Gemeinsam erleben Bettina und ihre Schwester die Höhen und Tiefen des Aufwachsens in den 70er-Jahren: Sie machen erste Liebeserfahrungen und lernen mit den unerfüllbaren Erwartungen ihrer Eltern umzugehen. Zusammen verbringen sie glückliche Stunden mit ihren Großeltern, um den Depressionen der Mutter zu entkommen. Doch das Duo zerbricht, als Bettinas Schwester sich das Leben nimmt. Für Bettina beginnt eine Zeit der Lähmung und Verzweiflung. Dann findet sie Trost im Schreiben und wagt den mutigen Schritt, sich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen und von diesen zu befreien.Ungekürzte Lesung mit Julia Nachtmann1 mp3-CD ca. 7 h 9 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2022Am Tag des Todes
Bettina Flitner erzählt von einem Suizid in der Familie
Die erste Szene dieses Buchs wiederholt sich kurz vor dessen Ende. Ein später Anruf zerstört den schönen Abend, den drei Frauen in Köln miteinander verbringen. Eine von ihnen ist Alice Schwarzer, aber deren Prominenz tut nichts zur Sache. Eine ist aus Wien angereist, ihren Namen werden wir nie erfahren. Und eine ist die Autorin dieses Buchs, Bettina Flitner. Ihre Schwester ist gestorben, hat sich selbst am Vormittag erdrosselt, der Anrufer ist der Schwager. Nach seiner Mitteilung ist nichts mehr wie zuvor.
Das schreibt sich so leicht und ist in der Konsequenz doch so schwer. Bettina Flitner ist Fotografin, eine der besten, die wir haben. Dass sie über ihr Handwerk und was es aussagt, tief nachdenkt, kann man ihren Bilderserien aus mittlerweile mehr als dreißig Jahren ansehen: nominell Reportagefotografie, doch de facto fotografische Psychologie. Flitner arbeitet gerne mit begleitenden Texten, die aus Äußerungen der von ihr Porträtierten während der Aufnahmesituationen bestehen. Ihr neues Buch jedoch hat nur Text - und als einzige Fotografie das Titelbild, natürlich ein eigenes Porträt, vierzig Jahre alt, eines, das über einen Spiegel den Blick auf sich selbst lenkt. Aber vor der damals einundzwanzigjährigen Flitner steht eine zweite junge Frau: die um wenige Jahre ältere Schwester. Zur Entstehungssituation liest man: "Es ist nicht sehr hell hier, und ich stütze die Kamera auf ihrer Schulter ab, damit die Aufnahme nicht verwackelt. Hier ist meine Schwester. Und dahinter bin ich. Wir spiegeln uns im Glas. Ich sehe sie an und sie mich. Das Spiegelbild der anderen. Die Kamera ist auf uns gerichtet. Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde. Eine Ewigkeit."
Keine Ewigkeit. Sondern ein verfliegender Moment, der nur durch das Foto gebannt ist. Doch für Flitner zählen Vor- und Nachgeschichten solcher Momente mehr. Eines von vielen im Buch angesprochenen Fotos, die wir nicht sehen, sah sie selbst beim ersten Besuch in jener Wohnung der Schwester, die später zu deren Todesort werden sollte: eine Aufnahme aus dem Jahr 1970, als die vierköpfige Familie Flitner für sechs Monate in New York gelebt hatte, darauf festgehalten die Mutter und die beiden Töchter. "Meine Schwester hatte das Bild in einen silbernen Rahmen getan. So als wäre es eine schöne Erinnerung. So als wäre die Vergangenheit in dem Bild und nicht die Zukunft. So als wäre die Geschichte abgeschlossen."
Das ist die Schlüsselpassage in Flitners Erinnerungs- und Betrauerungsbuch, das lapidar "Meine Schwester" heißt und keinem Genre explizit zugeordnet wird. Ausgehend vom Augenblick der Todesnachricht, wird rückblickend erzählt: vor allem von der gemeinsamen Kindheit der Schwestern und der scheiternden Ehe der Eltern. Früh ist zu erfahren, dass auch die Mutter sich umgebracht hat, schon 1984. "Natürlich gibt es da eine familiäre Vorbelastung. Das hat eine genetische Komponente", erklärt ein mit Bettina Flitner verwandter Arzt am Tag nach dem Tod der Schwester. "Und entweder man erbt dieses Gen oder nicht." Die Kälte dieser Aussage ist der hochenergetische Antrieb dessen, was das Buch erzählt. Dessen Geschichte ist offen.
Und so erzählt Flitner mit offenem Visier, rücksichtslos gegen sich selbst, von allen Herrlichkeiten und Peinlichkeiten einer Herkunft, die hinter dem für Außenstehende perfekten Bild einer wohlsituierten Familie deren Scheitern versteckte. In jeder von Flitner erlebten engen Konstellation (außer in der mit Alice Schwarzer) lauern Abgründe: das todkranke Nachbarmädchen, die in patriarchalischen Ritualen gefangenen Großelternpaare, die sich wechselseitig betrügenden Eltern, die mit der Pubertät ihre Kleinmädchenideale verratenden Freundinnen. Und selbst im zur gemeinsamen Kinderzeit symbiotischen Verhältnis mit der Schwester ist die Entfremdung unvermeidlich: als die Schwester in ihrem Verhalten der Mutter immer ähnlicher wird. Aber das erkennt Flitner erst zu spät als Warnsignal. Ständig befragt sich die Autorin dazu, was sie hätte merken müssen.
Rahmen ihres Buchs ist der Tag des Todes im März 2017, sind jene vierzehn, fünfzehn Stunden zwischen dem Suizid und dem Anruf in Köln. Fortlaufend rekapituliert Flitner ihren damaligen Tagesablauf, all die Banalitäten, aber auch Gedanken an die Schwester, die nicht ans Telefon geht. Zwischen diesen Bruchstücken eines Schicksalstages stehen die Rückblicke aufs gemeinsame Leben - alle unter dem Zeichen dessen, worauf es hinauslaufen wird. Und gegen Ende sind wir eben wieder bei der Todesnachricht angekommen.
Trotzdem gibt es zuvor grandios komische Schilderungen, etwa die von der frühmorgendlichen Ruhestörung der Eltern, mit der diese sich am spätabends lärmenden Nachbarn rächen, von einer Begegnung mit Hannah Arendt in der New Yorker Zeit, die die neunjährige Bettina Flitner aber weniger faszinierte als eine mit Kermit dem Frosch, und vor allem vom Besuch der beiden erwachsenen Schwester in einem Pariser Kosmetikgeschäft. "Der Körper war auf die verschiedenen Regale verteilt: Es gab Regale für das Gesicht, für die Lippen, die Oberschenkel, den Po, die Zehen, die Fingernägel, die Augen, für die Hände, die Füße. Alles war Anti, alles war dagegen. Anti-rides, Anti-taches, Anti-chute, Anti-age. Gegen Falten, gegen Flecken, gegen Haarausfall, gegen Alter. Gegen trockene Haut, gegen fettige Haare, gegen raue Lippen. Nichts war für etwas. Wenn man alles auf einmal anwendet, dachte ich, ist man nicht mehr da." Und jemand, der all das anwendete, war die Schwester.
So ist das Schreckliche durchschossen vom Witzigen, und im höchstpersönlichen Einzelfall steckt auch ein Soziogramm der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Sechziger und Siebziger. Vor allem aber ist das Buch mitreißend geschrieben, ohne aufgesetzt emotional zu sein, und gäbe es nicht einige erstaunliche chronologische Unstimmigkeiten, müsste man es ein perfektes Memoir nennen. Begonnen wurde es in der Anfangszeit der Pandemie, als Bettina Flitner die Isolation zur Neugestaltung ihrer Website nutzen wollte. "Ich klappte meinen Laptop auf, öffnete eine neue Schreibdatei und begann mit dem ersten Satz dieser Aufzeichnungen. Es war einfach der richtige Moment." Es ist auch die richtige Lektüre. ANDREAS PLATTHAUS.
Bettina Flitner: "Meine Schwester".
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 315 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bettina Flitner erzählt von einem Suizid in der Familie
Die erste Szene dieses Buchs wiederholt sich kurz vor dessen Ende. Ein später Anruf zerstört den schönen Abend, den drei Frauen in Köln miteinander verbringen. Eine von ihnen ist Alice Schwarzer, aber deren Prominenz tut nichts zur Sache. Eine ist aus Wien angereist, ihren Namen werden wir nie erfahren. Und eine ist die Autorin dieses Buchs, Bettina Flitner. Ihre Schwester ist gestorben, hat sich selbst am Vormittag erdrosselt, der Anrufer ist der Schwager. Nach seiner Mitteilung ist nichts mehr wie zuvor.
Das schreibt sich so leicht und ist in der Konsequenz doch so schwer. Bettina Flitner ist Fotografin, eine der besten, die wir haben. Dass sie über ihr Handwerk und was es aussagt, tief nachdenkt, kann man ihren Bilderserien aus mittlerweile mehr als dreißig Jahren ansehen: nominell Reportagefotografie, doch de facto fotografische Psychologie. Flitner arbeitet gerne mit begleitenden Texten, die aus Äußerungen der von ihr Porträtierten während der Aufnahmesituationen bestehen. Ihr neues Buch jedoch hat nur Text - und als einzige Fotografie das Titelbild, natürlich ein eigenes Porträt, vierzig Jahre alt, eines, das über einen Spiegel den Blick auf sich selbst lenkt. Aber vor der damals einundzwanzigjährigen Flitner steht eine zweite junge Frau: die um wenige Jahre ältere Schwester. Zur Entstehungssituation liest man: "Es ist nicht sehr hell hier, und ich stütze die Kamera auf ihrer Schulter ab, damit die Aufnahme nicht verwackelt. Hier ist meine Schwester. Und dahinter bin ich. Wir spiegeln uns im Glas. Ich sehe sie an und sie mich. Das Spiegelbild der anderen. Die Kamera ist auf uns gerichtet. Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde. Eine Ewigkeit."
Keine Ewigkeit. Sondern ein verfliegender Moment, der nur durch das Foto gebannt ist. Doch für Flitner zählen Vor- und Nachgeschichten solcher Momente mehr. Eines von vielen im Buch angesprochenen Fotos, die wir nicht sehen, sah sie selbst beim ersten Besuch in jener Wohnung der Schwester, die später zu deren Todesort werden sollte: eine Aufnahme aus dem Jahr 1970, als die vierköpfige Familie Flitner für sechs Monate in New York gelebt hatte, darauf festgehalten die Mutter und die beiden Töchter. "Meine Schwester hatte das Bild in einen silbernen Rahmen getan. So als wäre es eine schöne Erinnerung. So als wäre die Vergangenheit in dem Bild und nicht die Zukunft. So als wäre die Geschichte abgeschlossen."
Das ist die Schlüsselpassage in Flitners Erinnerungs- und Betrauerungsbuch, das lapidar "Meine Schwester" heißt und keinem Genre explizit zugeordnet wird. Ausgehend vom Augenblick der Todesnachricht, wird rückblickend erzählt: vor allem von der gemeinsamen Kindheit der Schwestern und der scheiternden Ehe der Eltern. Früh ist zu erfahren, dass auch die Mutter sich umgebracht hat, schon 1984. "Natürlich gibt es da eine familiäre Vorbelastung. Das hat eine genetische Komponente", erklärt ein mit Bettina Flitner verwandter Arzt am Tag nach dem Tod der Schwester. "Und entweder man erbt dieses Gen oder nicht." Die Kälte dieser Aussage ist der hochenergetische Antrieb dessen, was das Buch erzählt. Dessen Geschichte ist offen.
Und so erzählt Flitner mit offenem Visier, rücksichtslos gegen sich selbst, von allen Herrlichkeiten und Peinlichkeiten einer Herkunft, die hinter dem für Außenstehende perfekten Bild einer wohlsituierten Familie deren Scheitern versteckte. In jeder von Flitner erlebten engen Konstellation (außer in der mit Alice Schwarzer) lauern Abgründe: das todkranke Nachbarmädchen, die in patriarchalischen Ritualen gefangenen Großelternpaare, die sich wechselseitig betrügenden Eltern, die mit der Pubertät ihre Kleinmädchenideale verratenden Freundinnen. Und selbst im zur gemeinsamen Kinderzeit symbiotischen Verhältnis mit der Schwester ist die Entfremdung unvermeidlich: als die Schwester in ihrem Verhalten der Mutter immer ähnlicher wird. Aber das erkennt Flitner erst zu spät als Warnsignal. Ständig befragt sich die Autorin dazu, was sie hätte merken müssen.
Rahmen ihres Buchs ist der Tag des Todes im März 2017, sind jene vierzehn, fünfzehn Stunden zwischen dem Suizid und dem Anruf in Köln. Fortlaufend rekapituliert Flitner ihren damaligen Tagesablauf, all die Banalitäten, aber auch Gedanken an die Schwester, die nicht ans Telefon geht. Zwischen diesen Bruchstücken eines Schicksalstages stehen die Rückblicke aufs gemeinsame Leben - alle unter dem Zeichen dessen, worauf es hinauslaufen wird. Und gegen Ende sind wir eben wieder bei der Todesnachricht angekommen.
Trotzdem gibt es zuvor grandios komische Schilderungen, etwa die von der frühmorgendlichen Ruhestörung der Eltern, mit der diese sich am spätabends lärmenden Nachbarn rächen, von einer Begegnung mit Hannah Arendt in der New Yorker Zeit, die die neunjährige Bettina Flitner aber weniger faszinierte als eine mit Kermit dem Frosch, und vor allem vom Besuch der beiden erwachsenen Schwester in einem Pariser Kosmetikgeschäft. "Der Körper war auf die verschiedenen Regale verteilt: Es gab Regale für das Gesicht, für die Lippen, die Oberschenkel, den Po, die Zehen, die Fingernägel, die Augen, für die Hände, die Füße. Alles war Anti, alles war dagegen. Anti-rides, Anti-taches, Anti-chute, Anti-age. Gegen Falten, gegen Flecken, gegen Haarausfall, gegen Alter. Gegen trockene Haut, gegen fettige Haare, gegen raue Lippen. Nichts war für etwas. Wenn man alles auf einmal anwendet, dachte ich, ist man nicht mehr da." Und jemand, der all das anwendete, war die Schwester.
So ist das Schreckliche durchschossen vom Witzigen, und im höchstpersönlichen Einzelfall steckt auch ein Soziogramm der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Sechziger und Siebziger. Vor allem aber ist das Buch mitreißend geschrieben, ohne aufgesetzt emotional zu sein, und gäbe es nicht einige erstaunliche chronologische Unstimmigkeiten, müsste man es ein perfektes Memoir nennen. Begonnen wurde es in der Anfangszeit der Pandemie, als Bettina Flitner die Isolation zur Neugestaltung ihrer Website nutzen wollte. "Ich klappte meinen Laptop auf, öffnete eine neue Schreibdatei und begann mit dem ersten Satz dieser Aufzeichnungen. Es war einfach der richtige Moment." Es ist auch die richtige Lektüre. ANDREAS PLATTHAUS.
Bettina Flitner: "Meine Schwester".
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 315 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2022Was hätte man wann wissen müssen?
Glückliche Zeiten mit dunklen Wolken: In ihrem Buch über den Verlust ihrer Schwester
erweist sich die Fotografin Bettina Flitner als grandios lakonische Erzählerin
VON ELKE HEIDENREICH
Auf dem Cover zwei schöne Mädchen, die – in einen Spiegel? – schauen, uns, sich ansehen. Schwestern? Das Buch heißt „Meine Schwester“. Die eine hat einen Fotoapparat in der Hand. Sie hält den Moment fest. „Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit.“ Das ist Bettina Flitner, die Fotografin, und sie schreibt hier über sich, ihre Schwester, ihre Familie. Man schaut das verwirrend schöne Foto an, schlägt auf, und nach einer einzigen Seite ist man gebannt bis zum letzten Satz, da sagt die Schwester: „Damit du dich erinnerst.“
Es ist ein Erinnerungsbuch. An die Kindheit, an Wunden, Schmerzen, Verluste, an Freuden, Abenteuer, schöne Reisen, Wurzellosigkeit, die ewigen Umzüge mit den Eltern. Aber von Anfang an, von der ersten Seite an wissen wir: erst nahm sich die Mutter das Leben, dann die Schwester. Der Bruder ruft an, hatte die tote Schwester im Bad gefunden, konnten die Ärzte denn nichts mehr tun? „Die hatten nur noch das Fenster aufgemacht. Das machen sie immer so.“ Und im nächsten Satz die Erinnerung an einen Anruf 33 Jahre vorher, fast auf den Tag genau, da ist der Vater am Telefon: Die Mutter hat es getan, sie ist tot. Mit 47 Jahren. Dieses Buch hat Wucht und Zartheit, Emotion und Intelligenz, das Schöne, das Schreckliche, das ganze Leben fächert sich auf, und das in einer Sprache, die immer durchscheinend bleibt, schwebend, wenig Adjektive, es geht schnörkellos klar geradeaus, und der Leser kann nicht aufhören, einer so unsentimental und doch tief berührend erzählten Geschichte zu folgen, von Satz zu Satz, von Land zu Land, von Zeiten zu anderen Zeiten, denn es wird verzahnt, geschickt verschränkt und fast beiläufig erzählt. Die Vergangenheit steckt tief in der Gegenwart, wird auch die Zukunft begleiten, alles fließt ineinander, ist immer da, formt das eigene Leben, das eigene Gesicht. Und die Erzählerin weiß, dass, auch wenn man es nicht exakt benennen kann, alles immer schon nebeneinander da war – „Die Angst und der Mut. Die Trauer und die Freude. Sich alles zuzutrauen und sich doch als ein Nichts zu fühlen.“ Die Mutter, die Schwester. „Doch ich stehe immer mehr daneben. Ich stehe da nicht freiwillig. Aber ich richte mich da ein.“ Dieses Danebenstehen rettet womöglich ihr Leben.
Für Bettina Flitner, die Fotografin ist und sich hier bei aller Empathie als grandios lakonische Erzählerin mit klar strukturiertem Blick erweist, erklären sich erst in der Erinnerung plötzlich unverständliche Begebenheiten, werden Andeutungen verständlich, die depressive Mutter! Man hätte es doch wissen müssen! Die unsichere Schwester! Wo hat man sie verloren, wo nicht genug aufgepasst? Und wer ist die Erzählerin selbst, wo steht sie, warum wurde sie von den Depressionen, den Finsternissen in dieser Familie verschont? Der Schmerz und die Fragen holen Vergessenes wieder hervor, unwiederbringlich geglaubte Erinnerungen an glückliche Zeiten mit dunklen Wolken, die man in glücklichen Zeiten nicht sehen will. „Was? Hätte man? Wann? Wissen? Müssen?“ Und die Fragen nach dem letzten Mal- wer hat sie zuletzt gesehen, was hat sie zuletzt gesagt, gab es Andeutungen? „Wann hatte es eigentlich angefangen, dass meine Schwester es nicht ertrug, wenn die Dinge nicht mehr heil waren? Wenn sie ein Loch oder einen Riss oder einen Fleck hatten. Immer musste ein kaputter Gegenstand umgehend entsorgt werden. Reparieren war keine Option. Denn keine Reparatur war vollkommen.“
Und so entsorgte sich die Schwester, deren Seele nicht mehr zu reparieren war, letztlich selbst. Was aber hatte sie derart zerstört? Es gebe eine familiäre Vorbelastung, sagt ein Onkel, es liege in der Familie, eine genetische Komponente. Auch der Großvater, auch eine Tante, ein Onkel… „Du hast es offenbar nicht geerbt“, sagt der Vater beschwörend. Kann man „das“ denn wirklich erben oder schleicht es sich (auch?) aus falschen Weichenstellungen an? Die Schwestern hängen als Kinder eng zusammen und sind doch so verschieden, das zeigt sich beim Älterwerden. Und die Eltern haben sich auseinandergelebt: „Die ausgespuckten Worte und Gesten unserer Eltern kleben auf den Türklinken, dem Treppengeländer, den Möbeln, den Wänden. (…) Sie haben auch uns infiziert.“ Mutter und Schwester schreien, „es ist von einer gewalttätigen Verletztheit“. Und Flitner schreibt: „Meine Mutter und meine Schwester scheinen mir in diesen Momenten gut geschminkte, gut frisierte Schauspielerinnen, die im freien Fall die ganze schöne Bühnendekoration mit einreißen. Und am Ende unter den Trümmern begraben liegen.“ Flitner erzählt von den Trümmern und rekonstruiert die Lebensgebäude, sucht erste Risse, wann fing es an, kann so etwas denn grundlos passieren? Mir fällt zu diesem Buch ein unvergesslicher Satz aus Hans Henny Jahnns Theaterstück „Medea“ ein: „Kann grundlos so ein Gott des Lebens Teppich weben? Ist Qual ein Einfall wie ein buntes Muster und alles Händeringen nur ein Ornament?“
Er kann. Gott ist abwesend, in diesem Buch, in unserm Leben, des Lebens Teppich webt sich selbst aus Qual und Glück, und nichts ist ohne das andere denkbar. So wie Bettina Flitner in ihren Bildern Augenblicke einfängt, hält sie in diesem Buch auch Augenblicke fest, die zu einem Leben zusammenwachsen. Sie tut das mit entschlossener Nüchternheit, trotz ihrer spürbaren Erschütterung. Ihre Sprache ist klar und ohne jedes Pathos, kurze, feste Sätze. Aber auch: nichts Schönes vergessen. Und sei es nur eine 30stel Sekunde gewesen. Sie erzählt, wie sie fotografiert: mit dem unerschrockenen, klaren Blick, der weiß, dass jeder Moment einzigartig ist. Das braucht keine Verzierungen, es leuchtet auch so. Das Schreiben, sagt Flitner, hat sie gerettet und getröstet. Einmal träumt sie von ihrer Schwester und fragt sie im Traum: „Warum hast du das getan?“ Und die Schwester sagt: „Ich weiß es nicht.“
Bettina Flitner:
Meine Schwester.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
320 Seiten, 22 Euro.
„Ich drücke auf
den Auslöser.
Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang.
Eine Ewigkeit“:
die Fotografin und Autorin Bettina Flitner (links) und ihre Schwester,
der sie ihr Buch
gewidmet hat.
Foto: Bettina Flitner
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Glückliche Zeiten mit dunklen Wolken: In ihrem Buch über den Verlust ihrer Schwester
erweist sich die Fotografin Bettina Flitner als grandios lakonische Erzählerin
VON ELKE HEIDENREICH
Auf dem Cover zwei schöne Mädchen, die – in einen Spiegel? – schauen, uns, sich ansehen. Schwestern? Das Buch heißt „Meine Schwester“. Die eine hat einen Fotoapparat in der Hand. Sie hält den Moment fest. „Ich drücke auf den Auslöser. Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang. Eine Ewigkeit.“ Das ist Bettina Flitner, die Fotografin, und sie schreibt hier über sich, ihre Schwester, ihre Familie. Man schaut das verwirrend schöne Foto an, schlägt auf, und nach einer einzigen Seite ist man gebannt bis zum letzten Satz, da sagt die Schwester: „Damit du dich erinnerst.“
Es ist ein Erinnerungsbuch. An die Kindheit, an Wunden, Schmerzen, Verluste, an Freuden, Abenteuer, schöne Reisen, Wurzellosigkeit, die ewigen Umzüge mit den Eltern. Aber von Anfang an, von der ersten Seite an wissen wir: erst nahm sich die Mutter das Leben, dann die Schwester. Der Bruder ruft an, hatte die tote Schwester im Bad gefunden, konnten die Ärzte denn nichts mehr tun? „Die hatten nur noch das Fenster aufgemacht. Das machen sie immer so.“ Und im nächsten Satz die Erinnerung an einen Anruf 33 Jahre vorher, fast auf den Tag genau, da ist der Vater am Telefon: Die Mutter hat es getan, sie ist tot. Mit 47 Jahren. Dieses Buch hat Wucht und Zartheit, Emotion und Intelligenz, das Schöne, das Schreckliche, das ganze Leben fächert sich auf, und das in einer Sprache, die immer durchscheinend bleibt, schwebend, wenig Adjektive, es geht schnörkellos klar geradeaus, und der Leser kann nicht aufhören, einer so unsentimental und doch tief berührend erzählten Geschichte zu folgen, von Satz zu Satz, von Land zu Land, von Zeiten zu anderen Zeiten, denn es wird verzahnt, geschickt verschränkt und fast beiläufig erzählt. Die Vergangenheit steckt tief in der Gegenwart, wird auch die Zukunft begleiten, alles fließt ineinander, ist immer da, formt das eigene Leben, das eigene Gesicht. Und die Erzählerin weiß, dass, auch wenn man es nicht exakt benennen kann, alles immer schon nebeneinander da war – „Die Angst und der Mut. Die Trauer und die Freude. Sich alles zuzutrauen und sich doch als ein Nichts zu fühlen.“ Die Mutter, die Schwester. „Doch ich stehe immer mehr daneben. Ich stehe da nicht freiwillig. Aber ich richte mich da ein.“ Dieses Danebenstehen rettet womöglich ihr Leben.
Für Bettina Flitner, die Fotografin ist und sich hier bei aller Empathie als grandios lakonische Erzählerin mit klar strukturiertem Blick erweist, erklären sich erst in der Erinnerung plötzlich unverständliche Begebenheiten, werden Andeutungen verständlich, die depressive Mutter! Man hätte es doch wissen müssen! Die unsichere Schwester! Wo hat man sie verloren, wo nicht genug aufgepasst? Und wer ist die Erzählerin selbst, wo steht sie, warum wurde sie von den Depressionen, den Finsternissen in dieser Familie verschont? Der Schmerz und die Fragen holen Vergessenes wieder hervor, unwiederbringlich geglaubte Erinnerungen an glückliche Zeiten mit dunklen Wolken, die man in glücklichen Zeiten nicht sehen will. „Was? Hätte man? Wann? Wissen? Müssen?“ Und die Fragen nach dem letzten Mal- wer hat sie zuletzt gesehen, was hat sie zuletzt gesagt, gab es Andeutungen? „Wann hatte es eigentlich angefangen, dass meine Schwester es nicht ertrug, wenn die Dinge nicht mehr heil waren? Wenn sie ein Loch oder einen Riss oder einen Fleck hatten. Immer musste ein kaputter Gegenstand umgehend entsorgt werden. Reparieren war keine Option. Denn keine Reparatur war vollkommen.“
Und so entsorgte sich die Schwester, deren Seele nicht mehr zu reparieren war, letztlich selbst. Was aber hatte sie derart zerstört? Es gebe eine familiäre Vorbelastung, sagt ein Onkel, es liege in der Familie, eine genetische Komponente. Auch der Großvater, auch eine Tante, ein Onkel… „Du hast es offenbar nicht geerbt“, sagt der Vater beschwörend. Kann man „das“ denn wirklich erben oder schleicht es sich (auch?) aus falschen Weichenstellungen an? Die Schwestern hängen als Kinder eng zusammen und sind doch so verschieden, das zeigt sich beim Älterwerden. Und die Eltern haben sich auseinandergelebt: „Die ausgespuckten Worte und Gesten unserer Eltern kleben auf den Türklinken, dem Treppengeländer, den Möbeln, den Wänden. (…) Sie haben auch uns infiziert.“ Mutter und Schwester schreien, „es ist von einer gewalttätigen Verletztheit“. Und Flitner schreibt: „Meine Mutter und meine Schwester scheinen mir in diesen Momenten gut geschminkte, gut frisierte Schauspielerinnen, die im freien Fall die ganze schöne Bühnendekoration mit einreißen. Und am Ende unter den Trümmern begraben liegen.“ Flitner erzählt von den Trümmern und rekonstruiert die Lebensgebäude, sucht erste Risse, wann fing es an, kann so etwas denn grundlos passieren? Mir fällt zu diesem Buch ein unvergesslicher Satz aus Hans Henny Jahnns Theaterstück „Medea“ ein: „Kann grundlos so ein Gott des Lebens Teppich weben? Ist Qual ein Einfall wie ein buntes Muster und alles Händeringen nur ein Ornament?“
Er kann. Gott ist abwesend, in diesem Buch, in unserm Leben, des Lebens Teppich webt sich selbst aus Qual und Glück, und nichts ist ohne das andere denkbar. So wie Bettina Flitner in ihren Bildern Augenblicke einfängt, hält sie in diesem Buch auch Augenblicke fest, die zu einem Leben zusammenwachsen. Sie tut das mit entschlossener Nüchternheit, trotz ihrer spürbaren Erschütterung. Ihre Sprache ist klar und ohne jedes Pathos, kurze, feste Sätze. Aber auch: nichts Schönes vergessen. Und sei es nur eine 30stel Sekunde gewesen. Sie erzählt, wie sie fotografiert: mit dem unerschrockenen, klaren Blick, der weiß, dass jeder Moment einzigartig ist. Das braucht keine Verzierungen, es leuchtet auch so. Das Schreiben, sagt Flitner, hat sie gerettet und getröstet. Einmal träumt sie von ihrer Schwester und fragt sie im Traum: „Warum hast du das getan?“ Und die Schwester sagt: „Ich weiß es nicht.“
Bettina Flitner:
Meine Schwester.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
320 Seiten, 22 Euro.
„Ich drücke auf
den Auslöser.
Die Blende öffnet sich. Eine 30stel Sekunde lang.
Eine Ewigkeit“:
die Fotografin und Autorin Bettina Flitner (links) und ihre Schwester,
der sie ihr Buch
gewidmet hat.
Foto: Bettina Flitner
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider gefällt Julia Nachtmanns Lesung des Buches von Bettina Flitner. Die Schauspielerin verleiht dem Text um die Depression und den Selbstmord der Schwester und der Mutter der Autorin ein ganz eigenes Timbre, eine literarische Emphase, findet Schneider. Die autobiografische, laut Schneider auch nach dem Auserzählen weiterhin rätselhaft bleibende Geschichte um die dunklen Seiten einer bürgerlichen Kindheit und Jugend vermittelt dem Rezensenten die Vorzeichen eines depressiven Leidens, wie sie Angehörige wahrnehmen können, sowie die bittere Tatsache, dass niemand ohne fremde Hilfe aus einer schweren Depression herausfindet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Es hört sich übertrieben an, aber: Bettina Flitners Manuskript traf mich wie ein Blitzschlag.« Helge Malchow »Meine Schwester hat Wucht und Zartheit, Emotion und Intelligenz, das Schöne, das Schreckliche, das ganze Leben fächert sich auf, und das in einer Sprache, die immer durchscheinend bleibt, schwebend, wenig Adjektive, es geht schnörkellos geradeaus, und der Leser kann nicht aufhören, einer so unsentimental und doch tief berührend erzählten Geschichte zu folgen, von Satz zu Satz...« Elke Heidenreich, Süddeutsche Zeitung
Rezensentin Elke Heidenreich zeigt sich erschüttert und begeistert zugleich von Bettina Flitners "Erinnerungsbuch". Wie die Autorin, ausgehend vom Selbstmord ihrer Schwester, die eigene Familiengeschichte, Kindheit und Jugend rekonstruiert, um die feinen Risse zu erkennen, wo das vordergründige Familien-Glück transparent wird auf die Abgründe und die Qual, findet sie stark. Die unsentimentale Nüchternheit der Sprache und der klare Blick der Autorin erfüllen sie mit Hochachtung vor diesem Erzählen, das wuchtig und zart zugleich daherkommt, wie die Rezensentin feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH