»Eine unentbehrliche Lektüre.« Christopher ClarkVictor Klemperers Schilderung des Chaos nach dem Ersten Weltkrieg und des Scheiterns der Münchner Räterepublik. Solch genaue, anschauliche Momentaufnahmen aus der belagerten Stadt findet man nirgendwo sonst. Ein bewegendes, mit Spannung zu lesendes Gesamtbild von diesem entscheidenden Wendepunkt der deutschen Geschichte - aus der Revolution von 1918/19 ging nicht nur die erste deutsche Demokratie hervor, zugleich kündigte sich in ihr das kommende Unheil an.»Ein sensationelles Zeugnis. Hier entdeckt man einen ganz neuen Victor Klemperer.«Alexander Cammann, DIE ZEIT»Eine Sensation.« Marc Reichwein, Die Literarische Welt»Man ist sofort eingenommen von Klemperers Ton.« Daniel Kehlmann
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.07.2015Polit-Gaudi
Victor Klemperer berichtet über die
Münchner Räterepublik 1919
VON JENS BISKY
Der Revolutionsliterat“ war eine Zeichnung in der Silvesterausgabe der Wochenzeitschrift Simplicissimus überschrieben, 31. Dezember 1918. Auf einem roten Diwan sitzt, entspannt bis in die Barthaare, der anarchistische Dichter Erich Mühsam. Lässig hält er die Zigarette in der rechten Hand, während eine füllige, gut geschminkte Dame sich an seiner linken zu schaffen macht: „Maniküren Sie mir Schwielen an die Hände. Ich bin jetzt Arbeiterrat.“
Über diese Karikatur lachten im Januar 1919 ausgiebig der Leitartikler der nationalkonservativen Leipziger Neuesten Nachrichten, Paul Harms, und der Privatdozent Victor Klemperer, der vor kurzem aus dem Krieg zurückgekehrt war, im Dezember München besucht hatte, um seinen Entlassungsschein zu erhalten und den Wiedereintritt in die akademische Karriere zu organisieren.
Bereits am 7. November 1918 hatte Kurt Eisner den Freistaat Bayern proklamiert, der überraschte König, Ludwig III., floh. München wurde revolutionäres Zentrum. Was Klemperer den Leipziger Freunden über seine Erlebnisse dort erzählt hatte, passte genau zur Karikatur auf Mühsam, der sich gerade als radikaler Politiker erprobte.
Klemperer solle doch, schlug Paul Harms vor, aus München für die Leipziger Neuesten Nachrichten berichten. Zögern, lockende Angebote, Zuspruch der Brüder, auf deren finanzielle Unterstützung Klemperer angewiesen war – am 11. Februar erschien der Artikel „Politik und Bohème (Von unserem A.B.-Mitarbeiter)“.
A.B. stand für „Antibavaricus“. Neben dem Sinn für das Karnevalistische im Revolutionsgeschehen, für das „Faschingstreiben mit blutigem Ernst“, prägte die Distanz des Norddeutschen, des Preußen, zu allem Bayrischen den Blick Klemperers auf das Münchner Geschehen: „Die Münchner Bohème ist eine Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi getreten . . .“.
Unter dem Titel „Man möchte weinen und lachen zugleich“ veröffentlicht der Aufbau–Verlag in diesen Tagen Victor Klemperers „Revolutionstagebuch 1919“. Es enthält neben fünf gedruckten Korrespondentenberichten weitere Artikel, die handschriftlich überliefert sind. Klemperer nahm an, dass sie, verfasst und verschickt mitten in den Kämpfen Ende April, Anfang Mai, die Zeitung in Leipzig nicht erreichten. Hinzu kommen Erinnerungen, die der entrechtete und verfolgte Romanist 1942 in „Judenhäusern“ in Dresden niederschrieb.
Die Chirurgin Annemarie Köhler bewahrte seit 1940 unter Lebensgefahr die Tagebücher und Manuskripte Klemperers auf. Ihrer Anständigkeit, ihrem Mut ist es zu danken, dass wir Victor Klemperers Chronik des 20. Jahrhunderts lesen können: sein sprachkritisches Meisterwerk „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) – das „Notizbuch eines Philologen“ erschien zuerst 1947; „Curriculum Vitae“, seine Erinnerungen an die Jahre 1881 bis 1918, die 1989 herauskamen, und vor allem seine Tagebücher aus der Zeit des „Dritten Reiches“. Seit sie 1995 erschienen, haben sie Hunderttausende Leser gefunden. Wer immer sich ein Bild vom Alltag unter Hitler und inmitten der Nationalsozialisten machen, die Mentalität der „Volksgemeinschaft“ kennen lernen will, wird zu diesen Tagebüchern greifen: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.
Die Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942 wiederholen manche Beobachtung, die der Siebenunddreißigjährige 1919 notierte. Es geht um die Lächerlichkeit von Phrasen und Pathos, um die Radikalisierung nach der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar, und um die erschlagende Ratlosigkeit des Bürgertums. Noch einmal erzählt Klemperer vom Besuch in einer Schwabinger Dachwohnung, wo er den Wert der Bibliothek Kurt Eisners schätzen sollte. Ein hoher Preis war für die „typische Büchersammlung eines Journalisten, der mehr Interessen als Geld besessen hatte“, nicht zu erwarten. Noch einmal kann man lesen, wie die erste Räterepublik unter den Intellektuellen Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller, von einer zweiten Räterepublik unter den Kommunisten Eugen Leviné und Max Levien abgelöst wurde, bis Anfang Mai die Freikorps unter dem Jubel der Münchner einmarschierten.
All das erfährt man in Berichten aus dem Jahr 1919 und in den Erinnerungen von 1942, die in dem Bewusstsein niedergeschrieben wurden, dass die Entfesselung der Gewalt, die Gewöhnung an politische Morde, die Missachtung bürgerlicher Freiheit lange vor 1933 begonnen hatten.
Landauer wurde am 2. Mai 1919 misshandelt, angeschossen, zu Tode getreten; Eugen Leviné im Juni 1919 hingerichtet; Erich Mühsam 1934 im KZ Oranienburg ermordet, Max Levien 1937 in der Sowjetunion erschossen, Ernst Toller nahm sich im amerikanischen Exil 1939 das Leben. Franz Ritter von Epp, dessen Freikorps in München begrüßt worden war, der an der Universität eifrig Freiwillige warb, wurde Hitlers Reichsstatthalter in Bayern.
1942 erinnert sich Klemperer an die „Triumph- und Werberede“ eines Studierenden, der bei Epp diente: „In meinem Bericht darüber steht ein Satz, auf den ich stolz war: ,Ich fürchtete immer, er werde sich versprechen und statt Epp: Schill sagen.’“ (Gemeint ist Ferdinand von Schill, der ein Freikorps gegen Napoleon führte.) „Aber es war noch eine andere Befürchtung in mir, und sie hielt ich, in diesem Artikel wenigstens, zurück. Wenn der begeisterte Redner von den ,landfremden Elementen’ sprach, vor denen das Vaterland in Zukunft geschützt werden müsse, dann fürchtete ich immer, er werde statt ,landfremder Elemente’ Saujuden sagen.“
Das bayerische Bürgertum zeichnete sich für Klemperer im Jahr 1919 durch „engherzigen Partikularismus“ aus, die Flugblätter machten die Juden für alles verantwortlich, der „bürgerliche Volksmund“ nannte „neben den Juden die Preußen“. Wem galten Klemperers Sympathien? Gewiss nicht den Spartakisten und dem „Unfug der Räterrepublik“, nicht dem schwachen, nach Bamberg geflohenen Kabinett des Sozialdemokraten Hoffmann, nicht den Bürgern.
„Man muss die schöne Gemütsruhe des Münchner Bürgertums“, schrieb er im April 1919, „miterlebt haben, um den gelungenen Handstreich der Rätepartei nicht allzusehr zu bewundern. Ahnungslos waren die Bürger und alle Gemäßigteren diesmal nicht, das tuschelte überall seit Wochen, im April käme ,es’. Aber der gute Bürger dachte eben, er habe sich lange genug aufgeregt, und einmal müsse der Mensch auch ,sei Ruh’ haben. Also kümmerte man sich um Butter und Eier statt um Mühsam und Landauer.“
Klemperer schrieb im „Gefühl der Isoliertheit“, verstärkt vor allem durch den allgegenwärtigen Antisemitismus, unter dem er persönlich allerdings in München nicht zu leiden gehabt habe. Einer Minderheit gehörte er auch als Verteidiger der bürgerlichen Freiheit an. Leidenschaftlich erinnert er an die Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung: Seine Stimme gab Klemperer den Liberalen, und er sei auch in späteren Jahren dabei geblieben, trotz der Einwände, die Zeit der Liberalen sei abgelaufen, sie haben keine Köpfe, seien machtlos. „Die eigentlich menschliche Welt ist mir die europäische, und Europa ist durch den Liberalismus geworden und lebt durch den Liberalismus. Er ist die reine, die allein europäisierende Lehre. Man muss sich zu ihr bekennen, auch da und gerade da, wo sie im Augenblick machtlos und missachtet ist.“
Diese liberale, an Montesquieu geschulte Perspektive zeichnet Klemperers in der Reihe der vielen literarischen Revolutionsberichte – etwa von Thomas Mann, von Erich Mühsam oder Josef Hofmiller – aus. Sie ermöglichte ihm berührende Charakteristiken auch derjenigen Personen, deren politische Überzeugungen ihm fremd waren, deren Handeln er missbilligte, am berührendsten in dem Korrespondentenbericht über „München nach Eisners Ermordung“: „Er wollte nichts für seine Person, er war, obwohl ihn die Plötzlichkeit seines Aufstiegs natürlich mit Selbstbewusstsein erfüllt hatte, keineswegs von jener peinlichen Eitelkeit Karl Liebknechts, er war auch ohne den blutigen Fanatismus Rosa Luxemburgs. Er wollte seine Hände frei halten von Geld und von Blut.“ Erfüllt vom besten Willen, habe er auch bei anderen immer „die gleiche Seelenunschuld“ vorausgesetzt, schwebend in Ahnungslosigkeit über dem festen Boden, den man ihm längst entzogen hatte.
Eine Wohnung konnte Klemperer in München nicht finden, also zog er mit seiner Frau zunächst in die Pension Michel und dann in die Pension Berg, Schellingstraße 1, dicht am Geschehen, dicht an der Universität, deren außerordentlicher Professor er war, bis man ihn 1920 überraschend an die Technische Hochschule Dresden berief. Die Jahre des Schwankens zwischen Journalismus und Akademie endeten damit, für den Journalismus war das ein Verlust. Klemperer schrieb als Antibavaricus ein präzises, nie gravitätisches, aber auch nicht simplifizierendes Deutsch. Er wusste die „kreisrunden Menschennester“ auf Straßen und Plätzen zu beschreiben, Knäuel, in denen gesprochen, erzählt wurde. „Ein Schuß würde genügen, die Verschmelzung dieser Gruppen, die chaotische Masse zu formieren.“
Obwohl in der zweiten Aprilhälfte von Nachrichten abgeschnitten – es gab kaum Zeitungen,, nur revolutionäre Mitteilungsblätter –, sah er die Entwicklung richtig voraus. Er durchschaute Hohlheit des improvisierten Universitätsbetriebs, fiel auf Schauergeschichten über kommunistische Bluttaten oder „Kommunisierung der Bürgerfrauen“ nicht herein – und warf den Kommunisten doch vor, nichts unterlassen zu haben, „was eine entzügelte Menge des Rechtsgefühls entwöhnen und Schritt für Schritt schließlich zu den schlimmsten Verbrechen führen muss. Willkürliche Verhaftungen, festnahmen von Geiseln, Haussuchungen, die in gemeinste Plünderung ausarten, und immer, immer wieder Aufhetzungen der schlimmsten, blutigsten, ruchlosesten Art . . . “.
In der Tat wurden Geiseln erschossen, dann begann der „weiße Terror“, zunächst als „freudige bayrisch-preußische Verbrüderung“, dann in entsetzlichen Wochen politischer Morde. Die bündigsten Zusammenfassung bietet noch immer das Kapitel „Aus der Geschichte der Stadt München“ in Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“: „In München war die Widerlegung der Argumente der Linksparteien durch Tötung derer, die sie propagierten, besonders beliebt.“
Die nun vorliegende Ausgabe des Revolutionstagebuchs wird eingeleitet von einem Vorwort des Historikers Christopher Clark, sie enthält einen Essay Wolfram Wettes zur „deutschen Revolution 1918/19“ sowie Anmerkungen und Personenregister. Die politischen Feuilletons Klemperers und sein Rückblick aus dem Jahr 1942 machen lokale Ereignisse, die blutigen Wirren der Münchner Räterepublik und ihre Niederschlagung, als einen Schlüsselmoment der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts erkennbar.
Dem bayerischen Bürgertum des
Jahres 1919 attestierte Klemperer
„engherzigen Partikularismus“
„Europa ist durch den
Liberalismus geworden
und lebt durch den Liberalismus“
Klemperers Berufung an die
Hochschule in Dresden war für
den Journalismus ein Verlust
Der Romanist Victor Klemperer, geboren 1881 in Landsberg an der Warthe, gestorben 1960 in Dresden, als Kandidat zur Volkskammerwahl 1954.
Foto: dpa
„Wenn mir die roten und die weißen Kämpfer wenig zusagten, so waren mir die Münchner Bürger mehr als je zuwider.“
Bewaffnete Mitglieder der Roten Armee während der zweiten Räterepublik auf Streife. Foto: SZ Photo
Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015.
263 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Victor Klemperer berichtet über die
Münchner Räterepublik 1919
VON JENS BISKY
Der Revolutionsliterat“ war eine Zeichnung in der Silvesterausgabe der Wochenzeitschrift Simplicissimus überschrieben, 31. Dezember 1918. Auf einem roten Diwan sitzt, entspannt bis in die Barthaare, der anarchistische Dichter Erich Mühsam. Lässig hält er die Zigarette in der rechten Hand, während eine füllige, gut geschminkte Dame sich an seiner linken zu schaffen macht: „Maniküren Sie mir Schwielen an die Hände. Ich bin jetzt Arbeiterrat.“
Über diese Karikatur lachten im Januar 1919 ausgiebig der Leitartikler der nationalkonservativen Leipziger Neuesten Nachrichten, Paul Harms, und der Privatdozent Victor Klemperer, der vor kurzem aus dem Krieg zurückgekehrt war, im Dezember München besucht hatte, um seinen Entlassungsschein zu erhalten und den Wiedereintritt in die akademische Karriere zu organisieren.
Bereits am 7. November 1918 hatte Kurt Eisner den Freistaat Bayern proklamiert, der überraschte König, Ludwig III., floh. München wurde revolutionäres Zentrum. Was Klemperer den Leipziger Freunden über seine Erlebnisse dort erzählt hatte, passte genau zur Karikatur auf Mühsam, der sich gerade als radikaler Politiker erprobte.
Klemperer solle doch, schlug Paul Harms vor, aus München für die Leipziger Neuesten Nachrichten berichten. Zögern, lockende Angebote, Zuspruch der Brüder, auf deren finanzielle Unterstützung Klemperer angewiesen war – am 11. Februar erschien der Artikel „Politik und Bohème (Von unserem A.B.-Mitarbeiter)“.
A.B. stand für „Antibavaricus“. Neben dem Sinn für das Karnevalistische im Revolutionsgeschehen, für das „Faschingstreiben mit blutigem Ernst“, prägte die Distanz des Norddeutschen, des Preußen, zu allem Bayrischen den Blick Klemperers auf das Münchner Geschehen: „Die Münchner Bohème ist eine Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi getreten . . .“.
Unter dem Titel „Man möchte weinen und lachen zugleich“ veröffentlicht der Aufbau–Verlag in diesen Tagen Victor Klemperers „Revolutionstagebuch 1919“. Es enthält neben fünf gedruckten Korrespondentenberichten weitere Artikel, die handschriftlich überliefert sind. Klemperer nahm an, dass sie, verfasst und verschickt mitten in den Kämpfen Ende April, Anfang Mai, die Zeitung in Leipzig nicht erreichten. Hinzu kommen Erinnerungen, die der entrechtete und verfolgte Romanist 1942 in „Judenhäusern“ in Dresden niederschrieb.
Die Chirurgin Annemarie Köhler bewahrte seit 1940 unter Lebensgefahr die Tagebücher und Manuskripte Klemperers auf. Ihrer Anständigkeit, ihrem Mut ist es zu danken, dass wir Victor Klemperers Chronik des 20. Jahrhunderts lesen können: sein sprachkritisches Meisterwerk „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) – das „Notizbuch eines Philologen“ erschien zuerst 1947; „Curriculum Vitae“, seine Erinnerungen an die Jahre 1881 bis 1918, die 1989 herauskamen, und vor allem seine Tagebücher aus der Zeit des „Dritten Reiches“. Seit sie 1995 erschienen, haben sie Hunderttausende Leser gefunden. Wer immer sich ein Bild vom Alltag unter Hitler und inmitten der Nationalsozialisten machen, die Mentalität der „Volksgemeinschaft“ kennen lernen will, wird zu diesen Tagebüchern greifen: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.
Die Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942 wiederholen manche Beobachtung, die der Siebenunddreißigjährige 1919 notierte. Es geht um die Lächerlichkeit von Phrasen und Pathos, um die Radikalisierung nach der Ermordung Kurt Eisners am 21. Februar, und um die erschlagende Ratlosigkeit des Bürgertums. Noch einmal erzählt Klemperer vom Besuch in einer Schwabinger Dachwohnung, wo er den Wert der Bibliothek Kurt Eisners schätzen sollte. Ein hoher Preis war für die „typische Büchersammlung eines Journalisten, der mehr Interessen als Geld besessen hatte“, nicht zu erwarten. Noch einmal kann man lesen, wie die erste Räterepublik unter den Intellektuellen Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller, von einer zweiten Räterepublik unter den Kommunisten Eugen Leviné und Max Levien abgelöst wurde, bis Anfang Mai die Freikorps unter dem Jubel der Münchner einmarschierten.
All das erfährt man in Berichten aus dem Jahr 1919 und in den Erinnerungen von 1942, die in dem Bewusstsein niedergeschrieben wurden, dass die Entfesselung der Gewalt, die Gewöhnung an politische Morde, die Missachtung bürgerlicher Freiheit lange vor 1933 begonnen hatten.
Landauer wurde am 2. Mai 1919 misshandelt, angeschossen, zu Tode getreten; Eugen Leviné im Juni 1919 hingerichtet; Erich Mühsam 1934 im KZ Oranienburg ermordet, Max Levien 1937 in der Sowjetunion erschossen, Ernst Toller nahm sich im amerikanischen Exil 1939 das Leben. Franz Ritter von Epp, dessen Freikorps in München begrüßt worden war, der an der Universität eifrig Freiwillige warb, wurde Hitlers Reichsstatthalter in Bayern.
1942 erinnert sich Klemperer an die „Triumph- und Werberede“ eines Studierenden, der bei Epp diente: „In meinem Bericht darüber steht ein Satz, auf den ich stolz war: ,Ich fürchtete immer, er werde sich versprechen und statt Epp: Schill sagen.’“ (Gemeint ist Ferdinand von Schill, der ein Freikorps gegen Napoleon führte.) „Aber es war noch eine andere Befürchtung in mir, und sie hielt ich, in diesem Artikel wenigstens, zurück. Wenn der begeisterte Redner von den ,landfremden Elementen’ sprach, vor denen das Vaterland in Zukunft geschützt werden müsse, dann fürchtete ich immer, er werde statt ,landfremder Elemente’ Saujuden sagen.“
Das bayerische Bürgertum zeichnete sich für Klemperer im Jahr 1919 durch „engherzigen Partikularismus“ aus, die Flugblätter machten die Juden für alles verantwortlich, der „bürgerliche Volksmund“ nannte „neben den Juden die Preußen“. Wem galten Klemperers Sympathien? Gewiss nicht den Spartakisten und dem „Unfug der Räterrepublik“, nicht dem schwachen, nach Bamberg geflohenen Kabinett des Sozialdemokraten Hoffmann, nicht den Bürgern.
„Man muss die schöne Gemütsruhe des Münchner Bürgertums“, schrieb er im April 1919, „miterlebt haben, um den gelungenen Handstreich der Rätepartei nicht allzusehr zu bewundern. Ahnungslos waren die Bürger und alle Gemäßigteren diesmal nicht, das tuschelte überall seit Wochen, im April käme ,es’. Aber der gute Bürger dachte eben, er habe sich lange genug aufgeregt, und einmal müsse der Mensch auch ,sei Ruh’ haben. Also kümmerte man sich um Butter und Eier statt um Mühsam und Landauer.“
Klemperer schrieb im „Gefühl der Isoliertheit“, verstärkt vor allem durch den allgegenwärtigen Antisemitismus, unter dem er persönlich allerdings in München nicht zu leiden gehabt habe. Einer Minderheit gehörte er auch als Verteidiger der bürgerlichen Freiheit an. Leidenschaftlich erinnert er an die Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung: Seine Stimme gab Klemperer den Liberalen, und er sei auch in späteren Jahren dabei geblieben, trotz der Einwände, die Zeit der Liberalen sei abgelaufen, sie haben keine Köpfe, seien machtlos. „Die eigentlich menschliche Welt ist mir die europäische, und Europa ist durch den Liberalismus geworden und lebt durch den Liberalismus. Er ist die reine, die allein europäisierende Lehre. Man muss sich zu ihr bekennen, auch da und gerade da, wo sie im Augenblick machtlos und missachtet ist.“
Diese liberale, an Montesquieu geschulte Perspektive zeichnet Klemperers in der Reihe der vielen literarischen Revolutionsberichte – etwa von Thomas Mann, von Erich Mühsam oder Josef Hofmiller – aus. Sie ermöglichte ihm berührende Charakteristiken auch derjenigen Personen, deren politische Überzeugungen ihm fremd waren, deren Handeln er missbilligte, am berührendsten in dem Korrespondentenbericht über „München nach Eisners Ermordung“: „Er wollte nichts für seine Person, er war, obwohl ihn die Plötzlichkeit seines Aufstiegs natürlich mit Selbstbewusstsein erfüllt hatte, keineswegs von jener peinlichen Eitelkeit Karl Liebknechts, er war auch ohne den blutigen Fanatismus Rosa Luxemburgs. Er wollte seine Hände frei halten von Geld und von Blut.“ Erfüllt vom besten Willen, habe er auch bei anderen immer „die gleiche Seelenunschuld“ vorausgesetzt, schwebend in Ahnungslosigkeit über dem festen Boden, den man ihm längst entzogen hatte.
Eine Wohnung konnte Klemperer in München nicht finden, also zog er mit seiner Frau zunächst in die Pension Michel und dann in die Pension Berg, Schellingstraße 1, dicht am Geschehen, dicht an der Universität, deren außerordentlicher Professor er war, bis man ihn 1920 überraschend an die Technische Hochschule Dresden berief. Die Jahre des Schwankens zwischen Journalismus und Akademie endeten damit, für den Journalismus war das ein Verlust. Klemperer schrieb als Antibavaricus ein präzises, nie gravitätisches, aber auch nicht simplifizierendes Deutsch. Er wusste die „kreisrunden Menschennester“ auf Straßen und Plätzen zu beschreiben, Knäuel, in denen gesprochen, erzählt wurde. „Ein Schuß würde genügen, die Verschmelzung dieser Gruppen, die chaotische Masse zu formieren.“
Obwohl in der zweiten Aprilhälfte von Nachrichten abgeschnitten – es gab kaum Zeitungen,, nur revolutionäre Mitteilungsblätter –, sah er die Entwicklung richtig voraus. Er durchschaute Hohlheit des improvisierten Universitätsbetriebs, fiel auf Schauergeschichten über kommunistische Bluttaten oder „Kommunisierung der Bürgerfrauen“ nicht herein – und warf den Kommunisten doch vor, nichts unterlassen zu haben, „was eine entzügelte Menge des Rechtsgefühls entwöhnen und Schritt für Schritt schließlich zu den schlimmsten Verbrechen führen muss. Willkürliche Verhaftungen, festnahmen von Geiseln, Haussuchungen, die in gemeinste Plünderung ausarten, und immer, immer wieder Aufhetzungen der schlimmsten, blutigsten, ruchlosesten Art . . . “.
In der Tat wurden Geiseln erschossen, dann begann der „weiße Terror“, zunächst als „freudige bayrisch-preußische Verbrüderung“, dann in entsetzlichen Wochen politischer Morde. Die bündigsten Zusammenfassung bietet noch immer das Kapitel „Aus der Geschichte der Stadt München“ in Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“: „In München war die Widerlegung der Argumente der Linksparteien durch Tötung derer, die sie propagierten, besonders beliebt.“
Die nun vorliegende Ausgabe des Revolutionstagebuchs wird eingeleitet von einem Vorwort des Historikers Christopher Clark, sie enthält einen Essay Wolfram Wettes zur „deutschen Revolution 1918/19“ sowie Anmerkungen und Personenregister. Die politischen Feuilletons Klemperers und sein Rückblick aus dem Jahr 1942 machen lokale Ereignisse, die blutigen Wirren der Münchner Räterepublik und ihre Niederschlagung, als einen Schlüsselmoment der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts erkennbar.
Dem bayerischen Bürgertum des
Jahres 1919 attestierte Klemperer
„engherzigen Partikularismus“
„Europa ist durch den
Liberalismus geworden
und lebt durch den Liberalismus“
Klemperers Berufung an die
Hochschule in Dresden war für
den Journalismus ein Verlust
Der Romanist Victor Klemperer, geboren 1881 in Landsberg an der Warthe, gestorben 1960 in Dresden, als Kandidat zur Volkskammerwahl 1954.
Foto: dpa
„Wenn mir die roten und die weißen Kämpfer wenig zusagten, so waren mir die Münchner Bürger mehr als je zuwider.“
Bewaffnete Mitglieder der Roten Armee während der zweiten Räterepublik auf Streife. Foto: SZ Photo
Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Aufbau Verlag, Berlin 2015.
263 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2015Die Kränkung machte ihn hellsichtig
Victor Klemperers Fragment gebliebenes Revolutionstagebuch über die chaotische Zeit nach dem Ersten Weltkrieg liegt erstmals gedruckt vor. Die Sensation des Bandes aber ist eine andere.
Mitte Dezember 1918 begegnet Victor Klemperer, Privatdozent und künftiger außerordentlicher Professor für Romanistik an der Universität München, auf einer Wahlversammlung dem ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner. Eisner kommt dicht an Klemperer vorüber, "sein Ärmel streift mich. Nachher kann ich ihn lange Zeit auf drei Schritt Entfernung betrachten. Ein zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen. Dem kahlen Schädel fehlen imposante Maße, das Haar hängt schmutziggrau in den Nacken, der rötliche Vollbart wechselt ins Schmutziggraue hinüber, die schweren Augen sehen trübgrau durch Brillengläser. Nichts Geniales, nichts Ehrwürdiges, nichts Heroisches ist an der ganzen Gestalt zu entdecken, ein mittelmäßiger verbrauchter Mensch, dem ich mindestens 65 Jahre gebe, obwohl er noch ganz im Anfang der Fünfzig steht."
Interessant an dieser Beschreibung ist nicht die Frage, ob sie dem "Männchen", dem sie gilt, gerecht wird, sondern der Zeitpunkt ihrer Entstehung: Januar 1942. Zu dieser Zeit lebte Klemperer seit anderthalb Jahren mit seiner Frau Eva in einem "Judenhaus" in der Dresdner Caspar-David-Friedrich-Straße, in das die beiden aus ihrer Villa in Dresden-Dölzschen vertrieben worden waren. Die Umstände, unter denen sie dort hausen mussten, den Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, Zeitungen und die ständige Todesangst, die mit dem Tragen des gelben Sterns verbunden war, hat Klemperer in seinen Tagebüchern aus dem "Dritten Reich" mit akribischer Gründlichkeit geschildert. Jedes alltägliche Bedürfnis stieß an Verbote, jeder Gang auf die Straße war ein Wagnis, jede Freude im Keim erstickt. Aber das Gedächtnis funktionierte perfekt.
In jenem Winter 1942, in dem die deutsche Wehrmacht in Russland ihre ersten großen Niederlagen erlitt, sammelte Klemperer in der Isolation seiner Zwangsunterkunft Material für eine Fortsetzung seiner Lebenserinnerungen, die zu diesem Zeitpunkt bis ins Jahr 1918 reichten. Die Notizen zum "Revolutions-Tagebuch", das daran anschließen sollte, blieben Fragment, die dichtbeschriebenen Seiten des Manuskripts wurden hastig vor der Gestapo versteckt und später nicht mehr ergänzt. Jetzt bilden sie das Rückgrat des Bandes "Man möchte immer weinen und lachen in einem", mit dem der Aufbau Verlag seine Publikation von Klemperers Aufzeichnungen aus dem Nachlass fortsetzt.
Die Sensation dieses Buches aber ist eine andere. Sie liegt in den fünfzehn Reportagen, die Klemperer zwischen Februar 1919 und Januar 1920 für die "Leipziger Neuesten Nachrichten", eine konservative Tageszeitung, verfasst hat und die hier zum ersten Mal gemeinsam veröffentlicht sind. Zwar distanziert sich Klemperer, als wollte er das Urteil der Nachwelt vorwegnehmen, in seinen Aufzeichnungen aus der Nazizeit pflichtschuldig von diesen Texten: Der "Kampf zwischen dem Hochschullehrer und dem Journalisten" in ihm sei entschieden gewesen, bevor er die erste Zeile geschrieben habe. Doch Anfang 1919, als Klemperer mit dem leitenden Redakteur der "LNN" über eine mögliche Mitarbeit redete, stand die Entscheidung durchaus noch nicht fest. Sogar auf "einen Pariser Posten" scheint er bei seiner neuen Tätigkeit spekuliert zu haben.
Dazu kam es nicht, Klemperer blieb Philologe. Aber es macht den Reiz dieser Reportagen aus, dass in ihnen der Professor noch nicht endgültig über den Journalisten gesiegt hat, dass der Zeitzeuge K. sich noch nicht auf den Hochsitz des Privaten zurückgezogen hat, von dem aus er sein Tagebuch aus den zwanziger Jahren schreibt. Im Frühjahr 1919 wird in München Geschichte gemacht, und der Extraordinarius Klemperer macht mit. Eisners Ärmel streift seine Jacke, ein Student, der ihn im Seminar anspricht, erweist sich als Frontmann der Räteregierung, und als er sich im Mai aus dem Fenster lehnt, sieht er, wie zwei Bürger einen "Roten" anhalten und in die Flucht schlagen. "Kein Kino vermag größere Sensationen zu schaffen", meldet er nach Leipzig, nachdem er den zerschossenen Stachus besichtigt hat, das ausgebrannte Ladenhäuschen, die zerstörten Dachstühle, die Kugelspuren an den Häusern. Und wie immer, wenn das Kino als Metapher bemüht wird, schwingt darin die Spannung zwischen Auge und Unterleib, der voyeuristische Reiz des Schauens und der Nervenkitzel der Gefahr.
Von beidem gab es in jenem Frühling mehr als genug. Schon im Herbst 1918 waren die Bayern ihren Berliner Vettern eine Nasenlänge voraus. Am 8. November, einen Tag vor Liebknecht und Scheidemann, proklamierte Kurt Eisner in München die Republik. Dann folgte ein wahres Karussell von Herrschaftsformen: Revolutionsregierung, Wahldemokratie, Räterepublik, zuletzt eine linke Militärdiktatur. Als ein Bündnis aus Freikorps und Reichswehrtruppen Anfang Mai die Hauptstadt in zweitägigen Kämpfen zurückeroberte, war der Keim für den Untergang der Weimarer Republik in Bayern gelegt.
Von diesen Kämpfen und den Saal-, Salon- und Hinterzimmerschlachten, die ihnen vorangingen, erzählt Klemperer in seinen Artikeln, von denen wegen der Postsperre nur ein Drittel ihren Empfänger erreichte, im Ton eines überdrehten Kriegsfeuilletonisten. Am Landtag fliegen Handgranaten, im Englischen Garten sterben die Fasane, doch der spätere Autor der "Einführung in das Mittelfranzösische" betrachtet mit Kennerblick die "kreisrunden Menschennester" auf den Straßen, in denen sich das Potential der Revolte ballt, und genießt den Anblick der Jagdflugzeuge am Himmel, aus denen die Flugblätter der Bamberger Exilregierung auf die Passanten herunterregnen.
Unverstellter als in den Aufzeichnungen von 1942, in denen die Beobachtung meist schon durch Reflexion gebändigt ist, spricht aus den Reportagen das Volksfest- und Spektakelhafte, die makabre Gaudi, welche die sogenannte Revolution für all jene, die nicht unmittelbar an ihr teilhatten, eben auch war, zumal für die Münchner, die, wie Klemperer kopfschüttelnd beobachtet, bei jedem Wetter "im Fenster liegen", um zu sehen, was draußen los ist. Zu ihnen will unser Autor keinesfalls gehören, weshalb er seine Berichte mit "A. B.", für "Antibavaricus", zeichnet - aber dann geht er doch wieder ans Fenster und schreibt auf, was auf der Straße passiert.
Schließlich wäre Klemperer nicht Klemperer, wenn sein Lebensthema nicht auch in diesen frühen Zeilen zur Sprache käme. Schon beim Militär hat er unter der Judenfeindlichkeit von Vorgesetzten und Kameraden zu leiden gehabt; jetzt registriert er, wie "Preuß'" und "Jude" plötzlich zu Synonymen werden, wie englische Damen im Salon von der jüdischen Weltverschwörung zu faseln anfangen und wie der Affekt der bayerischen Spießer gegen die Revolutionäre mit dem alten Hass auf die "Saujuden" verschmilzt. Klemperer, zweifach protestantisch getaufter Sohn eines Rabbiners, wollte vergessen, dass er Jude war, aber seine Mitwelt ließ es nicht zu. Diese Kränkung machte ihn hellsichtig. Sie ließ ihn genauer hinsehen als alle anderen, die im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland Tagebuch schrieben. So sind auch diese Berichte und Notizen nicht bloß Gelegenheitsarbeiten eines Bildungsbürgers, sondern ein wahrhaftiger Spiegel ihrer Zeit.
ANDREAS KILB
Victor Klemperer: "Man möchte immer weinen und lachen in einem". Revolutionstagebuch 1919.
Aufbau Verlag, Berlin 2015. 263 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Victor Klemperers Fragment gebliebenes Revolutionstagebuch über die chaotische Zeit nach dem Ersten Weltkrieg liegt erstmals gedruckt vor. Die Sensation des Bandes aber ist eine andere.
Mitte Dezember 1918 begegnet Victor Klemperer, Privatdozent und künftiger außerordentlicher Professor für Romanistik an der Universität München, auf einer Wahlversammlung dem ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner. Eisner kommt dicht an Klemperer vorüber, "sein Ärmel streift mich. Nachher kann ich ihn lange Zeit auf drei Schritt Entfernung betrachten. Ein zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen. Dem kahlen Schädel fehlen imposante Maße, das Haar hängt schmutziggrau in den Nacken, der rötliche Vollbart wechselt ins Schmutziggraue hinüber, die schweren Augen sehen trübgrau durch Brillengläser. Nichts Geniales, nichts Ehrwürdiges, nichts Heroisches ist an der ganzen Gestalt zu entdecken, ein mittelmäßiger verbrauchter Mensch, dem ich mindestens 65 Jahre gebe, obwohl er noch ganz im Anfang der Fünfzig steht."
Interessant an dieser Beschreibung ist nicht die Frage, ob sie dem "Männchen", dem sie gilt, gerecht wird, sondern der Zeitpunkt ihrer Entstehung: Januar 1942. Zu dieser Zeit lebte Klemperer seit anderthalb Jahren mit seiner Frau Eva in einem "Judenhaus" in der Dresdner Caspar-David-Friedrich-Straße, in das die beiden aus ihrer Villa in Dresden-Dölzschen vertrieben worden waren. Die Umstände, unter denen sie dort hausen mussten, den Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, Zeitungen und die ständige Todesangst, die mit dem Tragen des gelben Sterns verbunden war, hat Klemperer in seinen Tagebüchern aus dem "Dritten Reich" mit akribischer Gründlichkeit geschildert. Jedes alltägliche Bedürfnis stieß an Verbote, jeder Gang auf die Straße war ein Wagnis, jede Freude im Keim erstickt. Aber das Gedächtnis funktionierte perfekt.
In jenem Winter 1942, in dem die deutsche Wehrmacht in Russland ihre ersten großen Niederlagen erlitt, sammelte Klemperer in der Isolation seiner Zwangsunterkunft Material für eine Fortsetzung seiner Lebenserinnerungen, die zu diesem Zeitpunkt bis ins Jahr 1918 reichten. Die Notizen zum "Revolutions-Tagebuch", das daran anschließen sollte, blieben Fragment, die dichtbeschriebenen Seiten des Manuskripts wurden hastig vor der Gestapo versteckt und später nicht mehr ergänzt. Jetzt bilden sie das Rückgrat des Bandes "Man möchte immer weinen und lachen in einem", mit dem der Aufbau Verlag seine Publikation von Klemperers Aufzeichnungen aus dem Nachlass fortsetzt.
Die Sensation dieses Buches aber ist eine andere. Sie liegt in den fünfzehn Reportagen, die Klemperer zwischen Februar 1919 und Januar 1920 für die "Leipziger Neuesten Nachrichten", eine konservative Tageszeitung, verfasst hat und die hier zum ersten Mal gemeinsam veröffentlicht sind. Zwar distanziert sich Klemperer, als wollte er das Urteil der Nachwelt vorwegnehmen, in seinen Aufzeichnungen aus der Nazizeit pflichtschuldig von diesen Texten: Der "Kampf zwischen dem Hochschullehrer und dem Journalisten" in ihm sei entschieden gewesen, bevor er die erste Zeile geschrieben habe. Doch Anfang 1919, als Klemperer mit dem leitenden Redakteur der "LNN" über eine mögliche Mitarbeit redete, stand die Entscheidung durchaus noch nicht fest. Sogar auf "einen Pariser Posten" scheint er bei seiner neuen Tätigkeit spekuliert zu haben.
Dazu kam es nicht, Klemperer blieb Philologe. Aber es macht den Reiz dieser Reportagen aus, dass in ihnen der Professor noch nicht endgültig über den Journalisten gesiegt hat, dass der Zeitzeuge K. sich noch nicht auf den Hochsitz des Privaten zurückgezogen hat, von dem aus er sein Tagebuch aus den zwanziger Jahren schreibt. Im Frühjahr 1919 wird in München Geschichte gemacht, und der Extraordinarius Klemperer macht mit. Eisners Ärmel streift seine Jacke, ein Student, der ihn im Seminar anspricht, erweist sich als Frontmann der Räteregierung, und als er sich im Mai aus dem Fenster lehnt, sieht er, wie zwei Bürger einen "Roten" anhalten und in die Flucht schlagen. "Kein Kino vermag größere Sensationen zu schaffen", meldet er nach Leipzig, nachdem er den zerschossenen Stachus besichtigt hat, das ausgebrannte Ladenhäuschen, die zerstörten Dachstühle, die Kugelspuren an den Häusern. Und wie immer, wenn das Kino als Metapher bemüht wird, schwingt darin die Spannung zwischen Auge und Unterleib, der voyeuristische Reiz des Schauens und der Nervenkitzel der Gefahr.
Von beidem gab es in jenem Frühling mehr als genug. Schon im Herbst 1918 waren die Bayern ihren Berliner Vettern eine Nasenlänge voraus. Am 8. November, einen Tag vor Liebknecht und Scheidemann, proklamierte Kurt Eisner in München die Republik. Dann folgte ein wahres Karussell von Herrschaftsformen: Revolutionsregierung, Wahldemokratie, Räterepublik, zuletzt eine linke Militärdiktatur. Als ein Bündnis aus Freikorps und Reichswehrtruppen Anfang Mai die Hauptstadt in zweitägigen Kämpfen zurückeroberte, war der Keim für den Untergang der Weimarer Republik in Bayern gelegt.
Von diesen Kämpfen und den Saal-, Salon- und Hinterzimmerschlachten, die ihnen vorangingen, erzählt Klemperer in seinen Artikeln, von denen wegen der Postsperre nur ein Drittel ihren Empfänger erreichte, im Ton eines überdrehten Kriegsfeuilletonisten. Am Landtag fliegen Handgranaten, im Englischen Garten sterben die Fasane, doch der spätere Autor der "Einführung in das Mittelfranzösische" betrachtet mit Kennerblick die "kreisrunden Menschennester" auf den Straßen, in denen sich das Potential der Revolte ballt, und genießt den Anblick der Jagdflugzeuge am Himmel, aus denen die Flugblätter der Bamberger Exilregierung auf die Passanten herunterregnen.
Unverstellter als in den Aufzeichnungen von 1942, in denen die Beobachtung meist schon durch Reflexion gebändigt ist, spricht aus den Reportagen das Volksfest- und Spektakelhafte, die makabre Gaudi, welche die sogenannte Revolution für all jene, die nicht unmittelbar an ihr teilhatten, eben auch war, zumal für die Münchner, die, wie Klemperer kopfschüttelnd beobachtet, bei jedem Wetter "im Fenster liegen", um zu sehen, was draußen los ist. Zu ihnen will unser Autor keinesfalls gehören, weshalb er seine Berichte mit "A. B.", für "Antibavaricus", zeichnet - aber dann geht er doch wieder ans Fenster und schreibt auf, was auf der Straße passiert.
Schließlich wäre Klemperer nicht Klemperer, wenn sein Lebensthema nicht auch in diesen frühen Zeilen zur Sprache käme. Schon beim Militär hat er unter der Judenfeindlichkeit von Vorgesetzten und Kameraden zu leiden gehabt; jetzt registriert er, wie "Preuß'" und "Jude" plötzlich zu Synonymen werden, wie englische Damen im Salon von der jüdischen Weltverschwörung zu faseln anfangen und wie der Affekt der bayerischen Spießer gegen die Revolutionäre mit dem alten Hass auf die "Saujuden" verschmilzt. Klemperer, zweifach protestantisch getaufter Sohn eines Rabbiners, wollte vergessen, dass er Jude war, aber seine Mitwelt ließ es nicht zu. Diese Kränkung machte ihn hellsichtig. Sie ließ ihn genauer hinsehen als alle anderen, die im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland Tagebuch schrieben. So sind auch diese Berichte und Notizen nicht bloß Gelegenheitsarbeiten eines Bildungsbürgers, sondern ein wahrhaftiger Spiegel ihrer Zeit.
ANDREAS KILB
Victor Klemperer: "Man möchte immer weinen und lachen in einem". Revolutionstagebuch 1919.
Aufbau Verlag, Berlin 2015. 263 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geissler entgehen nicht die der Doppeledition von Revolutionstagebuch und Zeitungsbeiträgen Victor Klemperers geschuldeten Doppelungen bei der Lektüre. Macht aber nicht allzu viel, erklärt sie, denn Klemperer erweist sich erneut als Chronist des 20. Jahrhunderts, diesmal der Zeit der Münchener Räterepublik 1919. Mit Klemperer wohnt Geissler den hitzigen Diskussionen und dem Pfeifen der Gewehrkugeln hautnah bei und kann sogar Parallelen zum Heute ziehen. Wenn der Autor Wachleute befragt, Zeitungen und Anschläge interpretiert, technische Entwicklungen dokumentiert und Kurt Eisner porträtiert, spürt Geissler den Humor und die Sympathie des Autors für das Geschehen. Anders als in den bisher veröffentlichten Texten Klemperers dominiert hier der Reporterblick, meint Geissler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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