Anziehungs- und Fluchtformen der Liebe in sieben Geschichten: als unterdrückte Sehnsüchte und unerwünschte Verwirrungen, als verzweifelte Seitensprünge und kühne Ausbrüche, als unumkehrbare Macht der Gewohnheit, als Schuld und Selbstverleugnung. Die Protagonisten sind dabei in ihre Zeit verstrickt: Die deutsche Vergangenheit holt einen jungen Mann da ein, wo man es am wenigsten erwartet in der Liebe zu einem Bild. Ein Ostberliner Ehepaar begeht Verrat aneinander um die Ehe zu retten. Ein arrivierter Altachtundsechziger laviert sich durch die Untiefen seiner liberalen Ehe und konventionellen Liebschaften, bis sein Schiff sinkt und er angespült wird, wo er nie landen wollte. Ein deutscher Student in New York greift zu ungewöhnlichen Mitteln, um seine Liebe zu einer amerikanischen Jüdin zu bewahren.
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»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2000Immer nur lebenslänglich
Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen · Von Thomas Wirtz
Dass Bescheidenheit dem Erfolg nicht hinderlich sein muss, zeigt das Werk von Bernhard Schlink beispielhaft. Seine Sprache schlicht zu nennen wäre bereits eine unerlaubte Anspielung auf ein raffiniertes rhetorisches Kostüm oder eine stilistische Maskerade, die es so nicht gibt. Tatsächlich ist ein Sprachkarneval, eine Konfettiparade ausgelassener Tropen diesem Werk ebnso fremd, wie der endlose Aschermittwoch ihm verwandt ist: Mit bußfertiger Nacktheit tritt Schlinks Syntax hervor und schwört allen verwinkelten Nebensätzen ab. Ein Ding ist ein Ding, dem keine Metapher zu bildseligerem Leben verhilft. Bunt gescheckte Adjektive werden nicht auf die Bühne gelassen, Sprachharlekine mit Schimpf vertrieben. Was zurückbleibt, ist ein freigelegtes Skelett: der moralische Fall.
Auch in seinem jetzt erschienenen Band "Liebesfluchten", einer Sammlung von sieben kurzen Geschichten, erzählt Bernhard Schlink in der alten Tradition des Exempels, das unserem Leben zu denken geben soll. Jemand liebt in knabenjungen Jahren eine ältere Frau, doch die Unscheinbare verschwindet grußlos. Als sie nach Jahren wieder auftaucht, hat sich die reinliche Geliebte in eine entdeckte KZ-Aufseherin verwandelt. Wem von beiden Existenzen hat der Junge die ganzen Nachmittage beigelegen? Und wie soll er sich zwischen beiden entscheiden, um das eine wahrheitsgemäße Wort für ihre Anrede zu finden?
Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", der sich auf die Frage nach dem richtigen Leben zuspitzte und keinen der großen Ethikbegriffe - Schuld, Sühne, Verantwortung - seinem mageren Realitätenfleisch als Stachel erließ, hatte den knappen Ton bereits angeschlagen. Nur wenige Merkmale besaß die geliebte Hanna Schmitz, und gerade deshalb durfte keines von ihnen überlesen werden; sie waren sinnschwer gerade durch ihre Vereinsamung. Weil Hanna die Liebe nur unter Waschzwang gestattete, badeten ihre Hände vergeblich in Unschuld. Sie tat weniges und nichts umsonst, ihr Äußeres blieb unscheinbar und nur der Charakter interessant: Der Fall Hanna Schmitz stand ohne abgelenkte Blicke zur Verhandlung.
Diese Knappheit hat Methode. Die Rechtsprechung hat die Untersuchung eines beispielhaften Lebens beerbt. Wie früher der exemplarische Mensch der Legende einer war, der nicht essen und trinken musste, um sich einen Charakter zu machen, so will auch das Gericht nur von beschränkten Personen hören: Ausschließlich zur Sache sollen sie sprechen. Dafür hat die Rechtsfindung im Laufe der Zeit die Technik der Subsumtion entwickelt, die das zufällig Besondere einem bewertbaren Allgemeinen beiordnet. Bernhard Schlink, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen und Juraprofessor in Berlin, ist auch als Erzähler ein Subsumist, ein Unterordnungskünstler. Jeden Kontingenzballast, jedes selbstvergnügte Detail hat er hinter die Schranken verwiesen, um den Weg zu Urteil und Entscheidung nicht zu gefährden. Umwege sind eine Verschwendung erzählerischer Arbeitskraft, Richtungswechsel eine unzulässige Irreführung des urteilenden Lesers. Der unaufhaltsame Zug zum Buchende hin, der den Schlink-Leser nicht aus dem Roman aussteigen lässt, ist gerichtsnotorisch.
Im besten Falle ist ein solches Erzählen moralisch, ohne dass der Erzähler ein Moralist sein darf: Die Geschichte treibt auf eine bedeutende Entscheidung zu, doch im letzten Moment bleibt das Urteil unausgesprochen. Das Zurückschrecken des Vorlesers war selbst durchtränkt von Schuld, die Eindeutigkeit der juristischen Tatsachen verschwamm in einem Meer moralischer Unwägbarkeiten. Nun, in seinem Band "Liebesfluchten", glückt diese Enthaltsamkeit des letzten Worts nicht immer so gut wie in "Seitensprung". Der offene Schluss, die nachhallende Frage, das unausgesprochene Wort, die abgebrochene Geste: Schlink gelingt meist das Unfertigte, doch wirkt es zuweilen selbstzitiert, manchmal fast handwerklich. Sobald der erzählende Gestalter des Figurenschicksals und der urteilende Moralist aber wie in "Zuckererbsen" sich einig darin sind, an ihrem ungeliebten Helden gemeinsam ein Exempel zu statuieren - der Ehebrecher wird gelähmt und von seinen vereinten Frauen weggeschlossen -, wird aus der Moral die Moritat: das Leben, ein Holzschnitt.
Will die Literatur ihren eigenen Ansprüchen gegenüber gerecht sein, muss sie sich der poetischen Gerechtigkeit - der langweilig vorhersehbaren Bestrafung des Bösen am Schlussvorhang - enthalten. Schlink gelingt es als entlaufenem Juristen nicht immer, so interesselos bei seinen Figuren zu sein. Zuweilen traktiert er sie für ihre blinden Liebesfluchten, erlegt ihnen ein Bußgeld auf oder schickt sie in die Besserungsanstalt des richtigeren Lebens. Er heizt den Figuren ein, erwärmt damit aber nicht zwangsläufig auch den Leser.
Entscheidungen sind die ebenso vergnügte wie verzweifelte Leidenschaft des Bernhard Schlink. Für den Juristen bedeuten sie das Ende aller Begriffsanstrengung, die Zurichtung der kopflosen Wirklichkeit auf den einen Urteilssatz. Mit gleicher Hartnäckigkeit treibt auch der Erzähler seine Figuren durch dieses Nadelöhr hindurch, doch sie verrenken sich bei dieser Lebensgymnastik die Glieder. Schlink nimmt diesen Zwang in Kauf, denn schlimmer noch ist die unterlassene Wahl: das Anhäufen von Möglichkeiten und das Einsammeln aller möglichen Biografien. Thomas, der lächerliche Held der "Zuckererbsen", versucht sich an dieser wahllosen Schlemmerei, indem er Frauen und Vergangenheiten, Hobbys und Wohnungen über das Land streut und wie ein Handlungsreisender bei allen nur zu Besuch bleibt. Es ist das wohl einzige Mal auf allen seinen Buchseiten, dass Schlink mit Hohn über eine Figur zu Gericht sitzt. Der Entscheidungsflüchtling findet vor ihm kein Pardon, ihn beschädigt er mit einer lebenslänglichen Leibstrafe. Schlink zeigt sich als ein voreingenommener Richter, der darüber seine Fabulierlust einzubüßen droht. Diesen Thomas allein mag Schlink unter allen seinen Geschöpfen nicht, und er straft ihn dafür mit einem absurden Schicksal, sich selbst aber mit einem flacheren Ton. Literarisch ist die Abneigung Schlinks schlimmster Feind; wenn er ihr erliegt, findet er kein rechtes Wort mehr.
Alle anderen Geschichten nehmen die Entscheidung auf sich, und es wird ihnen mit einem verzweifelten Scheitern vom Autor dafür gedankt. Schlink ist virtuos in seiner Treue gegenüber dem geplatzten Utopieballon, sehnsüchtig hält er die Leine noch in Händen, wenn er auch nur bunte Fetzen hinter sich herziehen kann. Im Dreck liegen dann die ungelebten Möglichkeiten, die ungeliebten Frauen, die verpassten Verabredungen. Melancholie ist Schlinks Antwort auf diese immer nur theoretisch bleibende Vielfalt.
Die vielen Möglichkeiten gründen in einem Dilemma. Schon im "Vorleser" war die Obsession für den Liebesakt auffällig. Auch die "Liebesfluchten" versäumen nicht, den Beischlaf in allen Mannesaltern anzusprechen. Wer aber im ersten Roman glaubte, die Verführung eines Fünfzehnjährigen sei vielleicht entwicklungsgeschichtlich doch etwas bedenklich, hat die Zahl seiner wahren Lebensjahre falsch zusammengezählt. Die Helden Schlinks sind, mag ihr biologisch zufällig gestreutes Alter auch anderes sagen, alles gesetzte Männer; sie alle sind von der ersten Erregung an geschlagen mit der Einsicht, nicht allen Frauen beiliegen zu können. Das nimmt ihnen die pubertäre Leichtigkeit und macht sie zu stillen Verzweiflern, zu hoffnungslosen Entdeckungsreisenden. Sie haben das Leben schon durchlitten, bevor sie mit dem Lieben anfangen. Wenn sie am Ende tatsächlich wie der ältere Mann in der Geschichte "Die Frau an der Tankstelle" aus Ehe, Verhältnis, Bausparvertrag und Rentenanspruch aussteigen und die Utopie als Endlosschleife neu durchlaufen wollen, dann können sie Schlinks Sympathie wie seines Urteilsspruchs sicher sein. Verhalten applaudiert er diesen Midlife-Rittern der traurigen Gestalt für ihren Mut, doch die Folgen dieser Selbstverwirklichung und den Verrat an ihren Lebenspartner erlässt er ihnen nicht. Am Leiden kommen sie auf keinen Fall vorbei.
Bernhard Schlink hat über die "Abwägung" promoviert. Sie ist das Perspektiv, durch das er seine Blicke auf die private und öffentliche Geschichte richtet. Auch in seinen neuen Kurzgeschichten umkreist er die Wendepunkte der Bundesrepublik: die fortdauernde Schuld der Nazizeit, den egoistischen Protest der Achtundsechziger, den kurzatmigen Aufbruch von 1989. Diese Epochen geben seinem Abwägen die Stichworte vor, doch bleibt ihr historisches Kolorit blass. Denn die Historie wird von der gleichen Vergeblichkeit erfasst, von der auch das private Leben eingefärbt ist. Zwischen ihnen herrscht nur der Unterschied, dass am Achselhaar der Geschichte nicht so sinnlich-sentimental gerochen werden kann. Bernhard Schlink hat wieder seinen ebenso lehrhaft trockenen wie verschämt leidenden, seinen unverwechselbaren Ton angeschlagen, der aus dem "Vorleser" in den neuen Band hinüberklingt. Jetzt muss er nur noch seine Variation finden.
Bernhard Schlink: "Liebesfluchten". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 S., geb., 39,90 DM.
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Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen · Von Thomas Wirtz
Dass Bescheidenheit dem Erfolg nicht hinderlich sein muss, zeigt das Werk von Bernhard Schlink beispielhaft. Seine Sprache schlicht zu nennen wäre bereits eine unerlaubte Anspielung auf ein raffiniertes rhetorisches Kostüm oder eine stilistische Maskerade, die es so nicht gibt. Tatsächlich ist ein Sprachkarneval, eine Konfettiparade ausgelassener Tropen diesem Werk ebnso fremd, wie der endlose Aschermittwoch ihm verwandt ist: Mit bußfertiger Nacktheit tritt Schlinks Syntax hervor und schwört allen verwinkelten Nebensätzen ab. Ein Ding ist ein Ding, dem keine Metapher zu bildseligerem Leben verhilft. Bunt gescheckte Adjektive werden nicht auf die Bühne gelassen, Sprachharlekine mit Schimpf vertrieben. Was zurückbleibt, ist ein freigelegtes Skelett: der moralische Fall.
Auch in seinem jetzt erschienenen Band "Liebesfluchten", einer Sammlung von sieben kurzen Geschichten, erzählt Bernhard Schlink in der alten Tradition des Exempels, das unserem Leben zu denken geben soll. Jemand liebt in knabenjungen Jahren eine ältere Frau, doch die Unscheinbare verschwindet grußlos. Als sie nach Jahren wieder auftaucht, hat sich die reinliche Geliebte in eine entdeckte KZ-Aufseherin verwandelt. Wem von beiden Existenzen hat der Junge die ganzen Nachmittage beigelegen? Und wie soll er sich zwischen beiden entscheiden, um das eine wahrheitsgemäße Wort für ihre Anrede zu finden?
Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", der sich auf die Frage nach dem richtigen Leben zuspitzte und keinen der großen Ethikbegriffe - Schuld, Sühne, Verantwortung - seinem mageren Realitätenfleisch als Stachel erließ, hatte den knappen Ton bereits angeschlagen. Nur wenige Merkmale besaß die geliebte Hanna Schmitz, und gerade deshalb durfte keines von ihnen überlesen werden; sie waren sinnschwer gerade durch ihre Vereinsamung. Weil Hanna die Liebe nur unter Waschzwang gestattete, badeten ihre Hände vergeblich in Unschuld. Sie tat weniges und nichts umsonst, ihr Äußeres blieb unscheinbar und nur der Charakter interessant: Der Fall Hanna Schmitz stand ohne abgelenkte Blicke zur Verhandlung.
Diese Knappheit hat Methode. Die Rechtsprechung hat die Untersuchung eines beispielhaften Lebens beerbt. Wie früher der exemplarische Mensch der Legende einer war, der nicht essen und trinken musste, um sich einen Charakter zu machen, so will auch das Gericht nur von beschränkten Personen hören: Ausschließlich zur Sache sollen sie sprechen. Dafür hat die Rechtsfindung im Laufe der Zeit die Technik der Subsumtion entwickelt, die das zufällig Besondere einem bewertbaren Allgemeinen beiordnet. Bernhard Schlink, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen und Juraprofessor in Berlin, ist auch als Erzähler ein Subsumist, ein Unterordnungskünstler. Jeden Kontingenzballast, jedes selbstvergnügte Detail hat er hinter die Schranken verwiesen, um den Weg zu Urteil und Entscheidung nicht zu gefährden. Umwege sind eine Verschwendung erzählerischer Arbeitskraft, Richtungswechsel eine unzulässige Irreführung des urteilenden Lesers. Der unaufhaltsame Zug zum Buchende hin, der den Schlink-Leser nicht aus dem Roman aussteigen lässt, ist gerichtsnotorisch.
Im besten Falle ist ein solches Erzählen moralisch, ohne dass der Erzähler ein Moralist sein darf: Die Geschichte treibt auf eine bedeutende Entscheidung zu, doch im letzten Moment bleibt das Urteil unausgesprochen. Das Zurückschrecken des Vorlesers war selbst durchtränkt von Schuld, die Eindeutigkeit der juristischen Tatsachen verschwamm in einem Meer moralischer Unwägbarkeiten. Nun, in seinem Band "Liebesfluchten", glückt diese Enthaltsamkeit des letzten Worts nicht immer so gut wie in "Seitensprung". Der offene Schluss, die nachhallende Frage, das unausgesprochene Wort, die abgebrochene Geste: Schlink gelingt meist das Unfertigte, doch wirkt es zuweilen selbstzitiert, manchmal fast handwerklich. Sobald der erzählende Gestalter des Figurenschicksals und der urteilende Moralist aber wie in "Zuckererbsen" sich einig darin sind, an ihrem ungeliebten Helden gemeinsam ein Exempel zu statuieren - der Ehebrecher wird gelähmt und von seinen vereinten Frauen weggeschlossen -, wird aus der Moral die Moritat: das Leben, ein Holzschnitt.
Will die Literatur ihren eigenen Ansprüchen gegenüber gerecht sein, muss sie sich der poetischen Gerechtigkeit - der langweilig vorhersehbaren Bestrafung des Bösen am Schlussvorhang - enthalten. Schlink gelingt es als entlaufenem Juristen nicht immer, so interesselos bei seinen Figuren zu sein. Zuweilen traktiert er sie für ihre blinden Liebesfluchten, erlegt ihnen ein Bußgeld auf oder schickt sie in die Besserungsanstalt des richtigeren Lebens. Er heizt den Figuren ein, erwärmt damit aber nicht zwangsläufig auch den Leser.
Entscheidungen sind die ebenso vergnügte wie verzweifelte Leidenschaft des Bernhard Schlink. Für den Juristen bedeuten sie das Ende aller Begriffsanstrengung, die Zurichtung der kopflosen Wirklichkeit auf den einen Urteilssatz. Mit gleicher Hartnäckigkeit treibt auch der Erzähler seine Figuren durch dieses Nadelöhr hindurch, doch sie verrenken sich bei dieser Lebensgymnastik die Glieder. Schlink nimmt diesen Zwang in Kauf, denn schlimmer noch ist die unterlassene Wahl: das Anhäufen von Möglichkeiten und das Einsammeln aller möglichen Biografien. Thomas, der lächerliche Held der "Zuckererbsen", versucht sich an dieser wahllosen Schlemmerei, indem er Frauen und Vergangenheiten, Hobbys und Wohnungen über das Land streut und wie ein Handlungsreisender bei allen nur zu Besuch bleibt. Es ist das wohl einzige Mal auf allen seinen Buchseiten, dass Schlink mit Hohn über eine Figur zu Gericht sitzt. Der Entscheidungsflüchtling findet vor ihm kein Pardon, ihn beschädigt er mit einer lebenslänglichen Leibstrafe. Schlink zeigt sich als ein voreingenommener Richter, der darüber seine Fabulierlust einzubüßen droht. Diesen Thomas allein mag Schlink unter allen seinen Geschöpfen nicht, und er straft ihn dafür mit einem absurden Schicksal, sich selbst aber mit einem flacheren Ton. Literarisch ist die Abneigung Schlinks schlimmster Feind; wenn er ihr erliegt, findet er kein rechtes Wort mehr.
Alle anderen Geschichten nehmen die Entscheidung auf sich, und es wird ihnen mit einem verzweifelten Scheitern vom Autor dafür gedankt. Schlink ist virtuos in seiner Treue gegenüber dem geplatzten Utopieballon, sehnsüchtig hält er die Leine noch in Händen, wenn er auch nur bunte Fetzen hinter sich herziehen kann. Im Dreck liegen dann die ungelebten Möglichkeiten, die ungeliebten Frauen, die verpassten Verabredungen. Melancholie ist Schlinks Antwort auf diese immer nur theoretisch bleibende Vielfalt.
Die vielen Möglichkeiten gründen in einem Dilemma. Schon im "Vorleser" war die Obsession für den Liebesakt auffällig. Auch die "Liebesfluchten" versäumen nicht, den Beischlaf in allen Mannesaltern anzusprechen. Wer aber im ersten Roman glaubte, die Verführung eines Fünfzehnjährigen sei vielleicht entwicklungsgeschichtlich doch etwas bedenklich, hat die Zahl seiner wahren Lebensjahre falsch zusammengezählt. Die Helden Schlinks sind, mag ihr biologisch zufällig gestreutes Alter auch anderes sagen, alles gesetzte Männer; sie alle sind von der ersten Erregung an geschlagen mit der Einsicht, nicht allen Frauen beiliegen zu können. Das nimmt ihnen die pubertäre Leichtigkeit und macht sie zu stillen Verzweiflern, zu hoffnungslosen Entdeckungsreisenden. Sie haben das Leben schon durchlitten, bevor sie mit dem Lieben anfangen. Wenn sie am Ende tatsächlich wie der ältere Mann in der Geschichte "Die Frau an der Tankstelle" aus Ehe, Verhältnis, Bausparvertrag und Rentenanspruch aussteigen und die Utopie als Endlosschleife neu durchlaufen wollen, dann können sie Schlinks Sympathie wie seines Urteilsspruchs sicher sein. Verhalten applaudiert er diesen Midlife-Rittern der traurigen Gestalt für ihren Mut, doch die Folgen dieser Selbstverwirklichung und den Verrat an ihren Lebenspartner erlässt er ihnen nicht. Am Leiden kommen sie auf keinen Fall vorbei.
Bernhard Schlink hat über die "Abwägung" promoviert. Sie ist das Perspektiv, durch das er seine Blicke auf die private und öffentliche Geschichte richtet. Auch in seinen neuen Kurzgeschichten umkreist er die Wendepunkte der Bundesrepublik: die fortdauernde Schuld der Nazizeit, den egoistischen Protest der Achtundsechziger, den kurzatmigen Aufbruch von 1989. Diese Epochen geben seinem Abwägen die Stichworte vor, doch bleibt ihr historisches Kolorit blass. Denn die Historie wird von der gleichen Vergeblichkeit erfasst, von der auch das private Leben eingefärbt ist. Zwischen ihnen herrscht nur der Unterschied, dass am Achselhaar der Geschichte nicht so sinnlich-sentimental gerochen werden kann. Bernhard Schlink hat wieder seinen ebenso lehrhaft trockenen wie verschämt leidenden, seinen unverwechselbaren Ton angeschlagen, der aus dem "Vorleser" in den neuen Band hinüberklingt. Jetzt muss er nur noch seine Variation finden.
Bernhard Schlink: "Liebesfluchten". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 S., geb., 39,90 DM.
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Was man für einen geliebten Menschen zu tun oder aufzugeben bereit ist oder eben nicht, ob man vernachlässigt, betrogen oder getäuscht wird oder es selber tut - Liebe ist nie etwas Einfaches, Rationales oder Eindimensionales. Vieles, was man aus Liebe tut, erkennt man selbst oder der Geliebte erst viel später. Manchmal zu spät. In sieben Geschichten erzählt Bernhard Schlink, Autor des preisgekrönten Romans "Der Vorleser", nachdenkliche, schöne und manchmal auch traurige Episoden aus dem Leben von Liebenden, die versuchen, einander nahe zu sein, ohne sich selbst zu verleugnen. Dabei legt er das Innerste seiner Charaktere behutsam und ohne verletzende Spitzen offen. Schlink überlässt es ganz dem Leser, das Verhalten der Figuren zu bewerten, und genau das ist es, was das Buch auszeichnet. (www.parship.de)