolge beeindruckender Szenen
VON CORNELIUS POLLMER
Man säße gerne einmal in Daniel Kehlmanns Kopf, wenn er wieder auf die Suche geht, auf die Suche nach der richtigen Distanz. Es muss ja diese Phasen geben, in denen der außergewöhnlich erfolgreiche und populäre Schriftsteller Kehlmann als Jäger im Geiste erst eine historische Figur entdeckt, die ihm geeignet erscheint, seinen nächsten Roman zu tragen – und in denen er dann, beim Schreiben, seine Position zu dieser Figur zu suchen beginnt, jenen sweet spot also, von dem aus „Die Vermessung der Welt“ entstand und letztlich sogar „Tyll“, Kehlmanns in jeglicher Hinsicht fantastisches Kunstwerk über einen Gaukler in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
„Die Frage des richtigen Abstandes, nicht nur in zeitlicher Hinsicht“, so Kehlmann in seiner Schillerrede im vergangenen Jahr, beschäftige einen ständig, wenn man über Menschen schreibe, die tatsächlich gelebt haben. Diese interessante Halbdistanz war natürlich lange vor Kehlmann Domäne der Literatur, aus höchst plausiblen Gründen.
Wo historische Vorbilder in signifikantem Ausmaß verbrieft bleiben und zugleich die Fiktion nicht nur in der Introspektion freies Spiel hat, da wird es für den Autor wie seine Leser oft besonders knusprig. In seiner Rede in Marbach fügte Kehlmann an, die dabei entstehende Ungewissheit sei alles andere als trivial, es entstehe „um historische Figuren in erzählender Prosa immer ein Flackern, eine Unsicherheit, eine Grundverwirrung, die wir im Theater oder im Film nicht erleben“.
Um den Film als solchen und einen seiner großen Regisseure in der Zeit der Weimarer Republik und danach geht es in „Lichtspiel“, Daniel Kehlmanns soeben erschienenem neuen Roman. Er berichtet aus dem Leben von G.W. Papst, der posthum stärker in Vergessenheit geraten ist als Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau oder Ernst Lubitsch – und der vielleicht auch deswegen ins Visier von Kehlmann geraten ist, um in „Lichtspiel“ verschiedenen Fragen nachzugehen, darunter folgenden: Wenn einer, der seiner sozialkritischen Arbeiten wegen auch „der rote Pabst“ genannt wurde, schon in die USA entkommen war, warum kehrte er 1939 zurück?
Oder: Bis wohin trägt die Kunst als Verpflichtung selbst über Abgründe hinweg, ab wann aber wird sie fatale Ausrede, wenn man – wie Papst es tat – seine Filme als privilegierter Günstling eines einmaligen Vernichtungsregimes herstellt? In welcher Weise wird man sich des Schwindens bis hin zum Totalverlust der Moral überhaupt bewusst, wenn die Korrumpierung der eigenen Person sozusagen in Zeitlupe erfolgt, im Schrittmaß von Kaffeebohnen?
„Lichtspiel“ beginnt mit einer Art vorgeschaltetem Epilog im Nachkrieg. Papsts früherer Kameraassistent Franz Wilzek ist als seniler Stargast in einer Gesprächssendung im Fernsehen zu Gast, und als ihm dort in der Kulisse ein Mann sagt, sein Vater sei beim Dreh von Papsts letztem Film dabei gewesen, „bei den Statisten“, da fragt Wilzek zurück: „Wo ist die Toilette?“ Speiübel ist ihm.
Und wiewohl man als Leser eine allumfassende Dringlich- und Bedrohlichkeit sofort spürt (und weiterhin spüren wird bis zum Ende der knapp 470 Seiten), lässt sich über ihre Ursachen zunächst genauso hinweglesen, wie Pabst im Verlauf am Set eines Films von Leni Riefenstahl innerlich erst dann für ein paar Sekunden vereist, als ihm – viel zu spät – klar wird, dass es sich bei den in Scharen herangekarrten Statisten um KZ-Häftlinge handelt.
Das ist klug gebaut wie überhaupt der Titel „Lichtspiel“ in fast allen nur denkbaren Ambivalenzen von Kehlmann eingelöst wird. Trickreich lässt der Autor es flackern, wenn er in die nach dem Auftakt chronologisch erzählte Handlung alle möglichen Gegenwartsbezüge verwebt. Ein Lichtspiel ist „Lichtspiel“ sicher auch in dem Sinne, dass diese Geschichte von den Anfängen des Kinos, in denen Pabst Pionierarbeit leistete und unter anderem die Weltkarriere von Greta Garbo ermöglichte, selbst aus wechselnden Perspektiven filmisch erzählt wird.
Gerade weil Kehlmann ein so unbestritten könnender Erzähler ist, stellt sich am Ende von „Lichtspiel“ dennoch eine sonderbare Verblüffung ein, auch eine kleine Ratlosigkeit. Eigentlich stimmt wieder alles, eigentlich hat man das Buch vor lauter Neugier mehr mit Hast gelesen statt nur mit Eile, und doch fehlt dieses überragende Gefühl, einen weiteren Sofortklassiker der Gegenwartsliteratur zum ersten und sicher nicht letzten Mal gelesen zu haben.
Woran liegt’s? An den Figuren und deren Aufstellung wohl schon mal nicht. G.W. Papst bekommt erwähnten Assistenten Wilzek zur Seite gestellt sowie einen bald sehr langen Schatten, Kuno Krämer vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, eine lebende Goebbels-Sprechpuppe und also extrem rechte Hand des Ministers. Zwischen diesen drei spannt sich der Schrecken auf, der entsteht, wenn der Wille zur Kunst so bedingungslos ist, dass er den Menschen entleert. Ins Hintertreffen gerät dabei allen voran Pabsts Sohn, der in „Lichtspiel“ Jakob heißt und dessen Hochbegabung Pabst so lange verkümmern lässt, bis aus diesem Sohn ein vorbildlich stumpfer Hitlerjunge wird, dessen Leben vorerst nur noch ein Ziel kennt, nämlich die Front. Ins Hintertreffen gerät ebenfalls Jakobs Mutter Trude, die das ganze Elend ihrer Familie weit vor ihrem Mann begreift und daran doch nichts ändern kann, was für sie natürlich alles nur noch schlimmer macht.
Zu einem kleinen bis mittleren Problem für „Lichtspiel“ könnte jedoch geworden sein, dass Kehlmann diese seine Figuren oft abfilmt, statt in sie hineinzublicken, und dass seine Methode oft erdrückt zu werden droht vom Sujet, auf das er sie diesmal angesetzt hat. Wo in der Halbdistanz sonst Platz genug war für die Magie, mit der der Autor so gern arbeitet, wird es nun eng – zu gewaltig und weiterhin gegenwärtig ist der Schrecken des „Dritten Reichs“, zu unverjährt und unverjährbar sind die bitteren moralischen Fragen nach persönlicher Schuld und fahrlässigem bis willfährigen Nutznießertum.
In Marbach sagte Daniel Kehlmann, „das Unseriöse war immer schon der Ort, an dem sich die Kunst entfalten konnte“ – fürs Unseriöse aber ist der Stoff zu erdrückend. Und das Seriöse bleibt in „Lichtspiel“ eine zuweilen latent pflichtschuldige Bezugnahme auf Filmgeschichte und -geschichten, inklusive etwas blasser Gastauftritte von eben Greta Garbo über Fritz Lang bis zu Heinz Rühmann. In Summe vermag all das wiederum nicht, den Roman zu wesentlich mehr zu machen als der Abfolge seiner für sich genommen wie gesagt oft fehlerlos und oft wieder beeindruckend erzählten Szenen.
In Erinnerung bleiben wird unter anderem Trudes Erstbesuch in einem Lesekreis, in dem ausschließlich Titel des schmiegsamen Unterhaltungsschriftstellers Alfred Karrasch gelesen werden. Der sich selbst zensierende Haufen von Weibern tut so, als wäre alles in Ordnung, wiewohl alle wissen, dass es das nie und nimmer ist. Hier tut die zur bitteren Komödie verzerrte Katastrophe besonders weh, auch weil das Lachen dabei genauso unvermeidlich ist wie die damit einhergehende Gewissheit, dass es sich eigentlich verbietet. So taumelt man dahin, zwar wie immer fest an der Hand des kundigen Erzählers – über allerdings doch sehr unwegsames Gelände.
Bis wohin trägt die Kunst
als Verpflichtung
selbst über Abgründe hinweg?
Gerade weil er ein so könnender
Erzähler ist, stellt sich am Ende
eine kleine Ratlosigkeit ein
Daniel Kehlmann:
Lichtspiel, Roman.
Rowohlt, Hamburg 2023. 480 Seiten, 26 Euro.
Mit „Die Vermessung der Welt“ und zuletzt mit „Tyll“ begeisterte Daniel Kehlmann Kritiker und Publikum gleichermaßen.
Foto: Heike Steinweg
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eigentlich
Der Roman „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann
löst alle Erwartungen ein. Und ist doch kaum
mehr als die Abfolge beeindruckender Szenen
VON CORNELIUS POLLMER
Man säße gerne einmal in Daniel Kehlmanns Kopf, wenn er wieder auf die Suche geht, auf die Suche nach der richtigen Distanz. Es muss ja diese Phasen geben, in denen der außergewöhnlich erfolgreiche und populäre Schriftsteller Kehlmann als Jäger im Geiste erst eine historische Figur entdeckt, die ihm geeignet erscheint, seinen nächsten Roman zu tragen – und in denen er dann, beim Schreiben, seine Position zu dieser Figur zu suchen beginnt, jenen sweet spot also, von dem aus „Die Vermessung der Welt“ entstand und letztlich sogar „Tyll“, Kehlmanns in jeglicher Hinsicht fantastisches Kunstwerk über einen Gaukler in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
„Die Frage des richtigen Abstandes, nicht nur in zeitlicher Hinsicht“, so Kehlmann in seiner Schillerrede im vergangenen Jahr, beschäftige einen ständig, wenn man über Menschen schreibe, die tatsächlich gelebt haben. Diese interessante Halbdistanz war natürlich lange vor Kehlmann Domäne der Literatur, aus höchst plausiblen Gründen.
Wo historische Vorbilder in signifikantem Ausmaß verbrieft bleiben und zugleich die Fiktion nicht nur in der Introspektion freies Spiel hat, da wird es für den Autor wie seine Leser oft besonders knusprig. In seiner Rede in Marbach fügte Kehlmann an, die dabei entstehende Ungewissheit sei alles andere als trivial, es entstehe „um historische Figuren in erzählender Prosa immer ein Flackern, eine Unsicherheit, eine Grundverwirrung, die wir im Theater oder im Film nicht erleben“.
Um den Film als solchen und einen seiner großen Regisseure in der Zeit der Weimarer Republik und danach geht es in „Lichtspiel“, Daniel Kehlmanns soeben erschienenem neuen Roman. Er berichtet aus dem Leben von G.W. Papst, der posthum stärker in Vergessenheit geraten ist als Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau oder Ernst Lubitsch – und der vielleicht auch deswegen ins Visier von Kehlmann geraten ist, um in „Lichtspiel“ verschiedenen Fragen nachzugehen, darunter folgenden: Wenn einer, der seiner sozialkritischen Arbeiten wegen auch „der rote Pabst“ genannt wurde, schon in die USA entkommen war, warum kehrte er 1939 zurück?
Oder: Bis wohin trägt die Kunst als Verpflichtung selbst über Abgründe hinweg, ab wann aber wird sie fatale Ausrede, wenn man – wie Papst es tat – seine Filme als privilegierter Günstling eines einmaligen Vernichtungsregimes herstellt? In welcher Weise wird man sich des Schwindens bis hin zum Totalverlust der Moral überhaupt bewusst, wenn die Korrumpierung der eigenen Person sozusagen in Zeitlupe erfolgt, im Schrittmaß von Kaffeebohnen?
„Lichtspiel“ beginnt mit einer Art vorgeschaltetem Epilog im Nachkrieg. Papsts früherer Kameraassistent Franz Wilzek ist als seniler Stargast in einer Gesprächssendung im Fernsehen zu Gast, und als ihm dort in der Kulisse ein Mann sagt, sein Vater sei beim Dreh von Papsts letztem Film dabei gewesen, „bei den Statisten“, da fragt Wilzek zurück: „Wo ist die Toilette?“ Speiübel ist ihm.
Und wiewohl man als Leser eine allumfassende Dringlich- und Bedrohlichkeit sofort spürt (und weiterhin spüren wird bis zum Ende der knapp 470 Seiten), lässt sich über ihre Ursachen zunächst genauso hinweglesen, wie Pabst im Verlauf am Set eines Films von Leni Riefenstahl innerlich erst dann für ein paar Sekunden vereist, als ihm – viel zu spät – klar wird, dass es sich bei den in Scharen herangekarrten Statisten um KZ-Häftlinge handelt.
Das ist klug gebaut wie überhaupt der Titel „Lichtspiel“ in fast allen nur denkbaren Ambivalenzen von Kehlmann eingelöst wird. Trickreich lässt der Autor es flackern, wenn er in die nach dem Auftakt chronologisch erzählte Handlung alle möglichen Gegenwartsbezüge verwebt. Ein Lichtspiel ist „Lichtspiel“ sicher auch in dem Sinne, dass diese Geschichte von den Anfängen des Kinos, in denen Pabst Pionierarbeit leistete und unter anderem die Weltkarriere von Greta Garbo ermöglichte, selbst aus wechselnden Perspektiven filmisch erzählt wird.
Gerade weil Kehlmann ein so unbestritten könnender Erzähler ist, stellt sich am Ende von „Lichtspiel“ dennoch eine sonderbare Verblüffung ein, auch eine kleine Ratlosigkeit. Eigentlich stimmt wieder alles, eigentlich hat man das Buch vor lauter Neugier mehr mit Hast gelesen statt nur mit Eile, und doch fehlt dieses überragende Gefühl, einen weiteren Sofortklassiker der Gegenwartsliteratur zum ersten und sicher nicht letzten Mal gelesen zu haben.
Woran liegt’s? An den Figuren und deren Aufstellung wohl schon mal nicht. G.W. Papst bekommt erwähnten Assistenten Wilzek zur Seite gestellt sowie einen bald sehr langen Schatten, Kuno Krämer vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, eine lebende Goebbels-Sprechpuppe und also extrem rechte Hand des Ministers. Zwischen diesen drei spannt sich der Schrecken auf, der entsteht, wenn der Wille zur Kunst so bedingungslos ist, dass er den Menschen entleert. Ins Hintertreffen gerät dabei allen voran Pabsts Sohn, der in „Lichtspiel“ Jakob heißt und dessen Hochbegabung Pabst so lange verkümmern lässt, bis aus diesem Sohn ein vorbildlich stumpfer Hitlerjunge wird, dessen Leben vorerst nur noch ein Ziel kennt, nämlich die Front. Ins Hintertreffen gerät ebenfalls Jakobs Mutter Trude, die das ganze Elend ihrer Familie weit vor ihrem Mann begreift und daran doch nichts ändern kann, was für sie natürlich alles nur noch schlimmer macht.
Zu einem kleinen bis mittleren Problem für „Lichtspiel“ könnte jedoch geworden sein, dass Kehlmann diese seine Figuren oft abfilmt, statt in sie hineinzublicken, und dass seine Methode oft erdrückt zu werden droht vom Sujet, auf das er sie diesmal angesetzt hat. Wo in der Halbdistanz sonst Platz genug war für die Magie, mit der der Autor so gern arbeitet, wird es nun eng – zu gewaltig und weiterhin gegenwärtig ist der Schrecken des „Dritten Reichs“, zu unverjährt und unverjährbar sind die bitteren moralischen Fragen nach persönlicher Schuld und fahrlässigem bis willfährigen Nutznießertum.
In Marbach sagte Daniel Kehlmann, „das Unseriöse war immer schon der Ort, an dem sich die Kunst entfalten konnte“ – fürs Unseriöse aber ist der Stoff zu erdrückend. Und das Seriöse bleibt in „Lichtspiel“ eine zuweilen latent pflichtschuldige Bezugnahme auf Filmgeschichte und -geschichten, inklusive etwas blasser Gastauftritte von eben Greta Garbo über Fritz Lang bis zu Heinz Rühmann. In Summe vermag all das wiederum nicht, den Roman zu wesentlich mehr zu machen als der Abfolge seiner für sich genommen wie gesagt oft fehlerlos und oft wieder beeindruckend erzählten Szenen.
In Erinnerung bleiben wird unter anderem Trudes Erstbesuch in einem Lesekreis, in dem ausschließlich Titel des schmiegsamen Unterhaltungsschriftstellers Alfred Karrasch gelesen werden. Der sich selbst zensierende Haufen von Weibern tut so, als wäre alles in Ordnung, wiewohl alle wissen, dass es das nie und nimmer ist. Hier tut die zur bitteren Komödie verzerrte Katastrophe besonders weh, auch weil das Lachen dabei genauso unvermeidlich ist wie die damit einhergehende Gewissheit, dass es sich eigentlich verbietet. So taumelt man dahin, zwar wie immer fest an der Hand des kundigen Erzählers – über allerdings doch sehr unwegsames Gelände.
Bis wohin trägt die Kunst
als Verpflichtung
selbst über Abgründe hinweg?
Gerade weil er ein so könnender
Erzähler ist, stellt sich am Ende
eine kleine Ratlosigkeit ein
Daniel Kehlmann:
Lichtspiel, Roman.
Rowohlt, Hamburg 2023. 480 Seiten, 26 Euro.
Mit „Die Vermessung der Welt“ und zuletzt mit „Tyll“ begeisterte Daniel Kehlmann Kritiker und Publikum gleichermaßen.
Foto: Heike Steinweg
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»[Georg Wilhelm Pabsts] unheilvollen Verstrickungen in die Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten erzählt Daniel Kehlmann nuanciert und eindrucksvoll. Ulrich Noethens Interpretation macht daraus ein besonderes Kunstwerk: Ob innerer Monolog, Gesprächsszene oder Erzählerpassagen, jeder Situation verleiht Noethen eine passende Atmosphäre. Seine feine Stimmführung beeindrucken ungemein.« hr2 Hörbuchbestenliste 20231130
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ambivalent lässt Daniel Kehlmanns neuer Roman, der das Leben des einst gefeierten, heute tendenziell vergessenen deutschen Regisseurs Georg Wilhelm Pabst fiktionalisiert, den Rezensenten Andreas Kilb zurück. Zwei wesentliche Einschnitte gibt es in dieser Regisseursbiografie, führt Kilb aus, Pabsts Scheitern in Hollywood und seine anschließende Entscheidung, Filme in Nazideutschland zu drehen - drei Filme, genauer gesagt, und der bis heute verschollene dritte steht im Zentrum des Buchs. Kehl hat gut recherchiert, und wie stets gelingt es ihm, die Fakten in eine puzzleartige Fiktion zu verwandeln, auch mithilfe einiger dazuerfundener Figuren, lobt der Kritiker. Eine solche setzt die Erzählung in Gang, erfahren wir, wobei der Roman diverse Perspektiven vereint, teils auch Pabsts eigene. Vieles liest sich wie ein Filmscript, findet Kilb, über Pabsts Motivation erfährt er allerdings wenig, selbst dann nicht, wenn der Regisseur in einer historisch nicht belegten Episode für seinen letzten NS-Film Statisten aus dem KZ rekrutiert. Letztlich bleibt Pabst zu sehr Leerstelle, schließt Kilb, der das Buch lange gebannt gelesen hat, aber am Ende doch eher enttäuscht wirkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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