NEW YORK TIMES BESTSELLER • A New York Times Notable Book Winner of the Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction The daring and magnificent novel from the Pulitzer Prize?winning author. Named One of the Best Books of the Year by NPR, Esquire, Vogue, The Washington Post, The Guardian, USA TODAY, and Time Anna Kerrigan, nearly twelve years old, accompanies her father to visit Dexter Styles, a man who, she gleans, is crucial to the survival of her father and her family. She is mesmerized by the sea beyond the house and by some charged mystery between the two men. Years later, her father has disappeared and the country is at war. Anna works at the Brooklyn Naval Yard, where women are allowed to hold jobs that once belonged to men, now soldiers abroad. She becomes the first female diver, the most dangerous and exclusive of occupations, repairing the ships that will help America win the war. One evening at a nightclub, she meets Dexter Styles again, and begins to understand the complexity of her father's life, the reasons he might have vanished. "A magnificent achievement, at once a suspenseful noir intrigue and a transporting work of lyrical beauty and emotional heft" (The Boston Globe), "Egan's first foray into historical fiction makes you forget you're reading historical fiction at all" (Elle). Manhattan Beach takes us into a world populated by gangsters, sailors, divers, bankers, and union men in a dazzling, propulsive exploration of a transformative moment in the lives and identities of women and men, of America and the world.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2018Wahrheit unter Wasser
Eine Taucherin, ein Gangster und eine uralte Metapher: "Manhattan Beach" , der neue Roman der großen Jennifer Egan
Gibt es eine größere Metapher für das Leben als das Meer? Oder eine, die verbrauchter wäre? Jedenfalls weiß man nicht, wo man anfangen soll, wollte man aufzählen, wie viele Künstlerinnen und Künstler schon vom Meer erzählt haben, es ins Bild setzten oder besangen.
Und wie gut kann man das verstehen: Wie oft steht man selbst da, am Strand, und denkt sich seinen Teil, während die Wellen heranrollen, immer anders, mal Drama, mal Frieden, mal Trost, mal Bedrohung - oder ist dieses Schauspiel doch nur ein einziger Zufall, ohne Bedeutung?
Stanislaw Lem, der große Futurologe, hat die menschliche Sinnsuche im Meer in seinem Roman "Solaris" in Science-Fiction verwandelt. Da erforschen Astronauten auf einem fernen Planeten einen Ozean, der ihre Ängste und Wünsche zum Leben erweckt, so dass die wie Gespenster in der Raumstation auftauchen: falsche Hoffnungen auf Erlösung aus einem Trauma. Sinnsuche endet ja selten gut. Auch Ahab hat zwar seinen weißen Wal gefunden, ging aber trotzdem mit diesem Moby Dick und seiner "Pequod" unter. Und spukt jetzt schon seit hundertsiebzig Jahren durch die Kunst und die Einbildungskraft all jener, die Kunst machen.
Wie Jennifer Egan, die wichtigste amerikanische Schriftstellerin ihrer Generation. Sie hat jetzt einen neuen Roman geschrieben und ihm ein Zitat aus Herman Melville vorangestellt. Sie ist nicht die Erste, die so was tut, aber es wirkt trotzdem jedes Mal: "Ja, wie jeder weiß, sind Besinnlichkeit und Wasser auf ewig vermählt."
"Manhattan Beach" heißt dieser neue, historische Roman von Jennifer Egan, den auf fünfhundert Seiten die See durchfließt: "Die See sehen die See die See die See", ein lautmalerisches Flüstern in Egans glasklarer Prosa, ein Leitmotiv, kursiv gesetzt. Wo Egan in "Der größere Teil der Welt" noch ihren Plot in Perspektiven zersplitterte, holt sie jetzt weit aus - und scheut dabei auch stilistische Esoterik nicht. "Manhattan Beach" ist mit aller Kraft darauf angelegt, ein großer Roman zu sein. So wie vielleicht "Das Geisterhaus" einer war oder "Freiheit" von Jonathan Franzen. Ein ewig langer Roman, der von seiner eigenen epischen Gestaltungskraft zehrt. Und sie inszeniert.
Die Geschichte spielt Anfang der vierziger Jahre in New York, als Amerika in den Krieg gegen Hitlerdeutschland und die Achsenmächte zieht. Erzählt wird von der jungen Anna Kerrigan, die auf der Marinewerft von Brooklyn arbeitet, wo das Schlachtschiff "Missouri" zum Einsatz vorbereitet wird. Dort beobachtet Anna eines Tages, wie ein Taucher sich fertig macht, um im Hafen zu arbeiten, unter Wasser.
Anna ist elektrisiert. Sie will das auch. Sie will nicht mehr in der Materialprüfung arbeiten und Teil um Teil vermessen, das verbaut werden soll, sie will raus aus der Werkstatt und Taucherin werden. Und obwohl damals dringend Freiwillige für diesen gefährlichen Job gesucht werden, weil die Männer in Scharen in den Krieg ziehen, ist das für eine Frau erst mal undenkbar: Tauchen. In zentnerschwerer Ausrüstung. Und dann, unter Wasser, womöglich auch noch Schweißen mit schwerem Gerät. Aber Anna setzt alles daran. Als würde sie, dort unten, auf dem Boden des Meeres, das finden, wonach sie immer schon gesucht hat.
Also bewirbt sie sich. Und sie setzt sich auch durch. Gegen den Vorgesetzten bei der Navy, der sie erst schikaniert, wo er nur kann, dann aber als leuchtendes Beispiel hinhält, um ihre männlichen Mitbewerber unter Druck zu setzen. Aber Anna setzt sich auch gegen das Bild durch, dem sie und ihre Kolleginnen aus der Werkstatt begegnen, wenn sie nur das Werftgelände betreten. Wenn sie, in Overall und Stiefeln, über die Piers laufen. Und die Männer ihnen hinterherpfeifen oder sie verhöhnen. Arbeitende Frauen: An Sekretärinnen hat man sich damals schon gewöhnt in der westlichen Welt, Sekretärinnen haben die Ordnung der Männerwelt im Grunde ja nur weiter gefestigt. Aber Schweißerinnen? Mechanikerinnen? Taucherinnen?
Annas Vorgesetzter, Mr. Voss, will deswegen eigentlich auch, dass seine Mitarbeiterinnen ihr Lunch in der Werkstatt essen, um kein Aufsehen zu erregen. Aber Anna zieht es hinaus, auf die Werft, zu den Schiffen. Zu Hause warten ihre Mutter und ihre behinderte kleine Schwester, der Vater ist seit fünf Jahren verschwunden, von einem Tag auf den anderen war er weg. Und jetzt will auch Anna raus, und wenn es nur der Grund des East Rivers ist.
"Manhattan Beach" ist der Roman einer weiblichen Emanzipation. Insofern erzählt er, trotz des historisch verbürgten Stoffes (Egan hat für ihr Buch die erste amerikanische Marinetaucherin, Andrea Motley Crabtree, mehrmals getroffen), eine Geschichte, die man bis heute so erzählen könnte: ein männlich dominierter Beruf, den auch Frauen ergreifen wollen, die aber erst einmal an den Verhältnissen scheitern. An Besitzstandswahrung, an Tradition, an der Bequemlichkeit, an der Furcht vor dem Ungewohnten - und sie scheitern auch am Mangel an eigenem Zutrauen, was wiederum an einem Mangel an weiblichen Vorbildern liegt.
Anna überwindet das. Und wird zum Vorbild, auch für ihre Kollegen. Man könnte die Anlage dieses Romans deswegen für Kalkül halten. Für eine modische Entscheidung: ein packender Stoff, der einerseits alles hat, was Leute, die amerikanische Literatur lieben, in heftiges Fieber versetzt, andererseits aber eine intensive Debatte von heute streift, so dass sich der Roman wie ein Kommentar dazu liest. Es gibt dann auch noch eine Nebenfigur in "Manhattan Beach", die diesen Verdacht verstärkt, einen schwarzen Marinetaucher namens Marle, der noch einmal anders als Anna ausgeschlossen ist aus der Welt, in der er sich bewegt.
Nur passt das mit dem Kalkül allein schon deshalb nicht, weil Jennifer Egan ihren Stoff vor fast fünfzehn Jahren zu recherchieren begann, wie sie im Nachwort erklärt: #MeToo wird sie da nicht im Auge gehabt haben. Außerdem erzählt die Autorin eben nicht nur die Geschichte der Berufstaucherin Anna, sondern die eines Mafiagangsters: Dexter Styles. Der in eine sehr gute New Yorker Familie eingeheiratet hat und jetzt ehrlich werden und ins Bankgeschäft seines Schwiegervaters wechseln will. Und der eine Zeitlang Annas Vater beschäftigte, bis der verschwand.
Und dank dieser etwas unwahrscheinlichen Konstruktion wird aus dem historischen Roman einer Pionierin des Marinetauchens dann auch noch ein Mafiathriller, fahren im Roman große, dunkle Limousinen vor, gesteuert von Jungs mit heißen Eisen in Nadelstreifen.
Annas Vater hatte seine Tochter einmal mit zu Styles' Anwesen in Manhattan Beach genommen, als sie elf war, mit dieser Szene beginnt Egan ihren Roman. Damit, wie die kleine Anna am Strand steht, die nackten Füße im eisig kalten Wasser, und der gigantisch große Mann sich zu ihr beugt: "Wie fühlt es sich an", fragt er. "Tut nur am Anfang weh", sagt sie. "Nach einer Weile spürt man nichts mehr." Das ist, schon früh, wohl der Reim, den man sich auf die Geschichte dieser Emanzipation machen soll.
Jahre später treffen Anna und Styles sich dann wieder, in einem Nachtclub in Manhattan, den Styles betreibt: Er ahnt nichts, sie nimmt die ferne Erinnerung der Begegnung wahr, sucht seine Nähe, auch weil sie spürt, dass Styles etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun hat. Aber genauso, weil er sie anzieht. Und sie ihn, auch wenn er das erst nicht versteht. Dexter hilft Anna, ihre behinderte kleine Schwester Lydia aus dem kleinen Zimmer in Brooklyn, in dem sie lebt, an den Strand zu tragen, dorthin, wo Anna selbst mit nackten Füßen stand, damit Lydia endlich das Meer sieht und aus ihrer stummen Erstarrung erwacht: "Die See sehen die See die See die See" - was da als Echo ständig in Egans Roman auftaucht, ist die innere Stimme Lydias, zum Leben erweckt vom Ozean.
"Manhattan Beach" erfüllt, wie schon gesagt, alle Wünsche, die man an einen amerikanischen Roman hat: Da ist der Eigensinn einer Figur gegen die Verhältnisse, die Poesie der großen Stadt vor dem Panorama unergründlicher Natur, eine Gesellschaft, die noch immer an ihren Regeln schreibt, auch wenn die längst wirken, der unerschöpfliche Mut zum neuen Anfang, und all das in einer fabelhaften Prosa. Wer Egans neuen Roman liest, wird mitgerissen - und doch bleibt da ein gar nicht so kleiner Rest an Enttäuschung.
Weil Jennifer Egan in "Manhattan Beach" das Risiko scheut. Und das tut sie zum ersten Mal seit ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Emerald City" von 1993. Entweder waren bislang ihre Stoffe spektakulär, wie in "Look at Me" (2001), die Geschichte eines Fotomodels, das nach einem Unfall mit einem neuen Gesicht in ihr altes Leben zurückkehrt, oder Egan spielte mit der Form. Wie in "Der größere Teil der Welt" (2010), einem Roman, den man erstens gar nicht genug bewundern kann, der zweitens seine Figuren aus den Epochen der amerikanischen Geschichte seit dem kalifornischen Punk der Siebziger bis in die nahe Zukunft aufeinander zubewegt und der, drittens, ein ganzes Kapitel als Power-Point-Präsentation anlegt.
Was erst mal klingt wie eine künstlich aufgeblasene Idee, dann aber in seiner strengen Form vollkommen logisch wirkt. Zum Glück erzählte Egan die Geschichte dieses Romans dann noch einmal weiter, in der Erzählung "Black Box" (2013), jeder Satz 140 Zeichen lang wie früher auf Twitter, ein Beweis für die stilistische Perfektion, die ein solches Format verlangt. Das las sich alles so leicht und souverän und neu, wie es kaum ein anderer ihrer Kollegen wagte, von George Saunders vielleicht abgesehen.
"Manhattan Beach" wirkt dagegen - konventionell. Als habe Egan einen historischen Roman probieren wollen, und vielleicht ist das ja wirklich das Projekt für dieses neue Buch gewesen. Damals, als "Der größere Teil der Welt" erschien, erzählte sie im Gespräch, dass sie beim Lesen selbst nach "Immersion" sucht: nach dem Eintauchen in einen Stoff, der einen davonträgt, bis man glücklich wieder daraus auftaucht. Das ist Jennifer Egan in "Manhattan Beach" gelungen. Und doch bleibt ihr neuer Roman hinter den Erwartungen zurück, die man an diese große amerikanische Autorin hat: dass sie die ewige Form des Romans weiterentwickelt. Vielleicht ist es aber auch so: Man wird verwöhnt davon, Jennifer Egan zu lesen.
TOBIAS RÜTHER
Jennifer Egan, "Manhattan Beach". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer, 496 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Taucherin, ein Gangster und eine uralte Metapher: "Manhattan Beach" , der neue Roman der großen Jennifer Egan
Gibt es eine größere Metapher für das Leben als das Meer? Oder eine, die verbrauchter wäre? Jedenfalls weiß man nicht, wo man anfangen soll, wollte man aufzählen, wie viele Künstlerinnen und Künstler schon vom Meer erzählt haben, es ins Bild setzten oder besangen.
Und wie gut kann man das verstehen: Wie oft steht man selbst da, am Strand, und denkt sich seinen Teil, während die Wellen heranrollen, immer anders, mal Drama, mal Frieden, mal Trost, mal Bedrohung - oder ist dieses Schauspiel doch nur ein einziger Zufall, ohne Bedeutung?
Stanislaw Lem, der große Futurologe, hat die menschliche Sinnsuche im Meer in seinem Roman "Solaris" in Science-Fiction verwandelt. Da erforschen Astronauten auf einem fernen Planeten einen Ozean, der ihre Ängste und Wünsche zum Leben erweckt, so dass die wie Gespenster in der Raumstation auftauchen: falsche Hoffnungen auf Erlösung aus einem Trauma. Sinnsuche endet ja selten gut. Auch Ahab hat zwar seinen weißen Wal gefunden, ging aber trotzdem mit diesem Moby Dick und seiner "Pequod" unter. Und spukt jetzt schon seit hundertsiebzig Jahren durch die Kunst und die Einbildungskraft all jener, die Kunst machen.
Wie Jennifer Egan, die wichtigste amerikanische Schriftstellerin ihrer Generation. Sie hat jetzt einen neuen Roman geschrieben und ihm ein Zitat aus Herman Melville vorangestellt. Sie ist nicht die Erste, die so was tut, aber es wirkt trotzdem jedes Mal: "Ja, wie jeder weiß, sind Besinnlichkeit und Wasser auf ewig vermählt."
"Manhattan Beach" heißt dieser neue, historische Roman von Jennifer Egan, den auf fünfhundert Seiten die See durchfließt: "Die See sehen die See die See die See", ein lautmalerisches Flüstern in Egans glasklarer Prosa, ein Leitmotiv, kursiv gesetzt. Wo Egan in "Der größere Teil der Welt" noch ihren Plot in Perspektiven zersplitterte, holt sie jetzt weit aus - und scheut dabei auch stilistische Esoterik nicht. "Manhattan Beach" ist mit aller Kraft darauf angelegt, ein großer Roman zu sein. So wie vielleicht "Das Geisterhaus" einer war oder "Freiheit" von Jonathan Franzen. Ein ewig langer Roman, der von seiner eigenen epischen Gestaltungskraft zehrt. Und sie inszeniert.
Die Geschichte spielt Anfang der vierziger Jahre in New York, als Amerika in den Krieg gegen Hitlerdeutschland und die Achsenmächte zieht. Erzählt wird von der jungen Anna Kerrigan, die auf der Marinewerft von Brooklyn arbeitet, wo das Schlachtschiff "Missouri" zum Einsatz vorbereitet wird. Dort beobachtet Anna eines Tages, wie ein Taucher sich fertig macht, um im Hafen zu arbeiten, unter Wasser.
Anna ist elektrisiert. Sie will das auch. Sie will nicht mehr in der Materialprüfung arbeiten und Teil um Teil vermessen, das verbaut werden soll, sie will raus aus der Werkstatt und Taucherin werden. Und obwohl damals dringend Freiwillige für diesen gefährlichen Job gesucht werden, weil die Männer in Scharen in den Krieg ziehen, ist das für eine Frau erst mal undenkbar: Tauchen. In zentnerschwerer Ausrüstung. Und dann, unter Wasser, womöglich auch noch Schweißen mit schwerem Gerät. Aber Anna setzt alles daran. Als würde sie, dort unten, auf dem Boden des Meeres, das finden, wonach sie immer schon gesucht hat.
Also bewirbt sie sich. Und sie setzt sich auch durch. Gegen den Vorgesetzten bei der Navy, der sie erst schikaniert, wo er nur kann, dann aber als leuchtendes Beispiel hinhält, um ihre männlichen Mitbewerber unter Druck zu setzen. Aber Anna setzt sich auch gegen das Bild durch, dem sie und ihre Kolleginnen aus der Werkstatt begegnen, wenn sie nur das Werftgelände betreten. Wenn sie, in Overall und Stiefeln, über die Piers laufen. Und die Männer ihnen hinterherpfeifen oder sie verhöhnen. Arbeitende Frauen: An Sekretärinnen hat man sich damals schon gewöhnt in der westlichen Welt, Sekretärinnen haben die Ordnung der Männerwelt im Grunde ja nur weiter gefestigt. Aber Schweißerinnen? Mechanikerinnen? Taucherinnen?
Annas Vorgesetzter, Mr. Voss, will deswegen eigentlich auch, dass seine Mitarbeiterinnen ihr Lunch in der Werkstatt essen, um kein Aufsehen zu erregen. Aber Anna zieht es hinaus, auf die Werft, zu den Schiffen. Zu Hause warten ihre Mutter und ihre behinderte kleine Schwester, der Vater ist seit fünf Jahren verschwunden, von einem Tag auf den anderen war er weg. Und jetzt will auch Anna raus, und wenn es nur der Grund des East Rivers ist.
"Manhattan Beach" ist der Roman einer weiblichen Emanzipation. Insofern erzählt er, trotz des historisch verbürgten Stoffes (Egan hat für ihr Buch die erste amerikanische Marinetaucherin, Andrea Motley Crabtree, mehrmals getroffen), eine Geschichte, die man bis heute so erzählen könnte: ein männlich dominierter Beruf, den auch Frauen ergreifen wollen, die aber erst einmal an den Verhältnissen scheitern. An Besitzstandswahrung, an Tradition, an der Bequemlichkeit, an der Furcht vor dem Ungewohnten - und sie scheitern auch am Mangel an eigenem Zutrauen, was wiederum an einem Mangel an weiblichen Vorbildern liegt.
Anna überwindet das. Und wird zum Vorbild, auch für ihre Kollegen. Man könnte die Anlage dieses Romans deswegen für Kalkül halten. Für eine modische Entscheidung: ein packender Stoff, der einerseits alles hat, was Leute, die amerikanische Literatur lieben, in heftiges Fieber versetzt, andererseits aber eine intensive Debatte von heute streift, so dass sich der Roman wie ein Kommentar dazu liest. Es gibt dann auch noch eine Nebenfigur in "Manhattan Beach", die diesen Verdacht verstärkt, einen schwarzen Marinetaucher namens Marle, der noch einmal anders als Anna ausgeschlossen ist aus der Welt, in der er sich bewegt.
Nur passt das mit dem Kalkül allein schon deshalb nicht, weil Jennifer Egan ihren Stoff vor fast fünfzehn Jahren zu recherchieren begann, wie sie im Nachwort erklärt: #MeToo wird sie da nicht im Auge gehabt haben. Außerdem erzählt die Autorin eben nicht nur die Geschichte der Berufstaucherin Anna, sondern die eines Mafiagangsters: Dexter Styles. Der in eine sehr gute New Yorker Familie eingeheiratet hat und jetzt ehrlich werden und ins Bankgeschäft seines Schwiegervaters wechseln will. Und der eine Zeitlang Annas Vater beschäftigte, bis der verschwand.
Und dank dieser etwas unwahrscheinlichen Konstruktion wird aus dem historischen Roman einer Pionierin des Marinetauchens dann auch noch ein Mafiathriller, fahren im Roman große, dunkle Limousinen vor, gesteuert von Jungs mit heißen Eisen in Nadelstreifen.
Annas Vater hatte seine Tochter einmal mit zu Styles' Anwesen in Manhattan Beach genommen, als sie elf war, mit dieser Szene beginnt Egan ihren Roman. Damit, wie die kleine Anna am Strand steht, die nackten Füße im eisig kalten Wasser, und der gigantisch große Mann sich zu ihr beugt: "Wie fühlt es sich an", fragt er. "Tut nur am Anfang weh", sagt sie. "Nach einer Weile spürt man nichts mehr." Das ist, schon früh, wohl der Reim, den man sich auf die Geschichte dieser Emanzipation machen soll.
Jahre später treffen Anna und Styles sich dann wieder, in einem Nachtclub in Manhattan, den Styles betreibt: Er ahnt nichts, sie nimmt die ferne Erinnerung der Begegnung wahr, sucht seine Nähe, auch weil sie spürt, dass Styles etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun hat. Aber genauso, weil er sie anzieht. Und sie ihn, auch wenn er das erst nicht versteht. Dexter hilft Anna, ihre behinderte kleine Schwester Lydia aus dem kleinen Zimmer in Brooklyn, in dem sie lebt, an den Strand zu tragen, dorthin, wo Anna selbst mit nackten Füßen stand, damit Lydia endlich das Meer sieht und aus ihrer stummen Erstarrung erwacht: "Die See sehen die See die See die See" - was da als Echo ständig in Egans Roman auftaucht, ist die innere Stimme Lydias, zum Leben erweckt vom Ozean.
"Manhattan Beach" erfüllt, wie schon gesagt, alle Wünsche, die man an einen amerikanischen Roman hat: Da ist der Eigensinn einer Figur gegen die Verhältnisse, die Poesie der großen Stadt vor dem Panorama unergründlicher Natur, eine Gesellschaft, die noch immer an ihren Regeln schreibt, auch wenn die längst wirken, der unerschöpfliche Mut zum neuen Anfang, und all das in einer fabelhaften Prosa. Wer Egans neuen Roman liest, wird mitgerissen - und doch bleibt da ein gar nicht so kleiner Rest an Enttäuschung.
Weil Jennifer Egan in "Manhattan Beach" das Risiko scheut. Und das tut sie zum ersten Mal seit ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Emerald City" von 1993. Entweder waren bislang ihre Stoffe spektakulär, wie in "Look at Me" (2001), die Geschichte eines Fotomodels, das nach einem Unfall mit einem neuen Gesicht in ihr altes Leben zurückkehrt, oder Egan spielte mit der Form. Wie in "Der größere Teil der Welt" (2010), einem Roman, den man erstens gar nicht genug bewundern kann, der zweitens seine Figuren aus den Epochen der amerikanischen Geschichte seit dem kalifornischen Punk der Siebziger bis in die nahe Zukunft aufeinander zubewegt und der, drittens, ein ganzes Kapitel als Power-Point-Präsentation anlegt.
Was erst mal klingt wie eine künstlich aufgeblasene Idee, dann aber in seiner strengen Form vollkommen logisch wirkt. Zum Glück erzählte Egan die Geschichte dieses Romans dann noch einmal weiter, in der Erzählung "Black Box" (2013), jeder Satz 140 Zeichen lang wie früher auf Twitter, ein Beweis für die stilistische Perfektion, die ein solches Format verlangt. Das las sich alles so leicht und souverän und neu, wie es kaum ein anderer ihrer Kollegen wagte, von George Saunders vielleicht abgesehen.
"Manhattan Beach" wirkt dagegen - konventionell. Als habe Egan einen historischen Roman probieren wollen, und vielleicht ist das ja wirklich das Projekt für dieses neue Buch gewesen. Damals, als "Der größere Teil der Welt" erschien, erzählte sie im Gespräch, dass sie beim Lesen selbst nach "Immersion" sucht: nach dem Eintauchen in einen Stoff, der einen davonträgt, bis man glücklich wieder daraus auftaucht. Das ist Jennifer Egan in "Manhattan Beach" gelungen. Und doch bleibt ihr neuer Roman hinter den Erwartungen zurück, die man an diese große amerikanische Autorin hat: dass sie die ewige Form des Romans weiterentwickelt. Vielleicht ist es aber auch so: Man wird verwöhnt davon, Jennifer Egan zu lesen.
TOBIAS RÜTHER
Jennifer Egan, "Manhattan Beach". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer, 496 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2018Heimatroman
für Großstädter
Gut geschrieben, aber nicht gut: Was hatte Jennifer
Egan mit dem Roman „Manhattan Beach“ nur vor?
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Hörst du die Stille?“, fragt der Vater seine elfjährige Tochter Anna. „So hört sich ein Hafen während einer Wirtschaftskrise an.“ Aber die Stille kommt bekanntlich vor dem Sturm. Als Anna volljährig wird, ist der Vater verschwunden, die USA treten in den Weltkrieg ein und im Hafen von New York wird es lauter und lebendiger denn je. Für die Flüchtlinge aus Europa ist der Hafen das Symbol der Freiheit, für die Kriegsschiffe der Alliierten ist der Brooklyn Navy Yard die wichtigste Werft. Anna, die eigenwillige Protagonistin des neuen Romans der preisgekrönten amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Egan, beginnt in einem Bürogebäude auf dem Werftgelände zu arbeiten. Mit vielen weiteren Frauen muss sie Metallteile prüfen, weil die Männer fehlen. Diese stumpfsinnige Tätigkeit hält sie nicht lange aus, und als sie eines Tages beobachtet, wie Taucher in schweren Anzügen und kugelrunden Metallhelmen in die Bucht hinabgelassen werden, ist ihre Sehnsucht geweckt, auch Taucherin zu werden. Sie beginnt, dafür zu kämpfen, für die Tauchausbildung zugelassen zu werden. Eine Frau, die taucht, das scheint undenkbar zu sein. Gleichzeitig verkompliziert sich auch ihr Privatleben, denn das Hafenviertel ist in Zeiten der Prohibition tief verflochten mit der Unterwelt des illegalen Alkoholhandels und des organisierten Verbrechens. Die Verwicklungen führen sie schließlich, wer hätte das gedacht, zu einem waghalsigen nächtlichen Tauchgang.
Dass Jennifer Egan lebendig erzählen kann, beweist sie auch mit diesem Roman. Was sie aber erzählt, erinnert ein wenig an die Beschreibung eines Tauchgangs selbst. Unter Krächzen und Stöhnen wird die Protagonistin Anna an einem Seil ins Wasser gelassen, nur um nach einigen Hundert Seiten mühselig wieder herausgezogen zu werden. Der Plot verläuft, gelinde gesagt, ziemlich gradlinig, und ist wirklich mitreißend wohl nur dann, wenn man New York immer schon einmal von einer anderen Seite erleben wollte und sich seine Buntstifte der Marke Lokalkolorit bereitgelegt hat. Der Roman ist ein Porträt von New York als Hafenstadt, ein Heimatroman für Großstädter.
Und ähnlich wie in Heimatromanen, die vor allem eine weibliche Leserschaft adressieren, gibt sich die Geschichte über weite Strecken feministisch, ist aber eigentlich eher Erbauungsliteratur. Die Figur der nonkonformen Frau, die als Kind nicht mit Puppen spielt, sondern mit Jungs im Dreck rangelt, das ist Anna. Sie ist nicht naiv, nicht schüchtern, nicht schön und nicht blond. Schön und blond sind hingegen nahezu alle anderen, von der etwas jüngeren und sehr mädchenhaften Tochter des Gangsters Dexter Styles, bis hin zu Annas blonder Freundin aus der Werft, die sich von einem furchtbaren reichen Mann aushalten lässt. Auf die Spitze getrieben ist dieses Frauenbild in Annas Schwester, die umwerfend schön ist – und blond –, aber leider geistig und körperlich behindert. Das ist nicht nur ein merkwürdiges Feminismusverständnis nach Haarfarbe, es bewirkt außerdem, dass die Hauptfigur Anna erstaunlich vage bleibt. Als Leser muss man sich mit der Beschreibung begnügen, dass Anna eben immer schon „anders“ war als die anderen Mädchen.
Nur warum sollte man sich für Annas Geschichte interessieren? Man könnte, frei nach der besten Ausrede schlechter Schriftsteller, vermuten, die Geschichte beruhe auf wahren Begebenheiten. Doch das ist nicht einmal der Fall: Taucherinnen gab es nicht bei der US Navy. Dabei wäre die Frage, warum die Frau und das Meer in vielen Kulturen eine Unvereinbarkeit darstellen, selbst eine Untersuchung, und wer weiß, vielleicht auch einen Roman wert. Der französische Anthropologe Alain Testart ging in seinem letzten, 2014 posthum erschienenen Buch der Frage nach, wie und warum verschiedene Tätigkeiten von den verschiedenen Geschlechtern ausgeführt werden. Diese geschlechtliche Arbeitsteilung – meist in Form eines Verbots für die Frau – ist kaum in einem Bereich so stark ausgeprägt wie in der Seefahrt. Auch in Egans Brooklyn Navy Yard dürfen Frauen, selbst wenn sie in der Werft Arbeiten verrichten, die vor dem Krieg reine Männersache war, selbstverständlich nicht die Schiffe betreten.
Sollte es in diesem Roman eine Meta-Ebene geben, dann ist sie sehr gut versteckt. Dass Weltkriege gut für den Feminismus sind, weil es zu einem Mangel an männlichen Arbeitskräften kommt, wäre als Grundgedanke etwas morbide. Man beginnt sich während des Lesens zu fragen, ob dieses Buch vielleicht als Absage an die durchdachten, mehrschichtigen amerikanischen Konzeptromane gemeint ist, wie es zum Beispiel Jennifer Egans 2011 erschienener Roman „A Visit from the Goon Squad“ gewesen war, der im Deutschen den skurrilen Titel „Der größere Teil der Welt“ bekam. Das ist ein Roman über den Niedergang der Musikindustrie, über die Digitalisierung, über das Älterwerden von Musikern, Assistenten und Managern, und das, was das Ticken der Zeit mit allem anstellt, was ihr in den Weg kommt. Das macht auch vor der Sprache nicht halt. Ein ganzes Kapitel des Buches besteht aus einer Powerpoint-Präsentation. Pfeile, Kästchen, Stichworte sind alles, was Jennifer Egan braucht, um ein voll funktionstüchtiges Romankapitel zu verfassen.
Ähnlich interessant ist das Konzept von Egans Erzählung „Black Box“ von 2013. Der schmale Science-Fiction-Roman besteht nur aus einzelnen, auf 140 Zeichen beschränkte Tweets, die auch zunächst auf Twitter veröffentlicht wurden. Es ist bei Weitem nicht der erste Twitterroman gewesen, aber er ist eben so geschrieben, dass auch jemand, der mit Twitter nichts anfangen kann, sehr viel Freude daran haben kann. Eine 31-jährige Spionin ist da auf einen Verbrecher angesetzt, den sie auf einer einsamen Insel umgarnt, um an Informationen zu gelangen. Wie mit der Black Box eines Flugzeugs zeichnet sie auf einem in ihre Stirn transplantierten Chip auf, was sie erlebt, und kommentiert es. Auf diese Weise sollen auch im Falle ihres Todes ihre Beobachtungen, persönlichen Einschätzungen und Lebensweisheiten an spätere Agentinnen übermittelt werden können. Der Roman bedient sich also nicht nur der Tweets als Format, sondern besteht auch inhaltlich aus dem, was einem so auf Twitter entgegenkommt.
Das ist in den vergangenen Jahren das Besondere an der Schriftstellerin Jennifer Egan gewesen: Sie schaffte es, den klassischen Roman formal so weit aufzubrechen, dass es literarisch interessant war und zugleich für ein großes Publikum unterhaltsam. „Goon Squad“ war ein Bestseller und brachte ihr den Pulitzer-Preis ein. Es war ein postmoderner Roman, den man mit Genuss lesen konnte, auch wenn man nicht weiß, was mit Postmoderne eigentlich gemeint ist.
Aber was für ein Buch sie mit „Manhattan Beach“ schreiben wollte, ist unklar. Einen Bestsellerroman, zusammengesetzt aus den Elementen, aus denen Bestsellerliteratur eh immer schon besteht? Oder sollte damit bewiesen werden, dass ein Buch gut geschrieben sein kann, ohne ein gutes Buch zu sein?
Es gibt Romane, deren Genialität gerade aus ihrer Ambivalenz erwächst. Ihre Brillanz besteht darin, dass sich nicht eindeutig festmachen lässt, ob es sich um einfache Unterhaltungsliteratur handelt oder um einen komplexen Metakommentar auf den Literaturbetrieb. „Alle Pferde des Königs“ von Michèle Bernstein ist so ein Roman. Bernstein war mit dem Avantgarde-Künstler Guy Debord zusammen, brauchte Geld und schrieb dann 1960 diesen kleinen Roman, der 2015 in der Edition Nautilus auf Deutsch erschien. Sie erzählt darin eine so archetypische, südfranzösische Sommer-Lovestory, dass die Literaturkritiker damals nicht wussten, ob er ironisch gemeint war oder nicht. Man weiß es eigentlich bis heute nicht.
Michèle Bernstein macht sich mit ihrem Buch über die Literaturkritiker lustig, die immer fein säuberlich zwischen U und E, zwischen Bahnhofsbelletristik und ernster Literatur zu unterscheiden versuchen. (Ganz abgesehen davon, dass sie sich natürlich auch über die Unterhaltungsliteratur und, gleichermaßen, über die avantgardistische Literatur der Situationisten lustig macht). Das ist hohe Kunst: Ein ganzes Milieu, eine ganze Branche zu parodieren, ohne dass die Parodierten sich düpiert fühlen, sondern sich fleißig sogleich daran machen, den Zirkus, der parodiert wird, quasi „live“ noch einmal aufzuführen, wenn sich die Kritiker über das Buch den Kopf zerbrechen. Eine gute Absage an das Genre Konzeptroman ist „Manhattan Beach“ aber leider aber schon deshalb nicht, weil man das Buch zu gerne aus der Hand legen und stattdessen einen dieser Konzeptromane lesen will.
Hatte Jennifer Egan ihrem Roman über Zeitlichkeit ein Zitat aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vorangestellt – auch das kann man prätentiös finden, zumindest aber ist es wagemutig – so stellt sie „Manhattan Beach“ ein Zitat aus Moby Dick voran: „Ja, wie jeder weiß, sind Besinnlichkeit und Wasser auf ewig vermählt“. Ein Zitat könnte nichtssagender kaum sein, wäre damit nicht eigentlich alles gesagt. Besinnlichkeit und Wasser, das sind wirklich die einzigen Dinge, die in diesem Buch zur Genüge betrachtet werden.
Jennifer Egan: Manhattan Beach. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2018. 508 Seiten, 22 Euro.
Dass Jennifer Egan lebendig
erzählen kann, das
zeigt sie auch in diesem Buch
Ist es eine Bestseller-Parodie,
zusammengesetzt aus
den typischen Elementen?
Das größte Kriegsschiff der Welt: Die Iowa verlässt am 27. August 1942 den Brooklyn Navy Yard.
Foto: Associated Press
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für Großstädter
Gut geschrieben, aber nicht gut: Was hatte Jennifer
Egan mit dem Roman „Manhattan Beach“ nur vor?
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Hörst du die Stille?“, fragt der Vater seine elfjährige Tochter Anna. „So hört sich ein Hafen während einer Wirtschaftskrise an.“ Aber die Stille kommt bekanntlich vor dem Sturm. Als Anna volljährig wird, ist der Vater verschwunden, die USA treten in den Weltkrieg ein und im Hafen von New York wird es lauter und lebendiger denn je. Für die Flüchtlinge aus Europa ist der Hafen das Symbol der Freiheit, für die Kriegsschiffe der Alliierten ist der Brooklyn Navy Yard die wichtigste Werft. Anna, die eigenwillige Protagonistin des neuen Romans der preisgekrönten amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Egan, beginnt in einem Bürogebäude auf dem Werftgelände zu arbeiten. Mit vielen weiteren Frauen muss sie Metallteile prüfen, weil die Männer fehlen. Diese stumpfsinnige Tätigkeit hält sie nicht lange aus, und als sie eines Tages beobachtet, wie Taucher in schweren Anzügen und kugelrunden Metallhelmen in die Bucht hinabgelassen werden, ist ihre Sehnsucht geweckt, auch Taucherin zu werden. Sie beginnt, dafür zu kämpfen, für die Tauchausbildung zugelassen zu werden. Eine Frau, die taucht, das scheint undenkbar zu sein. Gleichzeitig verkompliziert sich auch ihr Privatleben, denn das Hafenviertel ist in Zeiten der Prohibition tief verflochten mit der Unterwelt des illegalen Alkoholhandels und des organisierten Verbrechens. Die Verwicklungen führen sie schließlich, wer hätte das gedacht, zu einem waghalsigen nächtlichen Tauchgang.
Dass Jennifer Egan lebendig erzählen kann, beweist sie auch mit diesem Roman. Was sie aber erzählt, erinnert ein wenig an die Beschreibung eines Tauchgangs selbst. Unter Krächzen und Stöhnen wird die Protagonistin Anna an einem Seil ins Wasser gelassen, nur um nach einigen Hundert Seiten mühselig wieder herausgezogen zu werden. Der Plot verläuft, gelinde gesagt, ziemlich gradlinig, und ist wirklich mitreißend wohl nur dann, wenn man New York immer schon einmal von einer anderen Seite erleben wollte und sich seine Buntstifte der Marke Lokalkolorit bereitgelegt hat. Der Roman ist ein Porträt von New York als Hafenstadt, ein Heimatroman für Großstädter.
Und ähnlich wie in Heimatromanen, die vor allem eine weibliche Leserschaft adressieren, gibt sich die Geschichte über weite Strecken feministisch, ist aber eigentlich eher Erbauungsliteratur. Die Figur der nonkonformen Frau, die als Kind nicht mit Puppen spielt, sondern mit Jungs im Dreck rangelt, das ist Anna. Sie ist nicht naiv, nicht schüchtern, nicht schön und nicht blond. Schön und blond sind hingegen nahezu alle anderen, von der etwas jüngeren und sehr mädchenhaften Tochter des Gangsters Dexter Styles, bis hin zu Annas blonder Freundin aus der Werft, die sich von einem furchtbaren reichen Mann aushalten lässt. Auf die Spitze getrieben ist dieses Frauenbild in Annas Schwester, die umwerfend schön ist – und blond –, aber leider geistig und körperlich behindert. Das ist nicht nur ein merkwürdiges Feminismusverständnis nach Haarfarbe, es bewirkt außerdem, dass die Hauptfigur Anna erstaunlich vage bleibt. Als Leser muss man sich mit der Beschreibung begnügen, dass Anna eben immer schon „anders“ war als die anderen Mädchen.
Nur warum sollte man sich für Annas Geschichte interessieren? Man könnte, frei nach der besten Ausrede schlechter Schriftsteller, vermuten, die Geschichte beruhe auf wahren Begebenheiten. Doch das ist nicht einmal der Fall: Taucherinnen gab es nicht bei der US Navy. Dabei wäre die Frage, warum die Frau und das Meer in vielen Kulturen eine Unvereinbarkeit darstellen, selbst eine Untersuchung, und wer weiß, vielleicht auch einen Roman wert. Der französische Anthropologe Alain Testart ging in seinem letzten, 2014 posthum erschienenen Buch der Frage nach, wie und warum verschiedene Tätigkeiten von den verschiedenen Geschlechtern ausgeführt werden. Diese geschlechtliche Arbeitsteilung – meist in Form eines Verbots für die Frau – ist kaum in einem Bereich so stark ausgeprägt wie in der Seefahrt. Auch in Egans Brooklyn Navy Yard dürfen Frauen, selbst wenn sie in der Werft Arbeiten verrichten, die vor dem Krieg reine Männersache war, selbstverständlich nicht die Schiffe betreten.
Sollte es in diesem Roman eine Meta-Ebene geben, dann ist sie sehr gut versteckt. Dass Weltkriege gut für den Feminismus sind, weil es zu einem Mangel an männlichen Arbeitskräften kommt, wäre als Grundgedanke etwas morbide. Man beginnt sich während des Lesens zu fragen, ob dieses Buch vielleicht als Absage an die durchdachten, mehrschichtigen amerikanischen Konzeptromane gemeint ist, wie es zum Beispiel Jennifer Egans 2011 erschienener Roman „A Visit from the Goon Squad“ gewesen war, der im Deutschen den skurrilen Titel „Der größere Teil der Welt“ bekam. Das ist ein Roman über den Niedergang der Musikindustrie, über die Digitalisierung, über das Älterwerden von Musikern, Assistenten und Managern, und das, was das Ticken der Zeit mit allem anstellt, was ihr in den Weg kommt. Das macht auch vor der Sprache nicht halt. Ein ganzes Kapitel des Buches besteht aus einer Powerpoint-Präsentation. Pfeile, Kästchen, Stichworte sind alles, was Jennifer Egan braucht, um ein voll funktionstüchtiges Romankapitel zu verfassen.
Ähnlich interessant ist das Konzept von Egans Erzählung „Black Box“ von 2013. Der schmale Science-Fiction-Roman besteht nur aus einzelnen, auf 140 Zeichen beschränkte Tweets, die auch zunächst auf Twitter veröffentlicht wurden. Es ist bei Weitem nicht der erste Twitterroman gewesen, aber er ist eben so geschrieben, dass auch jemand, der mit Twitter nichts anfangen kann, sehr viel Freude daran haben kann. Eine 31-jährige Spionin ist da auf einen Verbrecher angesetzt, den sie auf einer einsamen Insel umgarnt, um an Informationen zu gelangen. Wie mit der Black Box eines Flugzeugs zeichnet sie auf einem in ihre Stirn transplantierten Chip auf, was sie erlebt, und kommentiert es. Auf diese Weise sollen auch im Falle ihres Todes ihre Beobachtungen, persönlichen Einschätzungen und Lebensweisheiten an spätere Agentinnen übermittelt werden können. Der Roman bedient sich also nicht nur der Tweets als Format, sondern besteht auch inhaltlich aus dem, was einem so auf Twitter entgegenkommt.
Das ist in den vergangenen Jahren das Besondere an der Schriftstellerin Jennifer Egan gewesen: Sie schaffte es, den klassischen Roman formal so weit aufzubrechen, dass es literarisch interessant war und zugleich für ein großes Publikum unterhaltsam. „Goon Squad“ war ein Bestseller und brachte ihr den Pulitzer-Preis ein. Es war ein postmoderner Roman, den man mit Genuss lesen konnte, auch wenn man nicht weiß, was mit Postmoderne eigentlich gemeint ist.
Aber was für ein Buch sie mit „Manhattan Beach“ schreiben wollte, ist unklar. Einen Bestsellerroman, zusammengesetzt aus den Elementen, aus denen Bestsellerliteratur eh immer schon besteht? Oder sollte damit bewiesen werden, dass ein Buch gut geschrieben sein kann, ohne ein gutes Buch zu sein?
Es gibt Romane, deren Genialität gerade aus ihrer Ambivalenz erwächst. Ihre Brillanz besteht darin, dass sich nicht eindeutig festmachen lässt, ob es sich um einfache Unterhaltungsliteratur handelt oder um einen komplexen Metakommentar auf den Literaturbetrieb. „Alle Pferde des Königs“ von Michèle Bernstein ist so ein Roman. Bernstein war mit dem Avantgarde-Künstler Guy Debord zusammen, brauchte Geld und schrieb dann 1960 diesen kleinen Roman, der 2015 in der Edition Nautilus auf Deutsch erschien. Sie erzählt darin eine so archetypische, südfranzösische Sommer-Lovestory, dass die Literaturkritiker damals nicht wussten, ob er ironisch gemeint war oder nicht. Man weiß es eigentlich bis heute nicht.
Michèle Bernstein macht sich mit ihrem Buch über die Literaturkritiker lustig, die immer fein säuberlich zwischen U und E, zwischen Bahnhofsbelletristik und ernster Literatur zu unterscheiden versuchen. (Ganz abgesehen davon, dass sie sich natürlich auch über die Unterhaltungsliteratur und, gleichermaßen, über die avantgardistische Literatur der Situationisten lustig macht). Das ist hohe Kunst: Ein ganzes Milieu, eine ganze Branche zu parodieren, ohne dass die Parodierten sich düpiert fühlen, sondern sich fleißig sogleich daran machen, den Zirkus, der parodiert wird, quasi „live“ noch einmal aufzuführen, wenn sich die Kritiker über das Buch den Kopf zerbrechen. Eine gute Absage an das Genre Konzeptroman ist „Manhattan Beach“ aber leider aber schon deshalb nicht, weil man das Buch zu gerne aus der Hand legen und stattdessen einen dieser Konzeptromane lesen will.
Hatte Jennifer Egan ihrem Roman über Zeitlichkeit ein Zitat aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vorangestellt – auch das kann man prätentiös finden, zumindest aber ist es wagemutig – so stellt sie „Manhattan Beach“ ein Zitat aus Moby Dick voran: „Ja, wie jeder weiß, sind Besinnlichkeit und Wasser auf ewig vermählt“. Ein Zitat könnte nichtssagender kaum sein, wäre damit nicht eigentlich alles gesagt. Besinnlichkeit und Wasser, das sind wirklich die einzigen Dinge, die in diesem Buch zur Genüge betrachtet werden.
Jennifer Egan: Manhattan Beach. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2018. 508 Seiten, 22 Euro.
Dass Jennifer Egan lebendig
erzählen kann, das
zeigt sie auch in diesem Buch
Ist es eine Bestseller-Parodie,
zusammengesetzt aus
den typischen Elementen?
Das größte Kriegsschiff der Welt: Die Iowa verlässt am 27. August 1942 den Brooklyn Navy Yard.
Foto: Associated Press
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"A bounteous miracle that makes you feel that past time, and our time, differently; everything becomes freshly energized, infused with humanity, vital, sad, and full of importance. To see the world through Egan's eyes is to be moved, through language, to new adoration of the world. I don't know a better writer working today. There is a generosity in her prose that is vastly enlivening to its reader and brings about that beautiful effect fiction sometimes causes: more, and better-grounded, fondness for reality, just as it is."-George Saunders