Der neue Kertesz auf CD
Im Frühling 1999 brütet der Verlagslektor Keserü über dem Bühnenstück "Liquidation", gerettet aus dem Nachlass seines Freundes Be, der sich 1990 das Leben nahm. Gespenstisch genau nimmt das Drama die jetzige, verzweifelte Gegenwart vorweg - doch Keserü sucht nach Bes Lebensroman. Als er erfährt, daß der Text verbrannt wurde, wird Keserü klar, daß damit auch seine Existenz ausgelöscht ist.
Mit kriminalistischer Spannung, doppelbödig und ironisch, entfaltet der "neue Kertesz" seine Handlung. Meisterhaft knüpft er an den "Kaddish"-Roman an und erweitert die "Trilogie der Schicksallosigkeit" um einen vierten Roman.
Im Frühling 1999 brütet der Verlagslektor Keserü über dem Bühnenstück "Liquidation", gerettet aus dem Nachlass seines Freundes Be, der sich 1990 das Leben nahm. Gespenstisch genau nimmt das Drama die jetzige, verzweifelte Gegenwart vorweg - doch Keserü sucht nach Bes Lebensroman. Als er erfährt, daß der Text verbrannt wurde, wird Keserü klar, daß damit auch seine Existenz ausgelöscht ist.
Mit kriminalistischer Spannung, doppelbödig und ironisch, entfaltet der "neue Kertesz" seine Handlung. Meisterhaft knüpft er an den "Kaddish"-Roman an und erweitert die "Trilogie der Schicksallosigkeit" um einen vierten Roman.
"Verlagslektor Keserú sinnt über das Bühnenstück „Liquidation“ seines Freundes Bé nach, der sich das Leben genommen hat. Das Stück scheint die Gegenwart vorweg zu nehmen. Wenn es so etwas gibt wie gespiegelte Stimmen: hier erleben wir es. Mit den durch Regisseur Hans Drawe sorgfältig geführten Stimmen Dieter Manns, Anita Lochners, Werner Rehms und anderer verschrauben sich Geschichte und Gegenwart, Erinnern und Vergessen. So nähern wir uns dem Kern dessen, was der sprachenkundige und philosophisch gebildete Nobelpreisträger Kertész als Verfolgter der Nationalsozialisten erfahren und erlitten hat."
(hr2 Hörbuch-Bestseller)
(hr2 Hörbuch-Bestseller)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003Das leichte Leben der Verdammten
Über Imre Kertész, seinen Roman „Liquidation” und die Frage, was von Auschwitz bleibt
Gut ist es, früh zu sterben. Besser wäre es, gar nicht erst geboren worden zu sein. So lautet die Weisheit des sagenhaften, pferdegestaltigen Silen. Im 17. Jahrhundert nahm Calderón den Gedanken auf. Und heute zitiert Imre Kertész ihn mit den Worten Calderóns.
Die Rechtfertigung des Todes, sie ist so wichtig wie die Rechtfertigung des Lebens. Verschiedene Epochen haben verschiedene Ideen oder Topoi, mit denen die Menschen sich die Begriffe „Tod” und „Leben” verständlich machen. So denken die Menschen in den Assoziationen, die durch diese Ideen oder Topoi vorgegeben sind. Wer also zur Biedermeierzeit mit dem Gedanken spielte, sich umzubringen, dachte an einen Tod im Geist der Romantik: Aus dem Leiden an unerreichbarer Ferne, an Ungenügen und Vergeblichkeit ergab sich die Sprache, genauer: die Semantik, in der sich der Einzelne den eigenen Tod vorstellte.
Heutzutage lassen sich die Fragen nach Sein und Nichtsein nur in der Semantik verhandeln, die aus der Erinnerung ans KZ-System hervorgegangen ist. Daher zum Beispiel die Haltung eines Mannes wie Thomas Bernhard: 1991 notierte Kertész im „Galeerentagebuch”, Bernhard habe „sich immer mit den Opfern – am Ende seines Lebens mit den Juden identifiziert – offensichtlich um der Inspiration willen”.
Was Kertész über Bernhard sagt, gilt auch für jene, die weder dieser Art Inspiration noch dieser Art Identifikation bedürfen. Der Rauch über den Vernichtungslagern ist nicht verzogen und vergangen. Er hat sich langsam verteilt, in der Luft, die wir alle atmen; und wenn wir ausatmen, wenn wir reden, spricht aus uns auch der Rauch, einerlei, was wir sagen. Kertész zeigt, dass die Frage nach Tod und Leben seit Auschwitz nur im Hinblick auf Auschwitz beantwortet werden kann. In seinen Büchern finden die Leser dargestellt und begründet, warum sie selbst leben oder sterben wollen.
An die Nachgeborenen
Die „Shoah”, der „Holocaust”: Diese Begriffe bezeichnen das historische Ereignis. „Auschwitz” meint vor allem den moralischen Effekt: Für alle Nachgeborenen ist „Auschwitz” die Vorlage dafür, was Menschen Menschen antun können, und das Leitbild für den Tod.
Wie rechtfertigt man das Leben „nach Auschwitz”? Wie rechtfertigt man den Tod? Die erste Frage hat Kertész für sich mit der Erfahrung des Stalinismus in Ungarn beantwortet, der es ihm ermöglicht habe, zu schreiben. Für Jean Améry und Primo Levi war die Erinnerung ans Erlittene stärker als das, was dann das Leben in Freiheit ausmachte. Schließlich wurde sie übermächtig. Kertész glaubt, dass dieses Schicksal ihm erspart geblieben sei, weil er in Ungarn sein „Gefängnis” hatte. Der „Ekel”, mit dem er des Morgens erwachte, wirkte wie ein Antidot gegen die kaum erträgliche Erinnerung. Was Kertész rückblickend empfand und wie er die Gegenwart erlebte: es ergänzte sich. So, sagt er, konnte er schreiben. 1990 setzte er ins „Galeerentagebuch” die Worte: „ein Satz Ciorans , für dessen Wahrheit ich mit meinem Leben bürge: ,Jedes Buch ist ein aufgeschobener Selbstmord.‘”
Die zweite Frage, die nach der Legitimation des Todes, hat Kertész in seinem neuen Roman bis zu dem Ende verfolgt, das dem Buch den Titel gibt: „Liquidation” (übersetzt von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 142 Seiten, 17,90 Euro). Was ihn bewegt, hat Kertész hier auf verschiedene Personen verteilt: Da ist B., ein Jude, der 1944 im KZ geboren wurde, den ungarischen Kommunismus ertrug und sich 1990, zehn Jahre nach dem Untergang des Sowjetreiches, das Leben genommen hat.
Dieser Mann, dem die Häftlingsnummer bei seiner Geburt auf den Oberschenkel tätowiert wurde, weil sie sich „auf einem Säuglingsarm noch nicht unterbringen ließ, einfach aus Platzmangel, der Kürze des Säuglingsarms wegen”, dieser Mann hat das Leben, das er gleichsam regelwidrig erhalten hatte, zurückgegeben. Er korrigierte den Fehler, der in der KZ-Maschinerie aufgetreten war. Da ist Judit, B.s Ehefrau, die vor ihm zu einem ganz normalen Mann geflohen ist, weil sie an der Seite dieses umgetriebenen Menschen fast zugrunde gegangen wäre. Und da ist Keserü, der Lektor, kein Jude, aber durch die ungarischen Verhältnisse zum Lebensüberdruss gebracht.
Keserü, der Lektor, sucht nach dem Roman, den B. hinterlassen hat. Denn er hält den toten Freund für einen großen Schriftsteller, und so einer sterbe nicht, ohne sein Werk vollendet zu haben. An der Figur B.s zeigt „Liquidation”, was Imre Kertész hätte geschehen können, als die Diktatur vorüber war, die er als die Voraussetzung dafür sah, dass er sich nicht das Leben nahm. An der Figur Keserüs zeigt „Liquidation”, wie es ist, sich selbst nicht umzubringen. Keserü braucht B.s nachgelassenen Roman, weil er sich davon Hilfe erhofft, denn „allein die Literatur” ist imstande, „die Kontinuität, die Ungebrochenheit unseres Lebens wiederherzustellen”. Keserü erzählt B.s Geschichte, „um meine eigene Geschichte zu retten”. „Die Schmach des Lebens über uns ergehen lassen und schweigen: das sei die größte Leistung”, sagte B. Und nachdem Keserü ihm lange zugehört hatte, sagte er über seinen eigenen, immer aufgeschobenen Selbstmord: „Es kommt mir auf einmal überflüssig vor, mich und die Gesellschaft damit zu bemühen.” Da hatte B. gelacht.
Verurteilung antiker Ideale
„Liquidation” handelt nicht so sehr vom Leben, sondern davon, wie man am Leben bleibt. Ein Beamter hat Keserü über den Selbstmörder vernommen. Aber Keserü hat eine belanglose Aussage gemacht. „In was für einer Sprache hätte ich ihm B.s Geschichte erzählen können?”, fragt er, „sachlich? Dramatisch? Protokollmäßig. . .?” Kertész wechselt die Genres der Darstellung: Mal spricht der auktoriale Erzähler, dann folgt ein Akt aus einem Theaterstück, dann wieder schreibt Kertész aus der Perspektive Keserüs. Die Freiheit, die sich aus der Abwesenheit der Diktatur ergibt, entspricht der Freiheit der Formen, die Kertész vorführt. Die Wechsel von Formen und Erzählperspektiven sind kompliziert. Den Figuren hilft alles nichts. Auch Judit, die B. verlassen hatte, wird von ihrer Geschichte eingeholt. „Widerstehe der Versuchung”, hatte B. gesagt, „hüte dich davor, dich selbst zu erkennen, denn dann bist du verdammt.”
B.s großer Roman bleibt aus guten Gründen unauffindbar. Kertész hat den seinen, den „Roman eines Schicksallosen”, 1975 in Ungarn publizieren können. In „Liquidation” ist die Rede vom „Schriftgelehrten”. Was ist das? Ein Mensch, der eine tiefere Einsicht hat, ein Botschafter der Wahrheit. In der Geschichte „Die englische Flagge” lässt Kertész den Erzähler sagen, sein Leben diene dazu, „Zeugnis abzulegen”. So beschreibt Kertész seine eigene Aufgabe.
Die Selbstbeobachtung und die Beschäftigung mit Wittgenstein, den er ins Ungarische übersetzt hat, brachten Kertész zu einem Gottesbegriff jenseits von Glaube und Theologie. Dieser ersteht aus der Transzendierung der historischen Ereignisse ins Existentielle. In „Ich – ein anderer” findet sich ein Dialog, in dem „K., der Schriftsteller” sein Prophetentum darlegt: „Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott Bankrott gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit, . . . mich unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht mit Asche zu bedecken und Auschwitz im grässlichen Zeichen der Gnade anzunehmen.” Es anzunehmen, um davon Zeugnis abzulegen. Aber Kertész weiß selbst, dass diese negative Theologie heikel ist. Ja, es ist „etwas faul an der Sache”: Die Vernichtung „so teleologisch” auffassen, hieße: dem Leben, das „Auschwitz” überlebt hat, einen Sinn geben. Und das führt in ein Paradoxon. Denn der Prophet hintergeht seine Einsicht nicht. Und diese liegt für Kertész eben darin, dass die KZ-Vernichtungsmaschinerie fortwirkt, weil sie die herkömmlichen Legitimationsmuster der Zivilisation annullierte. Die romantische Figur des prophetischen Genies gibt es nicht mehr. Der Seher, der mit besonderer Erfahrung geschlagen, mit besonderer Empfindsamkeit begabt ist und deshalb von der Wahrheit künden muss: ihn kann es nach Auschwitz nicht mehr geben. Die Vorhaltungen, die Kertész sich selbst in jenem Dialog macht, enden mit dem Satz: „K., der Schriftsteller, hat darauf nichts mehr erwidert. Seither schweigt er.”
Imre Kertész’ Lesungen tun dem deutschen Publikum wohl: Den Zuhörern darf es vorkommen, als seien sie erlöst, weil er von Dingen handelt, die sie um nichts mehr angehen als die Angehörigen anderer Nationen. Die deutsche Seele wird durch ihn entlastet. Denn was ihm widerfahren ist, hat er verallgemeinert, bis dahin, dass seit Auschwitz alle verdammt sind: „Ich beeilte mich, sie zu beruhigen”, steht in „Die Englische Flagge”: Tatsache sei, „dass jenseits des Anekdotischen jede Geschichte und jedermanns Geschichte vom wesentlichen her gesehen gleichartig sei, und dass diese im wesentlichen gleichartigen Geschichten im wesentlichen alle Schreckensgeschichten seien, dass im wesentlichen alles Geschehen tatsächlich schrecklich sei.” Die Angesprochenen sind Gäste einer Abendgesellschaft in Ungarn. Aber das gleiche gilt natürlich für die deutsche Gesellschaft.
Was den Juden angetan wurde, weil sie Juden waren, hat Kertész also generalisiert. Er tat es aus zwei Gründen: Er hat sich selbst nicht als „Jude” empfunden, als er deportiert wurde. Und es ist mit Auschwitz eine neue Form der Verdammnis in die Welt gekommen: Sie besteht in der für das Individuum unbegreiflichen Tatsache, nichts getan zu haben, was die eigene Vernichtung erklärlich machen könnte, und zudem die eigene Vernichtung durch keine Maßnahme – wie etwa: eine Konversion – abwenden zu können. Kertész ist darüber, mit seinem Wort, zum „Mystiker” geworden.
Die existentielle Verallgemeinerung, die darin liegt, „jedermanns Geschichte” eine Schreckensgeschichte zu nennen, bringt es dann aber mit sich, dass die Täter entlastet werden. In Kertész’ Texten ist die ganze Welt existentiell verdammt. Politik spielt da keine Rolle, denn mit politischen Mitteln kann Auschwitz nicht aufgehoben werden.
Dem entspricht es, dass Kertész den Tonfall wechselt, wenn er über aktuelle politische Themen schreibt: Dann äußert er Meinungen, wie andere es auch tun. Diese Meinungen, moralische Ansichten, entspringen einer Überzeugung, die Kertész sich – zu seiner eigenen Verwunderung – aus Kindertagen bewahrt hat: dass es so etwas wie Sittlichkeit gebe. „Wäre mein kindlicher Glaube an ursprüngliche – dem Ursprung verhaftete – Werte nicht intakt geblieben”, bekannte er in „Ich – ein anderer”, „ich hätte wohl nie etwas zustande gebracht.” Das gehört auch zu den Widersprüchen, in denen Kertész lebt: Einerseits ist er Mystiker, der von den Bewegungen in der Welt nichts erwartet; andererseits ist er Bildungsbürger und Moralist. Und nur als Mystiker spricht er für alle, nicht aber als Moralist.
Die neuen Zeitalter
Auschwitz sei „kein Geschichtsereignis”, hat Kertész geschrieben. Geschichte ist Politik, da gibt es auf allen Seiten definierte Akteure. Als Geschichtsereignis geht das KZ-System alle unmittelbar an, die irgendwie davon betroffen sind, und sei es, dass sie mit Erschütterung in einem Buch davon lesen.
Wenn diese Erschütterung im politischen Leben zur Rechtfertigung der eigenen Ansichten eingesetzt wird, so ist das zwar verständlich, doch ist es falsch: All die Vergleiche von diesem oder jenem Diktator mit Adolf Hitler, die Behauptung, man müsse Soldaten in dieses oder jenes Land entsenden, damit „Auschwitz” sich nicht wiederhole, sind lediglich Propaganda. So sollten wir nicht argumentieren. „Auschwitz” kann sich gar nicht wiederholen: Denn es ist die Chiffre für die im 20. Jahrhundert neu geschaffene condition humaine, die Imre Kertész beschreibt. Und als diese Chiffre ist „Auschwitz” ebenso einzigartig wie gegenwärtig. Die Semantik von „Auschwitz”: sie ist unser aller Sprache; und unsere Sprache: das sind wir.
FRANZISKA AUGSTEIN
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Über Imre Kertész, seinen Roman „Liquidation” und die Frage, was von Auschwitz bleibt
Gut ist es, früh zu sterben. Besser wäre es, gar nicht erst geboren worden zu sein. So lautet die Weisheit des sagenhaften, pferdegestaltigen Silen. Im 17. Jahrhundert nahm Calderón den Gedanken auf. Und heute zitiert Imre Kertész ihn mit den Worten Calderóns.
Die Rechtfertigung des Todes, sie ist so wichtig wie die Rechtfertigung des Lebens. Verschiedene Epochen haben verschiedene Ideen oder Topoi, mit denen die Menschen sich die Begriffe „Tod” und „Leben” verständlich machen. So denken die Menschen in den Assoziationen, die durch diese Ideen oder Topoi vorgegeben sind. Wer also zur Biedermeierzeit mit dem Gedanken spielte, sich umzubringen, dachte an einen Tod im Geist der Romantik: Aus dem Leiden an unerreichbarer Ferne, an Ungenügen und Vergeblichkeit ergab sich die Sprache, genauer: die Semantik, in der sich der Einzelne den eigenen Tod vorstellte.
Heutzutage lassen sich die Fragen nach Sein und Nichtsein nur in der Semantik verhandeln, die aus der Erinnerung ans KZ-System hervorgegangen ist. Daher zum Beispiel die Haltung eines Mannes wie Thomas Bernhard: 1991 notierte Kertész im „Galeerentagebuch”, Bernhard habe „sich immer mit den Opfern – am Ende seines Lebens mit den Juden identifiziert – offensichtlich um der Inspiration willen”.
Was Kertész über Bernhard sagt, gilt auch für jene, die weder dieser Art Inspiration noch dieser Art Identifikation bedürfen. Der Rauch über den Vernichtungslagern ist nicht verzogen und vergangen. Er hat sich langsam verteilt, in der Luft, die wir alle atmen; und wenn wir ausatmen, wenn wir reden, spricht aus uns auch der Rauch, einerlei, was wir sagen. Kertész zeigt, dass die Frage nach Tod und Leben seit Auschwitz nur im Hinblick auf Auschwitz beantwortet werden kann. In seinen Büchern finden die Leser dargestellt und begründet, warum sie selbst leben oder sterben wollen.
An die Nachgeborenen
Die „Shoah”, der „Holocaust”: Diese Begriffe bezeichnen das historische Ereignis. „Auschwitz” meint vor allem den moralischen Effekt: Für alle Nachgeborenen ist „Auschwitz” die Vorlage dafür, was Menschen Menschen antun können, und das Leitbild für den Tod.
Wie rechtfertigt man das Leben „nach Auschwitz”? Wie rechtfertigt man den Tod? Die erste Frage hat Kertész für sich mit der Erfahrung des Stalinismus in Ungarn beantwortet, der es ihm ermöglicht habe, zu schreiben. Für Jean Améry und Primo Levi war die Erinnerung ans Erlittene stärker als das, was dann das Leben in Freiheit ausmachte. Schließlich wurde sie übermächtig. Kertész glaubt, dass dieses Schicksal ihm erspart geblieben sei, weil er in Ungarn sein „Gefängnis” hatte. Der „Ekel”, mit dem er des Morgens erwachte, wirkte wie ein Antidot gegen die kaum erträgliche Erinnerung. Was Kertész rückblickend empfand und wie er die Gegenwart erlebte: es ergänzte sich. So, sagt er, konnte er schreiben. 1990 setzte er ins „Galeerentagebuch” die Worte: „ein Satz Ciorans , für dessen Wahrheit ich mit meinem Leben bürge: ,Jedes Buch ist ein aufgeschobener Selbstmord.‘”
Die zweite Frage, die nach der Legitimation des Todes, hat Kertész in seinem neuen Roman bis zu dem Ende verfolgt, das dem Buch den Titel gibt: „Liquidation” (übersetzt von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 142 Seiten, 17,90 Euro). Was ihn bewegt, hat Kertész hier auf verschiedene Personen verteilt: Da ist B., ein Jude, der 1944 im KZ geboren wurde, den ungarischen Kommunismus ertrug und sich 1990, zehn Jahre nach dem Untergang des Sowjetreiches, das Leben genommen hat.
Dieser Mann, dem die Häftlingsnummer bei seiner Geburt auf den Oberschenkel tätowiert wurde, weil sie sich „auf einem Säuglingsarm noch nicht unterbringen ließ, einfach aus Platzmangel, der Kürze des Säuglingsarms wegen”, dieser Mann hat das Leben, das er gleichsam regelwidrig erhalten hatte, zurückgegeben. Er korrigierte den Fehler, der in der KZ-Maschinerie aufgetreten war. Da ist Judit, B.s Ehefrau, die vor ihm zu einem ganz normalen Mann geflohen ist, weil sie an der Seite dieses umgetriebenen Menschen fast zugrunde gegangen wäre. Und da ist Keserü, der Lektor, kein Jude, aber durch die ungarischen Verhältnisse zum Lebensüberdruss gebracht.
Keserü, der Lektor, sucht nach dem Roman, den B. hinterlassen hat. Denn er hält den toten Freund für einen großen Schriftsteller, und so einer sterbe nicht, ohne sein Werk vollendet zu haben. An der Figur B.s zeigt „Liquidation”, was Imre Kertész hätte geschehen können, als die Diktatur vorüber war, die er als die Voraussetzung dafür sah, dass er sich nicht das Leben nahm. An der Figur Keserüs zeigt „Liquidation”, wie es ist, sich selbst nicht umzubringen. Keserü braucht B.s nachgelassenen Roman, weil er sich davon Hilfe erhofft, denn „allein die Literatur” ist imstande, „die Kontinuität, die Ungebrochenheit unseres Lebens wiederherzustellen”. Keserü erzählt B.s Geschichte, „um meine eigene Geschichte zu retten”. „Die Schmach des Lebens über uns ergehen lassen und schweigen: das sei die größte Leistung”, sagte B. Und nachdem Keserü ihm lange zugehört hatte, sagte er über seinen eigenen, immer aufgeschobenen Selbstmord: „Es kommt mir auf einmal überflüssig vor, mich und die Gesellschaft damit zu bemühen.” Da hatte B. gelacht.
Verurteilung antiker Ideale
„Liquidation” handelt nicht so sehr vom Leben, sondern davon, wie man am Leben bleibt. Ein Beamter hat Keserü über den Selbstmörder vernommen. Aber Keserü hat eine belanglose Aussage gemacht. „In was für einer Sprache hätte ich ihm B.s Geschichte erzählen können?”, fragt er, „sachlich? Dramatisch? Protokollmäßig. . .?” Kertész wechselt die Genres der Darstellung: Mal spricht der auktoriale Erzähler, dann folgt ein Akt aus einem Theaterstück, dann wieder schreibt Kertész aus der Perspektive Keserüs. Die Freiheit, die sich aus der Abwesenheit der Diktatur ergibt, entspricht der Freiheit der Formen, die Kertész vorführt. Die Wechsel von Formen und Erzählperspektiven sind kompliziert. Den Figuren hilft alles nichts. Auch Judit, die B. verlassen hatte, wird von ihrer Geschichte eingeholt. „Widerstehe der Versuchung”, hatte B. gesagt, „hüte dich davor, dich selbst zu erkennen, denn dann bist du verdammt.”
B.s großer Roman bleibt aus guten Gründen unauffindbar. Kertész hat den seinen, den „Roman eines Schicksallosen”, 1975 in Ungarn publizieren können. In „Liquidation” ist die Rede vom „Schriftgelehrten”. Was ist das? Ein Mensch, der eine tiefere Einsicht hat, ein Botschafter der Wahrheit. In der Geschichte „Die englische Flagge” lässt Kertész den Erzähler sagen, sein Leben diene dazu, „Zeugnis abzulegen”. So beschreibt Kertész seine eigene Aufgabe.
Die Selbstbeobachtung und die Beschäftigung mit Wittgenstein, den er ins Ungarische übersetzt hat, brachten Kertész zu einem Gottesbegriff jenseits von Glaube und Theologie. Dieser ersteht aus der Transzendierung der historischen Ereignisse ins Existentielle. In „Ich – ein anderer” findet sich ein Dialog, in dem „K., der Schriftsteller” sein Prophetentum darlegt: „Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott Bankrott gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit, . . . mich unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht mit Asche zu bedecken und Auschwitz im grässlichen Zeichen der Gnade anzunehmen.” Es anzunehmen, um davon Zeugnis abzulegen. Aber Kertész weiß selbst, dass diese negative Theologie heikel ist. Ja, es ist „etwas faul an der Sache”: Die Vernichtung „so teleologisch” auffassen, hieße: dem Leben, das „Auschwitz” überlebt hat, einen Sinn geben. Und das führt in ein Paradoxon. Denn der Prophet hintergeht seine Einsicht nicht. Und diese liegt für Kertész eben darin, dass die KZ-Vernichtungsmaschinerie fortwirkt, weil sie die herkömmlichen Legitimationsmuster der Zivilisation annullierte. Die romantische Figur des prophetischen Genies gibt es nicht mehr. Der Seher, der mit besonderer Erfahrung geschlagen, mit besonderer Empfindsamkeit begabt ist und deshalb von der Wahrheit künden muss: ihn kann es nach Auschwitz nicht mehr geben. Die Vorhaltungen, die Kertész sich selbst in jenem Dialog macht, enden mit dem Satz: „K., der Schriftsteller, hat darauf nichts mehr erwidert. Seither schweigt er.”
Imre Kertész’ Lesungen tun dem deutschen Publikum wohl: Den Zuhörern darf es vorkommen, als seien sie erlöst, weil er von Dingen handelt, die sie um nichts mehr angehen als die Angehörigen anderer Nationen. Die deutsche Seele wird durch ihn entlastet. Denn was ihm widerfahren ist, hat er verallgemeinert, bis dahin, dass seit Auschwitz alle verdammt sind: „Ich beeilte mich, sie zu beruhigen”, steht in „Die Englische Flagge”: Tatsache sei, „dass jenseits des Anekdotischen jede Geschichte und jedermanns Geschichte vom wesentlichen her gesehen gleichartig sei, und dass diese im wesentlichen gleichartigen Geschichten im wesentlichen alle Schreckensgeschichten seien, dass im wesentlichen alles Geschehen tatsächlich schrecklich sei.” Die Angesprochenen sind Gäste einer Abendgesellschaft in Ungarn. Aber das gleiche gilt natürlich für die deutsche Gesellschaft.
Was den Juden angetan wurde, weil sie Juden waren, hat Kertész also generalisiert. Er tat es aus zwei Gründen: Er hat sich selbst nicht als „Jude” empfunden, als er deportiert wurde. Und es ist mit Auschwitz eine neue Form der Verdammnis in die Welt gekommen: Sie besteht in der für das Individuum unbegreiflichen Tatsache, nichts getan zu haben, was die eigene Vernichtung erklärlich machen könnte, und zudem die eigene Vernichtung durch keine Maßnahme – wie etwa: eine Konversion – abwenden zu können. Kertész ist darüber, mit seinem Wort, zum „Mystiker” geworden.
Die existentielle Verallgemeinerung, die darin liegt, „jedermanns Geschichte” eine Schreckensgeschichte zu nennen, bringt es dann aber mit sich, dass die Täter entlastet werden. In Kertész’ Texten ist die ganze Welt existentiell verdammt. Politik spielt da keine Rolle, denn mit politischen Mitteln kann Auschwitz nicht aufgehoben werden.
Dem entspricht es, dass Kertész den Tonfall wechselt, wenn er über aktuelle politische Themen schreibt: Dann äußert er Meinungen, wie andere es auch tun. Diese Meinungen, moralische Ansichten, entspringen einer Überzeugung, die Kertész sich – zu seiner eigenen Verwunderung – aus Kindertagen bewahrt hat: dass es so etwas wie Sittlichkeit gebe. „Wäre mein kindlicher Glaube an ursprüngliche – dem Ursprung verhaftete – Werte nicht intakt geblieben”, bekannte er in „Ich – ein anderer”, „ich hätte wohl nie etwas zustande gebracht.” Das gehört auch zu den Widersprüchen, in denen Kertész lebt: Einerseits ist er Mystiker, der von den Bewegungen in der Welt nichts erwartet; andererseits ist er Bildungsbürger und Moralist. Und nur als Mystiker spricht er für alle, nicht aber als Moralist.
Die neuen Zeitalter
Auschwitz sei „kein Geschichtsereignis”, hat Kertész geschrieben. Geschichte ist Politik, da gibt es auf allen Seiten definierte Akteure. Als Geschichtsereignis geht das KZ-System alle unmittelbar an, die irgendwie davon betroffen sind, und sei es, dass sie mit Erschütterung in einem Buch davon lesen.
Wenn diese Erschütterung im politischen Leben zur Rechtfertigung der eigenen Ansichten eingesetzt wird, so ist das zwar verständlich, doch ist es falsch: All die Vergleiche von diesem oder jenem Diktator mit Adolf Hitler, die Behauptung, man müsse Soldaten in dieses oder jenes Land entsenden, damit „Auschwitz” sich nicht wiederhole, sind lediglich Propaganda. So sollten wir nicht argumentieren. „Auschwitz” kann sich gar nicht wiederholen: Denn es ist die Chiffre für die im 20. Jahrhundert neu geschaffene condition humaine, die Imre Kertész beschreibt. Und als diese Chiffre ist „Auschwitz” ebenso einzigartig wie gegenwärtig. Die Semantik von „Auschwitz”: sie ist unser aller Sprache; und unsere Sprache: das sind wir.
FRANZISKA AUGSTEIN
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In «Liquidation» hat Kertész seinen Auschwitz-Zyklus mit einem würdigen Schlussstein gekrönt. Frankfurter Rundschau