Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1999Die Autorität des Wortes
Marcel Reich-Ranickis Lebensbuch · Von Ruth Klüger
Das ist ein Buch von und über einen besessenen, ja fanatischen Leser, den die Weltgeschichte, zu seinem nicht geringen Ärger, beim Lesen öfters unterbrochen hat. Schon im ersten Teil, der von Marcel Reich-Ranickis Kindheit und Jugend in Polen und Berlin handelt, ist der Nachdruck auf Literatur verblüffend. Der junge Marcel Reich sieht zwar sehr wohl, was um ihn her im Berlin der dreißiger Jahre geschieht - er ist immerhin ein jüdischer Gymnasiast -, aber er sieht es durch den Filter der Bücher, die er damals gelesen und der Theaterstücke, die er damals gesehen hat. Dazu kommt allenfalls noch die Musik.
Selbst bei den ersten Liebeserfahrungen ist die Literatur ausschlaggebend. Die ersten aufwühlenden erotischen Erlebnisse, gesteht er, waren stellvertretend: eine Aufführung von "Romeo und Julia" und die Lektüre von (ausgerechnet) Hesses "Narziss und Goldmund". Die meisten Kinder, die so intensiv die Literatur entdecken, wollen selber Dichter werden. Aber dieser Junge wollte bemerkenswerterweise immer schon Kritiker sein, nicht etwa Dramatiker oder Lyriker. Trotz seiner Skepsis gegenüber den meisten Germanisten bedauert er immer noch, dass es ihm unmöglich gemacht wurde, Germanistik zu studieren.
Der Vater - der polnische Teil des Elternpaars - ist ein Schwächling und Versager, für den der Junge sich ein wenig schämt. Die männlichen Autoritätsfiguren sind die Lehrer am Gymnasium, die ihn so enttäuschen oder begeistern, dass er es noch immer haarklein nacherzählen kann, dazu einige Männer in der Familie, und schließlich - ein eindrucksvoller Höhepunkt - ein Großer, der in entscheidender Sache nicht versagt: Rührend zu lesen ist die Freude des jungen Marcel über Thomas Manns Brief an die Universität Bonn, in dem der Exilant das Naziregime verurteilt und den der Schüler im Februar 1937 in einer illegalen Gruppe zu hören bekommt. Man merkt, wie väterliche Autorität letzten Endes vom Wort ausströmt - eine doch recht jüdische Neigung in diesem ungläubigen Juden.
Die aus Deutschland stammende Mutter verwechselt unglücklicherweise die deutsche Kultur mit der deutschen Politik, wie so viele Juden es damals taten. Sie meint, man könne das Naziregime durchstehen, es werde nicht so heiß gegessen wie gekocht. Wie heiß dann tatsächlich gegessen wurde, bekommt die Familie zu spüren, als sie im Jahre 1938 nach Polen, in Marcels Geburtsland, abgeschoben wird, dessen Sprache er nicht mehr gut beherrscht. Hier tritt die Literatur ein wenig zurück, und das Leben oder der Spuk, den man damals das Leben nannte, nimmt überhand. Doch auch weiterhin und in den unwahrscheinlichsten Situationen fallen dem jungen Mann Zitate von Schiller und Shakespeare ein. (Überhaupt wimmelt es in dem Buch von Zitaten, manche in Anführungsstrichen, manche auch ohne. Man muss scharf aufpassen.)
Diesen zweiten Teil, der in Polen spielt und von den Kriegsjahren handelt, wird man nicht leicht weglegen können. Er ist atemberaubend spannend. Mehr als das: Dem Autor gelingt das nicht geringe Kunststück, an Stelle alles Pathetischen und Weinerlichen den Spieß zu drehen und den ganzen Naziterror mit einer abgrundtiefen Verachtung zu behandeln. Hier ist, was der junge Marcel Reich sieht, als die Angehörigen der Wehrmacht in Warschau über fromme Juden herfallen:
"Indes ging es nicht nur darum, die Juden zu berauben. Sie, die Feinde des Deutschen Reichs, sollten auch bestraft und erniedrigt werden . . . Die Soldaten hatten bald gemerkt, dass man orthodoxe Juden besonders schmerzhaft demütigen konnte, wenn man ihnen die Bärte abschnitt. Zu diesem Zweck hatten sich die unternehmungslustigen Okkupanten mit langen Scheren versorgt. Aber die feigen Juden flohen und verbargen sich in Höfen und Häusern. Das half ihnen nicht viel, sie wurden rasch ergriffen . . . Beherzt schnitten die langen Judenbärte ab, die sie bisweilen erst einmal mit einer brennenden Zeitung anzündeten. Das war besonders sehenswert. Kaum war der Bart auf den Damm gefallen, da johlten die vielen Schaulustigen, manche klatschten Beifall."
So etwas muss man können. Es ist an der Oberfläche Wilhelm Busch, dessen Humor ja immer von Grausamkeit oder gar Sadismus gespeist ist. Aber hier spricht die eiskalte Ironie der Verachtung für die Verächter der Humanität. Es ist ein Stil, der die Möglichkeit bietet, "von dem Kakao, durch den man euch zieht, nicht noch zu trinken". Reich-Ranicki liebt dieses Erich-Kästner-Wort. Wer sich so ausdrücken kann, der lässt sich nicht bemitleiden. Die große jüdische Katastrophe wird hier drastisch von Menschen durchgeführt, die nicht teuflisch, nur moralisch minderwertig, nicht dämonisch, sondern banal waren, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Das ist zwar nicht neu, aber noch immer nicht genügend bekannt, wie man den später im Buch zitierten Auszügen aus dem Historikerstreit entnimmt, in dem die Ehre der Täter, wenn von ihrer mangelnden "Ritterlichkeit" die Rede war, mit unbrauchbaren, aber vornehmen Vokabeln gerettet werden sollte.
Dank seiner Deutschkenntnisse bekommt Marcel Reich bei der jüdischen Verwaltung des Gettos eine Stelle als Übersetzer und Korrespondent. Er lernt Menschen kennen, die in den letzten fünfzig Jahren im jüdischen Gedenken immer mehr ins Reich der Mythologie gerückt sind: Ringelblum, der Archivar der Katastrophe, Czerniak, der Obmann des Judenrats, der Selbstmord beging, um nicht mitschuldig zu werden. Marcel Reich tippt das Todesurteil der Warschauer Juden, wie es ihm diktiert wird, und nimmt sich vor, seine Freundin schnell zu heiraten, damit er sie vielleicht retten kann, während von der Straße Walzerklänge aus einem Militärauto durchs offene Fenster dringen - auch hier bewahrt das Buch seine ironische Doppelbödigkeit.
Im Getto beginnt eine Liebes- und Ehegeschichte, die den Rest dieser Biografie bestimmt und die sowohl intim wie auch wieder sehr verhalten erzählt wird. Wir hören wenig, zu wenig, über die Persönlichkeit der Ehefrau, einiges über die Seitensprünge des Gatten (nicht, als ob wir mehr hören wollten!), aber vor allem von der Fähigkeit zweier Menschen, zueinander zu halten und einander in guten wie in schlechten Zeiten nicht im Stich zu lassen. Es ist eine Beziehung, die im Zeichen des Todes beider Elternpaare beginnt (der erste durch Selbstmord, die anderen durch Massenmord), in gemeinsamer Flucht und gemeinsamem Überleben unter den widrigsten Umständen weitergeht, nämlich im Versteck bei armen Leuten im okkupierten Polen, bis die Befreiung durch die Russen diesem Elend der frühen Jahre ein Ende setzt. Im Wohlstand der späteren Jahre kommen ganz andere Widrigkeiten, unter anderem auch Nachwirkungen der Terrorjahre, die nur angedeutet sind. Doch nicht dies, sondern die anhaltende Treue der beiden Gatten ist der eigentliche Zement dieser Lebensgeschichte.
Reich-Ranickis Tätigkeiten in seinen polnischen und politischen Jahren wirken wie ein bizarres Einsprengsel in einem Leben, das der deutschen Literatur gewidmet ist, Seitensprünge, die, wie in der Ehe, seine Treue zu seiner wahren, angetrauten Liebe nicht beeinträchtigen. Seine steile, einzigartige Karriere in Deutschland und den im Alter noch immer wachsenden Ruhm beschreibt er ohne Fanfare. Er schreibt weitaus mehr über andere als über sich selbst, eine Bescheidenheit, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Auch Unbekannte, die in dem Buch auftreten, bleiben im Gedächtnis haften, weil auf den Schnappschuss der ersten Begegnung gleich ein zweiter folgt, der zeigt, was aus dem Menschen geworden ist.
Auf den letzten zweihundert Seiten kommt nun eine Palette von berühmten Figuren, ein Bilderbogen deutscher Autoren und Literaten. Wer das geringste Interesse am modernen Literaturbetrieb hat, kommt hier auf seine Kosten. Das sind weder Charakterstudien noch literarische Analysen, sondern das ist eine Anekdotensammlung, die ihresgleichen sucht, ausgeführt mit breiter Palette und meist knalligen Farben, teils bissig, teils humorvoll selbstentlarvend (wie wenn Heinrich Böll dem vertrauensseligen Kritiker ein saftiges "Arschloch" ins Ohr flüstert), aber vor allem Ausdruck von Staunen und Bewundern über die Möglichkeiten und Leistungen der deutschen Sprache.
Wie nicht anders zu erwarten, geht es nicht ohne Polemik und Bezichtigungen ab. Hier sei nur eine erwähnt, der Vorwurf des Verfassers, er sei aus Antisemitismus nicht in die Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit aufgenommen worden, für die er jahrelang als Literaturkritiker tätig war. Dagegen hat sich das Blatt öffentlich und heftig gewehrt. Herr Zimmer rechtfertigt sich mit der Behauptung, er habe damals aus Telefongesprächen entnehmen können, Reich-Ranicki sei kein Teamplayer, weil er so gehässig über Kollegen und Autoren herfallen konnte. Dass Reich-Ranicki seine Eignung für eine solche Position etwas später in der F.A.Z. brillant demonstrieren konnte, bleibt unerwähnt. Doch ist es nicht ein offenes Geheimnis, dass das Unbehagen, das Reich-Ranicki auslöst, oft mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung gesetzt wird, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand? Herrn Zimmers absolute Gewissheit, es könne in den siebziger Jahren in seiner Zeitung keine Judenfeindlichkeit gegeben haben, ist in ihrer Unbedingtheit verdächtig.
Doch von der Hassliebe, die diesem Kritiker manchmal nachgesagt wird, ist hier nichts zu merken: Die Liebe zur deutschen Literatur und Musik ist unverwässert, nur sein Verhältnis zu seinen deutschen Mitbürgern wird gelegentlich getrübt, zwar nicht von Hass, aber doch wohl von einer Spur der Verachtung, die sein Selbstbewusstsein in der Nazizeit gestärkt hat. Das merken seine Leser und Hörer natürlich, es macht ihn unbequem und oft unbeliebt.
Ein halbes Jahrhundert seit Kriegsende, und jede Buchmesse bringt neue Autobiographien von Menschen, die Auskunft über die erste Jahrhunderthälfte geben. Warum erst jetzt? Die Bibel, nicht umsonst ein eifrig befragtes Buch der Weisheiten, kündet, Moses habe sein Volk vierzig Jahre durch eine Wüste geführt, die man heute im Autobus in ein paar Stunden durchquert, eine Reise, die schon damals, selbst mit Ziegen und Säuglingen, nicht mehr als zwei Wochen hätte dauern müssen.Warum so lange im Kreis herum wandern? Vielleicht wie bei uns: Der geistige Ballast, den die damaligen Auswanderer aus Ägypten mit sich führten, tat ihrer Gottgefälligkeit gewaltigen Abbruch, so wie er den heute noch Überlebenden aus Hitler-Europa Jahrzehnte lang die Sprache verschlagen hat. Danach gab's Milch und Honig, Verdrängen und Wirtschaftswunder, und schließlich konnte man mit den feierlichen Jubiläumsfeiern beginnen - und mit dem Geschichtenerzählen. Wer hört zu? Da war eine neue Generation aufgewachsen, die nicht mehr an den alten Wunden litt und an den alten Untaten unbeteiligt war. Eine Spanne von vier, fünf Jahrzehnten verwischt die Spuren und macht sie dann wieder lesbar, das eine wie das andere, denn nach so viel Zeit sind die Füße nicht mehr flüchtig, die Rückschau wird möglich, man bückt sich, um die Zeichen im Sand zu suchen und zu untersuchen. Die Autoren wundern sich selbst über ihre beiden so eklatant auseinander klaffenden Lebensabschnitte, die frühen Gefahren, die spätere Sicherheit. Man steht kopfschüttelnd vor der eigenen Jugend, die so abenteuerlich fremd aussieht, dass man sich fragt, ob man das wirklich gewesen sei, und gleichzeitig weiß man genau, dass man ihr nie entronnen ist. Bei Reich-Ranicki fällt die Zweiteiligkeit besonders ins Auge: einerseits die Jahre als Verfolgter und strauchelnder Kommunist, dann der Mann, dessen Gesicht und Stimme ganz Deutschland kennt, auch jene Mehrheit, die keine Bücher liest. Es ist der Zwiespalt einer ganzen Generation, den man in seinem Buch nachvollziehen kann, denn in kaum einem anderen Bericht von Gleichaltrigen wiegen sich die beiden Teile so exakt auf, sind sie so gleichmäßig und doch ganz andersartig interessant wie hier.
Fünfhundertsechzig Seiten von einem Autor, der von dicken Büchern verlangt, sie mögen besonders lesenswert sein? Ja, doch, es besteht vor dem Kriterium der Lang- beziehungsweise der Kurzweile. Man wird es schnell lesen und noch lange daran zu kauen haben. Ein schlichter Vorschlag: Wäre es nicht angemessen, dieses lebenslange und so erfolgreiche Bemühen um deutsche Sprache und Dichtung, dem der fast Achtzigjährige mit diesem Werk einen Schlussstein aufsetzt, mit dem Büchnerpreis zu krönen?
Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 566 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcel Reich-Ranickis Lebensbuch · Von Ruth Klüger
Das ist ein Buch von und über einen besessenen, ja fanatischen Leser, den die Weltgeschichte, zu seinem nicht geringen Ärger, beim Lesen öfters unterbrochen hat. Schon im ersten Teil, der von Marcel Reich-Ranickis Kindheit und Jugend in Polen und Berlin handelt, ist der Nachdruck auf Literatur verblüffend. Der junge Marcel Reich sieht zwar sehr wohl, was um ihn her im Berlin der dreißiger Jahre geschieht - er ist immerhin ein jüdischer Gymnasiast -, aber er sieht es durch den Filter der Bücher, die er damals gelesen und der Theaterstücke, die er damals gesehen hat. Dazu kommt allenfalls noch die Musik.
Selbst bei den ersten Liebeserfahrungen ist die Literatur ausschlaggebend. Die ersten aufwühlenden erotischen Erlebnisse, gesteht er, waren stellvertretend: eine Aufführung von "Romeo und Julia" und die Lektüre von (ausgerechnet) Hesses "Narziss und Goldmund". Die meisten Kinder, die so intensiv die Literatur entdecken, wollen selber Dichter werden. Aber dieser Junge wollte bemerkenswerterweise immer schon Kritiker sein, nicht etwa Dramatiker oder Lyriker. Trotz seiner Skepsis gegenüber den meisten Germanisten bedauert er immer noch, dass es ihm unmöglich gemacht wurde, Germanistik zu studieren.
Der Vater - der polnische Teil des Elternpaars - ist ein Schwächling und Versager, für den der Junge sich ein wenig schämt. Die männlichen Autoritätsfiguren sind die Lehrer am Gymnasium, die ihn so enttäuschen oder begeistern, dass er es noch immer haarklein nacherzählen kann, dazu einige Männer in der Familie, und schließlich - ein eindrucksvoller Höhepunkt - ein Großer, der in entscheidender Sache nicht versagt: Rührend zu lesen ist die Freude des jungen Marcel über Thomas Manns Brief an die Universität Bonn, in dem der Exilant das Naziregime verurteilt und den der Schüler im Februar 1937 in einer illegalen Gruppe zu hören bekommt. Man merkt, wie väterliche Autorität letzten Endes vom Wort ausströmt - eine doch recht jüdische Neigung in diesem ungläubigen Juden.
Die aus Deutschland stammende Mutter verwechselt unglücklicherweise die deutsche Kultur mit der deutschen Politik, wie so viele Juden es damals taten. Sie meint, man könne das Naziregime durchstehen, es werde nicht so heiß gegessen wie gekocht. Wie heiß dann tatsächlich gegessen wurde, bekommt die Familie zu spüren, als sie im Jahre 1938 nach Polen, in Marcels Geburtsland, abgeschoben wird, dessen Sprache er nicht mehr gut beherrscht. Hier tritt die Literatur ein wenig zurück, und das Leben oder der Spuk, den man damals das Leben nannte, nimmt überhand. Doch auch weiterhin und in den unwahrscheinlichsten Situationen fallen dem jungen Mann Zitate von Schiller und Shakespeare ein. (Überhaupt wimmelt es in dem Buch von Zitaten, manche in Anführungsstrichen, manche auch ohne. Man muss scharf aufpassen.)
Diesen zweiten Teil, der in Polen spielt und von den Kriegsjahren handelt, wird man nicht leicht weglegen können. Er ist atemberaubend spannend. Mehr als das: Dem Autor gelingt das nicht geringe Kunststück, an Stelle alles Pathetischen und Weinerlichen den Spieß zu drehen und den ganzen Naziterror mit einer abgrundtiefen Verachtung zu behandeln. Hier ist, was der junge Marcel Reich sieht, als die Angehörigen der Wehrmacht in Warschau über fromme Juden herfallen:
"Indes ging es nicht nur darum, die Juden zu berauben. Sie, die Feinde des Deutschen Reichs, sollten auch bestraft und erniedrigt werden . . . Die Soldaten hatten bald gemerkt, dass man orthodoxe Juden besonders schmerzhaft demütigen konnte, wenn man ihnen die Bärte abschnitt. Zu diesem Zweck hatten sich die unternehmungslustigen Okkupanten mit langen Scheren versorgt. Aber die feigen Juden flohen und verbargen sich in Höfen und Häusern. Das half ihnen nicht viel, sie wurden rasch ergriffen . . . Beherzt schnitten die langen Judenbärte ab, die sie bisweilen erst einmal mit einer brennenden Zeitung anzündeten. Das war besonders sehenswert. Kaum war der Bart auf den Damm gefallen, da johlten die vielen Schaulustigen, manche klatschten Beifall."
So etwas muss man können. Es ist an der Oberfläche Wilhelm Busch, dessen Humor ja immer von Grausamkeit oder gar Sadismus gespeist ist. Aber hier spricht die eiskalte Ironie der Verachtung für die Verächter der Humanität. Es ist ein Stil, der die Möglichkeit bietet, "von dem Kakao, durch den man euch zieht, nicht noch zu trinken". Reich-Ranicki liebt dieses Erich-Kästner-Wort. Wer sich so ausdrücken kann, der lässt sich nicht bemitleiden. Die große jüdische Katastrophe wird hier drastisch von Menschen durchgeführt, die nicht teuflisch, nur moralisch minderwertig, nicht dämonisch, sondern banal waren, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Das ist zwar nicht neu, aber noch immer nicht genügend bekannt, wie man den später im Buch zitierten Auszügen aus dem Historikerstreit entnimmt, in dem die Ehre der Täter, wenn von ihrer mangelnden "Ritterlichkeit" die Rede war, mit unbrauchbaren, aber vornehmen Vokabeln gerettet werden sollte.
Dank seiner Deutschkenntnisse bekommt Marcel Reich bei der jüdischen Verwaltung des Gettos eine Stelle als Übersetzer und Korrespondent. Er lernt Menschen kennen, die in den letzten fünfzig Jahren im jüdischen Gedenken immer mehr ins Reich der Mythologie gerückt sind: Ringelblum, der Archivar der Katastrophe, Czerniak, der Obmann des Judenrats, der Selbstmord beging, um nicht mitschuldig zu werden. Marcel Reich tippt das Todesurteil der Warschauer Juden, wie es ihm diktiert wird, und nimmt sich vor, seine Freundin schnell zu heiraten, damit er sie vielleicht retten kann, während von der Straße Walzerklänge aus einem Militärauto durchs offene Fenster dringen - auch hier bewahrt das Buch seine ironische Doppelbödigkeit.
Im Getto beginnt eine Liebes- und Ehegeschichte, die den Rest dieser Biografie bestimmt und die sowohl intim wie auch wieder sehr verhalten erzählt wird. Wir hören wenig, zu wenig, über die Persönlichkeit der Ehefrau, einiges über die Seitensprünge des Gatten (nicht, als ob wir mehr hören wollten!), aber vor allem von der Fähigkeit zweier Menschen, zueinander zu halten und einander in guten wie in schlechten Zeiten nicht im Stich zu lassen. Es ist eine Beziehung, die im Zeichen des Todes beider Elternpaare beginnt (der erste durch Selbstmord, die anderen durch Massenmord), in gemeinsamer Flucht und gemeinsamem Überleben unter den widrigsten Umständen weitergeht, nämlich im Versteck bei armen Leuten im okkupierten Polen, bis die Befreiung durch die Russen diesem Elend der frühen Jahre ein Ende setzt. Im Wohlstand der späteren Jahre kommen ganz andere Widrigkeiten, unter anderem auch Nachwirkungen der Terrorjahre, die nur angedeutet sind. Doch nicht dies, sondern die anhaltende Treue der beiden Gatten ist der eigentliche Zement dieser Lebensgeschichte.
Reich-Ranickis Tätigkeiten in seinen polnischen und politischen Jahren wirken wie ein bizarres Einsprengsel in einem Leben, das der deutschen Literatur gewidmet ist, Seitensprünge, die, wie in der Ehe, seine Treue zu seiner wahren, angetrauten Liebe nicht beeinträchtigen. Seine steile, einzigartige Karriere in Deutschland und den im Alter noch immer wachsenden Ruhm beschreibt er ohne Fanfare. Er schreibt weitaus mehr über andere als über sich selbst, eine Bescheidenheit, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Auch Unbekannte, die in dem Buch auftreten, bleiben im Gedächtnis haften, weil auf den Schnappschuss der ersten Begegnung gleich ein zweiter folgt, der zeigt, was aus dem Menschen geworden ist.
Auf den letzten zweihundert Seiten kommt nun eine Palette von berühmten Figuren, ein Bilderbogen deutscher Autoren und Literaten. Wer das geringste Interesse am modernen Literaturbetrieb hat, kommt hier auf seine Kosten. Das sind weder Charakterstudien noch literarische Analysen, sondern das ist eine Anekdotensammlung, die ihresgleichen sucht, ausgeführt mit breiter Palette und meist knalligen Farben, teils bissig, teils humorvoll selbstentlarvend (wie wenn Heinrich Böll dem vertrauensseligen Kritiker ein saftiges "Arschloch" ins Ohr flüstert), aber vor allem Ausdruck von Staunen und Bewundern über die Möglichkeiten und Leistungen der deutschen Sprache.
Wie nicht anders zu erwarten, geht es nicht ohne Polemik und Bezichtigungen ab. Hier sei nur eine erwähnt, der Vorwurf des Verfassers, er sei aus Antisemitismus nicht in die Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit aufgenommen worden, für die er jahrelang als Literaturkritiker tätig war. Dagegen hat sich das Blatt öffentlich und heftig gewehrt. Herr Zimmer rechtfertigt sich mit der Behauptung, er habe damals aus Telefongesprächen entnehmen können, Reich-Ranicki sei kein Teamplayer, weil er so gehässig über Kollegen und Autoren herfallen konnte. Dass Reich-Ranicki seine Eignung für eine solche Position etwas später in der F.A.Z. brillant demonstrieren konnte, bleibt unerwähnt. Doch ist es nicht ein offenes Geheimnis, dass das Unbehagen, das Reich-Ranicki auslöst, oft mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung gesetzt wird, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand? Herrn Zimmers absolute Gewissheit, es könne in den siebziger Jahren in seiner Zeitung keine Judenfeindlichkeit gegeben haben, ist in ihrer Unbedingtheit verdächtig.
Doch von der Hassliebe, die diesem Kritiker manchmal nachgesagt wird, ist hier nichts zu merken: Die Liebe zur deutschen Literatur und Musik ist unverwässert, nur sein Verhältnis zu seinen deutschen Mitbürgern wird gelegentlich getrübt, zwar nicht von Hass, aber doch wohl von einer Spur der Verachtung, die sein Selbstbewusstsein in der Nazizeit gestärkt hat. Das merken seine Leser und Hörer natürlich, es macht ihn unbequem und oft unbeliebt.
Ein halbes Jahrhundert seit Kriegsende, und jede Buchmesse bringt neue Autobiographien von Menschen, die Auskunft über die erste Jahrhunderthälfte geben. Warum erst jetzt? Die Bibel, nicht umsonst ein eifrig befragtes Buch der Weisheiten, kündet, Moses habe sein Volk vierzig Jahre durch eine Wüste geführt, die man heute im Autobus in ein paar Stunden durchquert, eine Reise, die schon damals, selbst mit Ziegen und Säuglingen, nicht mehr als zwei Wochen hätte dauern müssen.Warum so lange im Kreis herum wandern? Vielleicht wie bei uns: Der geistige Ballast, den die damaligen Auswanderer aus Ägypten mit sich führten, tat ihrer Gottgefälligkeit gewaltigen Abbruch, so wie er den heute noch Überlebenden aus Hitler-Europa Jahrzehnte lang die Sprache verschlagen hat. Danach gab's Milch und Honig, Verdrängen und Wirtschaftswunder, und schließlich konnte man mit den feierlichen Jubiläumsfeiern beginnen - und mit dem Geschichtenerzählen. Wer hört zu? Da war eine neue Generation aufgewachsen, die nicht mehr an den alten Wunden litt und an den alten Untaten unbeteiligt war. Eine Spanne von vier, fünf Jahrzehnten verwischt die Spuren und macht sie dann wieder lesbar, das eine wie das andere, denn nach so viel Zeit sind die Füße nicht mehr flüchtig, die Rückschau wird möglich, man bückt sich, um die Zeichen im Sand zu suchen und zu untersuchen. Die Autoren wundern sich selbst über ihre beiden so eklatant auseinander klaffenden Lebensabschnitte, die frühen Gefahren, die spätere Sicherheit. Man steht kopfschüttelnd vor der eigenen Jugend, die so abenteuerlich fremd aussieht, dass man sich fragt, ob man das wirklich gewesen sei, und gleichzeitig weiß man genau, dass man ihr nie entronnen ist. Bei Reich-Ranicki fällt die Zweiteiligkeit besonders ins Auge: einerseits die Jahre als Verfolgter und strauchelnder Kommunist, dann der Mann, dessen Gesicht und Stimme ganz Deutschland kennt, auch jene Mehrheit, die keine Bücher liest. Es ist der Zwiespalt einer ganzen Generation, den man in seinem Buch nachvollziehen kann, denn in kaum einem anderen Bericht von Gleichaltrigen wiegen sich die beiden Teile so exakt auf, sind sie so gleichmäßig und doch ganz andersartig interessant wie hier.
Fünfhundertsechzig Seiten von einem Autor, der von dicken Büchern verlangt, sie mögen besonders lesenswert sein? Ja, doch, es besteht vor dem Kriterium der Lang- beziehungsweise der Kurzweile. Man wird es schnell lesen und noch lange daran zu kauen haben. Ein schlichter Vorschlag: Wäre es nicht angemessen, dieses lebenslange und so erfolgreiche Bemühen um deutsche Sprache und Dichtung, dem der fast Achtzigjährige mit diesem Werk einen Schlussstein aufsetzt, mit dem Büchnerpreis zu krönen?
Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 566 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mein Leben" ist nicht nur ein großes Zeitgeschichtliches Dokument. Es ist auch eine wunderschöne Liebesgeschichte.
"Unverwechselbar sind seine Stimme, seine rhetorische Finesse. Ein besonderer Genuss ist es, ihn lesen zu hören."