Produktdetails
- Verlag: Eichborn
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783821851877
- Artikelnr.: 10192670
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.1999Das Lustschloss war ihr College
Goldig: Nell Kimballs Memoiren aus einem Bordell
Es war ein erfülltes Leben, was sich uns hier darstellt auf vierhundert Seiten Speckpapier (Pardon: "auf holz- und säurefreiem mattgeglättetem 100 Gramm pro Kubikmeter Bücherpapier"), und der Einband glänzt golden, wie um zu zeigen, dass auch das Handwerk, um das es hier geht, einen goldenen Boden hat. Jedenfalls für die blonde Heldin, die ihre Kunden Goldie nennen. Geboren 1854 in einem bornierten Dorf in Illinois, aufgewachsen unter den Peitschenhieben ihres bigotten Vaters, die sie in die Lüsternheit treiben, abgehauen von zu Hause mit fünfzehn, in Saint Louis von ihrem Lover sitzen gelassen, aus Not in ein Bordell eingetreten, wo sie schnell Karriere macht, bis einer ihrer Freier, ein erfolgreicher und gut verheirateter Fabrikant, sie aus dem Bordell holt und ihr ein Haus einrichtet - der "Traum des Mannes im mittleren Alter", der, im Berufs- und Familienleben vielfach gebunden, sich nur noch in den Armen seiner Geliebten "als der freie Mann sieht, dem die Welt offen steht . . . Aber immer diese Angst, länger als halb eins in ihren Armen zu bleiben, weil die Gattin sonst . . ."
Die Gattin entdeckt und beendet das sündhafte Glück nach zwei Jahren, Goldie wird aus Saint Louis vertrieben. Die nächsten drei Jahre erfüllt sie sich ihren neuen Wunsch, "wie die Leute zu sein": Sie heiratet einen New Yorker Bankräuber, der ihr, als er Opfer seines Berufes wird, einen noch ungeborenen Sohn und sonst nichts hinterlässt. Goldie gerät in Not, bleibt aber "anständig", bis das Glück sich wendet. Dank der ihr von jenem Fabrikanten übermachten Aktien hat sie genügend Kapital, um sich in New Orleans ein Bordell einzurichten, und zwar ein "erstklassiges" und natürlich "weißes": ein Zwanzig-Dollar-Haus, dem sie als Madame (vulgo: Puffmutter) vorsteht. Nein, es ist kein "Sündenpfuhl", wie die Heuchler sagen, viel mehr eine Art moralische Anstalt. Nach achtzehn Jahren muss das Etablissement, in dem leider nicht nur die gesitteten Herren verkehren, wegen eines Zwischenfalls schließen - trotz aller bis dahin gezahlten Schutz- und Schmiergelder. Sie zieht nach San Francisco und eröffnet dort bald ein noch luxuriöseres Bordell mit neuen Mädchen, um als gute Geschäftsfrau ein "natürliches Bedürfnis" mit einem "guten Produkt" zu bedienen ("Die Betten waren aus massivem Mahagoni . . ."), sich aber unnatürlichen Gelüsten, "dem Kram, der Arabern und Engländern zusagt", zu verweigern.
Nach drei Jahren kann sie nach New Orleans zurückkehren. Sie fährt über Chicago, besucht dort den berühmten Club der Schwestern Everleigh (50 Dollar), um sich über den neuesten Bordell-Luxus zu informieren: Spiegel an den Decken, vergoldete Badewannen, federnde Messingbetten (die Mahagoni-Mode scheint schon passé zu sein), Klingeln in den Boudoirs, Parfümzerstäuber und so weiter. "Und an manchen Abenden lassen wir aus Pappschachteln lebende Schmetterlinge in den Salons und Boudoirs aufsteigen." Unsere Südstaaten-Madame ist beeindruckt und sieht sich bestätigt in ihrer Überzeugung, für die Männer sei Sex "gar nicht der Antrieb, der ihr Leben am stärksten beherrscht. Am Hurenhaus gefällt ihnen die Vorstellung von Sünde und Freiheit." Und da Madame schon einmal beim Räsonieren ist, fügt sie hinzu: "Ich habe festgestellt, es gibt nur ein wirkliches, wahres, echtes Aphrodisiakum, das bei Männern wirkt, und das ist der menschliche Geist, unterstützt von den Botschaften, die ihm durch Augen und Tastsinn übermittelt werden." Eine bemerkenswerte Einsicht. Aber entspricht sie nicht der Botschaft der Liebesromane, die Madame immer wieder mit Hohn bedenkt?
In New Orleans, wo Madame wieder ihr Haus in der Basin Street bezieht (1901 bis 1917), hat sich inzwischen einiges verändert. Der Bordellbetrieb ist nicht mehr illegal (wenn man zahlt), was dazu führt, dass sich in den Häusern die Moral lockert. Die Mädchen sind "nicht mehr so adrett und höflich wie damals", sind auch nicht mehr so mollig, sie werden immer magerer, alles schrumpft - die Kunden verlangen es. Die Kunden verlangen jetzt auch die Peitsche ("le vice anglais") und überhaupt eine schrillere Erotik mit der neumodischen "Bordellmusik", dem Jazz. Aber erst der Weltkrieg setzt die überlieferten Maßstäbe ganz außer Kraft. Schon früher hatte Madame erlebt, dass in Zeiten der Angst - bei einer Epidemie oder drohendem Krieg - die Männer vor den Bordellen Schlange standen und drinnen sich gehen ließen. Doch seit 1914 geraten sie außer Rand und Band. "Sex wurde zu einer Art Krankheit", das Laster wird zur Seuche. Als Heilmittel verabreicht Madame jetzt erstmals auch farbige Mädchen. Tatsächlich aber verliert sie mit sechzig die Lust an der Lust. Im Jahr 1917 schließt sie ihr Haus. Voller Stolz darauf, ebenso erfolgreich gewesen zu sein "wie Mister Carnegie, Mister Roosevelt und Mrs. Astor", beschreibt sie ihr Leben und Wirken für die männliche Lust. Was geht es sie noch an, dass nach dem Krieg mit der "Vorstellung von Sünde" auch "ein Teil der Lust" verloren ging? "Jetzt sagen manche Leute, Lust wäre etwas Natürliches, sie wäre normal. Es gäbe keine Sünde."
Zu diesem "wäre" und "gäbe" sei angemerkt, dass die vorzügliche Übersetzung von Reinhard Kaiser mit rätselhaftem Eigensinn die indirekte Rede in den Irrealis versetzt. Soll damit den oft etwas hochtrabenden Ausführungen der Puffmutter ein ordinärer Touch verpasst werden? Vergeblich. Anstatt "Echtheit" zu suggerieren, macht der Konjunktiv II die Geschichte irreal. Es fällt in der Tat schwer zu glauben, dass eine Puffmutter, die von sich sagt, sie habe die Grammatik immer noch nicht begriffen, und ihre einzige Bildung verdanke sie dem Gespräch mit ihren Kunden - "Der Puff war mein College" -, dieses Buch geschrieben haben sollte, das nicht nur von einem beträchtlichen Puffmutterwitz zeugt, sondern auch mit gut recherchierten Exkursen über das Bordellwesen in verschiedenen amerikanischen Städten und vor allem über die Gefühle der Huren, die Wünsche der Freier, die Sorgen der Madame aufwartet - und mit einer Fülle aphoristisch zugespitzter Sentenzen: "Eine Hure . . . ist in mancher Beziehung einfach bloß eine besonders gute Frau." Oder (über Nostalgie): "Die Vergangenheit hatte immer einen rosigeren Arsch." Oder (über die "Natürlichkeit" der Boudoir-Arbeit): "Und wenn wir uns hinknieten, dann nicht zum Beten."
Andererseits gibt es in diesem Buch viele Widersprüche und offensichtlich falsche Zeitangaben, die fast für seine Echtheit sprechen. Oder wurden sie mit Absicht in den Text hineinredigiert? Ist der Herausgeber, Stephan Longstreet, vielleicht der wahre Autor (oder Plagiator)? In seinem Vorwort, das ebenso vage wie kurz ist, sagt er lediglich, er habe das Manuskript 1932 zum ersten Mal gesehen. Und die Autorin, hat er sie getroffen? Er verrät es nicht. Korrespondiert er mit ihr? Wir erfahren nur dies: "Vier Briefe an ihre letzte mir bekannte Adresse kamen mit dem Vermerk ,Verstorben' zurück." Sechsunddreißig Jahre später, 1970, gibt er das Manuskript heraus, angeblich vollständig und unredigiert. Aber wie lässt sich dann erklären, dass in diesem Buch mehrmals der Ausdruck "Ego" auftaucht - etwa so: "Eine Hure stärkt das Ego des Mannes" -, dessen Verwendung zwar in der Zeit der "Ego-Trips", als das Buch erschien, einer Puffmutter zuzutrauen war, aber keinesfalls in den frühen dreißiger Jahren, als die betreffenden Passagen (angeblich) geschrieben wurden.
Und was ist davon zu halten, dass die Bordell-Literatur mehrmals als ahnungslos oder verlogen zurückgewiesen wird, obwohl doch vieles von dem, was "Kimball" erzählt und räsoniert, aus ebendieser Literatur geschöpft zu sein scheint? Zwei Beispiele nur: Über die katholischen Huren heißt es, sie seien meistens sehr fromm gewesen, "man sah es ihnen an, wenn sie zur Beichte gegangen waren. Dann liefen sie mit großen Augen herum, waren höflich und genossen ihren Gnadenstand." Erinnert das nicht stark an Maupassants delikate (von Ophuls verfilmte) Novelle "La Maison Tellier"? Und stammen die wiederholten Hinweise auf die luststeigernde Wirkung der Angst vor Kriegen und Seuchen nicht aus Defoes Beschreibung der Pest in London? Merkwürdig ist auch, dass jene Dame aus der besten Gesellschaft, die heimlich in einem Bordell arbeitet, um ihren abwegigen Gelüsten zu frönen, wie die Vorlage zu Buñuels Film "Belle de Jour" wirkt, der aber schon drei Jahre vorher erschienen ist.
Die Frage nach "echt" und "falsch" klingt heute ziemlich naiv. Jeder weiß doch, dass eine Kompilation oder ein Pasticcio besser, wahrer, interessanter sein kann als ein "authentischer" Bericht. Warum dann die Camouflage? Weil das "Echte" teurer ist?
KARL MARKUS MICHEL
Nell Kimball: "Memoiren aus dem Bordell". Redigiert von Stephan Longstreet. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 408 S., geb., 49,50 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Goldig: Nell Kimballs Memoiren aus einem Bordell
Es war ein erfülltes Leben, was sich uns hier darstellt auf vierhundert Seiten Speckpapier (Pardon: "auf holz- und säurefreiem mattgeglättetem 100 Gramm pro Kubikmeter Bücherpapier"), und der Einband glänzt golden, wie um zu zeigen, dass auch das Handwerk, um das es hier geht, einen goldenen Boden hat. Jedenfalls für die blonde Heldin, die ihre Kunden Goldie nennen. Geboren 1854 in einem bornierten Dorf in Illinois, aufgewachsen unter den Peitschenhieben ihres bigotten Vaters, die sie in die Lüsternheit treiben, abgehauen von zu Hause mit fünfzehn, in Saint Louis von ihrem Lover sitzen gelassen, aus Not in ein Bordell eingetreten, wo sie schnell Karriere macht, bis einer ihrer Freier, ein erfolgreicher und gut verheirateter Fabrikant, sie aus dem Bordell holt und ihr ein Haus einrichtet - der "Traum des Mannes im mittleren Alter", der, im Berufs- und Familienleben vielfach gebunden, sich nur noch in den Armen seiner Geliebten "als der freie Mann sieht, dem die Welt offen steht . . . Aber immer diese Angst, länger als halb eins in ihren Armen zu bleiben, weil die Gattin sonst . . ."
Die Gattin entdeckt und beendet das sündhafte Glück nach zwei Jahren, Goldie wird aus Saint Louis vertrieben. Die nächsten drei Jahre erfüllt sie sich ihren neuen Wunsch, "wie die Leute zu sein": Sie heiratet einen New Yorker Bankräuber, der ihr, als er Opfer seines Berufes wird, einen noch ungeborenen Sohn und sonst nichts hinterlässt. Goldie gerät in Not, bleibt aber "anständig", bis das Glück sich wendet. Dank der ihr von jenem Fabrikanten übermachten Aktien hat sie genügend Kapital, um sich in New Orleans ein Bordell einzurichten, und zwar ein "erstklassiges" und natürlich "weißes": ein Zwanzig-Dollar-Haus, dem sie als Madame (vulgo: Puffmutter) vorsteht. Nein, es ist kein "Sündenpfuhl", wie die Heuchler sagen, viel mehr eine Art moralische Anstalt. Nach achtzehn Jahren muss das Etablissement, in dem leider nicht nur die gesitteten Herren verkehren, wegen eines Zwischenfalls schließen - trotz aller bis dahin gezahlten Schutz- und Schmiergelder. Sie zieht nach San Francisco und eröffnet dort bald ein noch luxuriöseres Bordell mit neuen Mädchen, um als gute Geschäftsfrau ein "natürliches Bedürfnis" mit einem "guten Produkt" zu bedienen ("Die Betten waren aus massivem Mahagoni . . ."), sich aber unnatürlichen Gelüsten, "dem Kram, der Arabern und Engländern zusagt", zu verweigern.
Nach drei Jahren kann sie nach New Orleans zurückkehren. Sie fährt über Chicago, besucht dort den berühmten Club der Schwestern Everleigh (50 Dollar), um sich über den neuesten Bordell-Luxus zu informieren: Spiegel an den Decken, vergoldete Badewannen, federnde Messingbetten (die Mahagoni-Mode scheint schon passé zu sein), Klingeln in den Boudoirs, Parfümzerstäuber und so weiter. "Und an manchen Abenden lassen wir aus Pappschachteln lebende Schmetterlinge in den Salons und Boudoirs aufsteigen." Unsere Südstaaten-Madame ist beeindruckt und sieht sich bestätigt in ihrer Überzeugung, für die Männer sei Sex "gar nicht der Antrieb, der ihr Leben am stärksten beherrscht. Am Hurenhaus gefällt ihnen die Vorstellung von Sünde und Freiheit." Und da Madame schon einmal beim Räsonieren ist, fügt sie hinzu: "Ich habe festgestellt, es gibt nur ein wirkliches, wahres, echtes Aphrodisiakum, das bei Männern wirkt, und das ist der menschliche Geist, unterstützt von den Botschaften, die ihm durch Augen und Tastsinn übermittelt werden." Eine bemerkenswerte Einsicht. Aber entspricht sie nicht der Botschaft der Liebesromane, die Madame immer wieder mit Hohn bedenkt?
In New Orleans, wo Madame wieder ihr Haus in der Basin Street bezieht (1901 bis 1917), hat sich inzwischen einiges verändert. Der Bordellbetrieb ist nicht mehr illegal (wenn man zahlt), was dazu führt, dass sich in den Häusern die Moral lockert. Die Mädchen sind "nicht mehr so adrett und höflich wie damals", sind auch nicht mehr so mollig, sie werden immer magerer, alles schrumpft - die Kunden verlangen es. Die Kunden verlangen jetzt auch die Peitsche ("le vice anglais") und überhaupt eine schrillere Erotik mit der neumodischen "Bordellmusik", dem Jazz. Aber erst der Weltkrieg setzt die überlieferten Maßstäbe ganz außer Kraft. Schon früher hatte Madame erlebt, dass in Zeiten der Angst - bei einer Epidemie oder drohendem Krieg - die Männer vor den Bordellen Schlange standen und drinnen sich gehen ließen. Doch seit 1914 geraten sie außer Rand und Band. "Sex wurde zu einer Art Krankheit", das Laster wird zur Seuche. Als Heilmittel verabreicht Madame jetzt erstmals auch farbige Mädchen. Tatsächlich aber verliert sie mit sechzig die Lust an der Lust. Im Jahr 1917 schließt sie ihr Haus. Voller Stolz darauf, ebenso erfolgreich gewesen zu sein "wie Mister Carnegie, Mister Roosevelt und Mrs. Astor", beschreibt sie ihr Leben und Wirken für die männliche Lust. Was geht es sie noch an, dass nach dem Krieg mit der "Vorstellung von Sünde" auch "ein Teil der Lust" verloren ging? "Jetzt sagen manche Leute, Lust wäre etwas Natürliches, sie wäre normal. Es gäbe keine Sünde."
Zu diesem "wäre" und "gäbe" sei angemerkt, dass die vorzügliche Übersetzung von Reinhard Kaiser mit rätselhaftem Eigensinn die indirekte Rede in den Irrealis versetzt. Soll damit den oft etwas hochtrabenden Ausführungen der Puffmutter ein ordinärer Touch verpasst werden? Vergeblich. Anstatt "Echtheit" zu suggerieren, macht der Konjunktiv II die Geschichte irreal. Es fällt in der Tat schwer zu glauben, dass eine Puffmutter, die von sich sagt, sie habe die Grammatik immer noch nicht begriffen, und ihre einzige Bildung verdanke sie dem Gespräch mit ihren Kunden - "Der Puff war mein College" -, dieses Buch geschrieben haben sollte, das nicht nur von einem beträchtlichen Puffmutterwitz zeugt, sondern auch mit gut recherchierten Exkursen über das Bordellwesen in verschiedenen amerikanischen Städten und vor allem über die Gefühle der Huren, die Wünsche der Freier, die Sorgen der Madame aufwartet - und mit einer Fülle aphoristisch zugespitzter Sentenzen: "Eine Hure . . . ist in mancher Beziehung einfach bloß eine besonders gute Frau." Oder (über Nostalgie): "Die Vergangenheit hatte immer einen rosigeren Arsch." Oder (über die "Natürlichkeit" der Boudoir-Arbeit): "Und wenn wir uns hinknieten, dann nicht zum Beten."
Andererseits gibt es in diesem Buch viele Widersprüche und offensichtlich falsche Zeitangaben, die fast für seine Echtheit sprechen. Oder wurden sie mit Absicht in den Text hineinredigiert? Ist der Herausgeber, Stephan Longstreet, vielleicht der wahre Autor (oder Plagiator)? In seinem Vorwort, das ebenso vage wie kurz ist, sagt er lediglich, er habe das Manuskript 1932 zum ersten Mal gesehen. Und die Autorin, hat er sie getroffen? Er verrät es nicht. Korrespondiert er mit ihr? Wir erfahren nur dies: "Vier Briefe an ihre letzte mir bekannte Adresse kamen mit dem Vermerk ,Verstorben' zurück." Sechsunddreißig Jahre später, 1970, gibt er das Manuskript heraus, angeblich vollständig und unredigiert. Aber wie lässt sich dann erklären, dass in diesem Buch mehrmals der Ausdruck "Ego" auftaucht - etwa so: "Eine Hure stärkt das Ego des Mannes" -, dessen Verwendung zwar in der Zeit der "Ego-Trips", als das Buch erschien, einer Puffmutter zuzutrauen war, aber keinesfalls in den frühen dreißiger Jahren, als die betreffenden Passagen (angeblich) geschrieben wurden.
Und was ist davon zu halten, dass die Bordell-Literatur mehrmals als ahnungslos oder verlogen zurückgewiesen wird, obwohl doch vieles von dem, was "Kimball" erzählt und räsoniert, aus ebendieser Literatur geschöpft zu sein scheint? Zwei Beispiele nur: Über die katholischen Huren heißt es, sie seien meistens sehr fromm gewesen, "man sah es ihnen an, wenn sie zur Beichte gegangen waren. Dann liefen sie mit großen Augen herum, waren höflich und genossen ihren Gnadenstand." Erinnert das nicht stark an Maupassants delikate (von Ophuls verfilmte) Novelle "La Maison Tellier"? Und stammen die wiederholten Hinweise auf die luststeigernde Wirkung der Angst vor Kriegen und Seuchen nicht aus Defoes Beschreibung der Pest in London? Merkwürdig ist auch, dass jene Dame aus der besten Gesellschaft, die heimlich in einem Bordell arbeitet, um ihren abwegigen Gelüsten zu frönen, wie die Vorlage zu Buñuels Film "Belle de Jour" wirkt, der aber schon drei Jahre vorher erschienen ist.
Die Frage nach "echt" und "falsch" klingt heute ziemlich naiv. Jeder weiß doch, dass eine Kompilation oder ein Pasticcio besser, wahrer, interessanter sein kann als ein "authentischer" Bericht. Warum dann die Camouflage? Weil das "Echte" teurer ist?
KARL MARKUS MICHEL
Nell Kimball: "Memoiren aus dem Bordell". Redigiert von Stephan Longstreet. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 408 S., geb., 49,50 DM.
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"Ganz schön unsentimental, frech und philosophisch; Nell Kimbells Memoiren aus dem Bordell sind ein derbes und detailreiches Sittengemälde aus dem goldenen Zeitalter der Bordelle, als die Doppelmoral noch etwas galt, Ehen im Himmel geschieden wurden und die Hurenhäuser den Männern ein zweites Zuhause waren, eine Einrichtung mit Tradition." (Stern)