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4 Kundenbewertungen

In einem griechischen Bergdorf am Hang des kleinasiatischen Olymp fing alles an. Ein junger Mann und eine junge Frau, die Geschwister Eleutherios und Desdemona Stephanides, fliehen vor den Türken nach Smyrna und, als die Stadt brennt, weiter nach Amerika. Es ist das Jahr 1922. Auf dem Schiff, weit weg von allem, erschaffen sie sich als einander Unbekannte neu: Sie heiraten, verbringen ihre erste gemeinsame Nacht in einem Rettungsboot.

Produktbeschreibung
In einem griechischen Bergdorf am Hang des kleinasiatischen Olymp fing alles an. Ein junger Mann und eine junge Frau, die Geschwister Eleutherios und Desdemona Stephanides, fliehen vor den Türken nach Smyrna und, als die Stadt brennt, weiter nach Amerika. Es ist das Jahr 1922. Auf dem Schiff, weit weg von allem, erschaffen sie sich als einander Unbekannte neu: Sie heiraten, verbringen ihre erste gemeinsame Nacht in einem Rettungsboot.
Autorenporträt
Jeffrey Eugenides, geb. 1960 in Detroit/Michigan lebt heute mit Frau und Tochter in Berlin, wohin ihn Stipendien des DAAD und der American Academy gelockt haben. Sein Debütroman 'The Virgin Suicides' (dt. 'Die Selbstmord-Schwestern') erregte weltweit Aufsehen und wurde im Jahr 2000 von Sofia Coppola verfilmt. Wie Jonathan Franzen rechneten ihn Kritiker in der Zeitschrift 'The New Yorker' unter die 'Twenty Writers for the 21st Century' und in der Zeitschrift Granta unter die 'Best Young American Novelists'. Jeffrey Eugenides wurde 2003 mit dem 'Welt"-Literaturprei' ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie gewohnt höre man die künstlerische Ambition von Sprecher Ulrich Matthes vom ersten Satz an, lobt Rezensent Uwe Ebbinghaus. Doch obwohl Matthes seiner Ansicht nach mühelos die "seltene Androgynität" ausstrahlt, der Jeffrey Eugenides' Doppelrolle bedarf, hat Ebbinghaus bald den Eindruck, dass sich Matthes diesmal ein bisschen zuviel vorgenommen hat. Der Hauptmangel seiner Einlesung besteht für den Rezenten in der Überschätzung der "erzählerischen Ironie" des Textes. Zwar komme Eugenides' "langer, souveräner Erzählatem" Matthes prinzipiell zugute, der sich denn auch keine "sinnbefördernde Pause" entgehen lasse. Gelegentlich jedoch lese Matthes "Eugenides wie Nabokov" und versuche, Zwischentöne auch an jenen Stellen zum Klingen zu bringen, wo sie gar nicht vorhanden seien. Hier klingt der Vorleser für die Ohren des Rezensenten bisweilen doch ein wenig outriert, werden Gradlinigkeit und Unverstelltheit des Erzählers aus seiner Sicht verwässert. Bestnoten allerdings bekommt diese Einlesung für die dialogdominierten Handlungspassagen, in denen Matthes für den Rezensent "von einer Verständigkeit und einer sonoren Eingängigkeit ist", die ihresgleichen suche.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2003

Bügelbrett mit Bartwuchs
Kein kleiner Unterschied: Jeffrey Eugenides' Roman "Middlesex"

Middlesex" der mit viel Spannung erwartete zweite Roman des in Berlin lebenden amerikanischen Schriftstellers Jeffrey Eugenides, erzählt von einem Mädchen, das wie die Muse des Erzählens Calliope heißt, im Schülertheater den blinden Seher Teiresias spielt, später als Gott Hermaphroditos seinen zweigeschlechtlichen Unterleib gegen Geld vorführt und schließlich als männlicher Erzähler namens Cal seine Gene dafür verantwortlich macht, daß er "manchmal ein wenig homerisch" klingt. Ein bißchen viel Antike, könnte man meinen.

Aber das ist noch längst nicht alles. Das Schicksal einer griechischstämmigen Familei in der Türkei und das Massaker von Smyrna im Jahr 1922, die Auswanderung der Geschwister Stephanides über den Atlantik, die Autoindustrie von Ford bis Cadillac als Chiffre Amerikas, der Zweite Weltkrieg und Vietnam, Rassenunruhen und Black-Muslim-Bewegung, Watergate, die Hippiezeit und die beginnende Gender-Debatte - all dies wird auf 750 Seiten mal mehr, mal weniger ausführlich behandelt. Damit der Roman über der Fülle seiner Gegenstände nicht aus allen Nähten platzt und der Leser sich nicht schon nach zweihundert Seiten fühlt wie ein Reiter, der aus dem Sattel gehoben wurde und nun von einem durchgegangenen Gaul mitgeschleift wird, hat der Autor gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Zu ihrer Vorbereitung waren beinahe acht Jahre nötig, so lange hat Eugenides nach eigenem Bekunden an "Middlesex" gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt.

Ein Roman, der die "Achterbahnfahrt eines Gens durch die Zeit" darstellen soll, wie auf der zweiten Seite angekündigt wird, zugleich die Geschichte einer griechischen Familie über mehrere Generationen schildert und die bewegende Suche eines Heranwachsenden nach seiner geschlechtlichen Identität beschreibt, bedarf vor allem einer belastbaren und glaubwürdigen Erzählperspektive. Eugenides wählt einen Ich-Erzähler, der bei Bedarf zum allwissenden Erzähler wird und durch Zeit und Raum zu reisen vermag, wie es ihm beliebt. Dank der "präfetalen Erzählperspektive", die den intimen Blick auch auf Ereignisse vor der eigenen Geburt erlaubt, ist es von Homer zu Calliope Stephanides nur ein Katzensprung.

Tatsächlich kokettieren der Autor und sein Held ganz gern mit ihrer griechischen Abstammung, aber die Verweise auf das Ursprungsland der klassischen Mythologie haben ihren tieferen Sinn. Nehmen wir nur die Episode im Schultheater. Als Callie, eine flachbrüstige Bohnenstange, das typische "Bügelbrett", wie der mitleidlose Fachausdruck jener Jahre lautete, die Rolle des Teiresias übernimmt, weiß sie nur, daß er der Seher von Theben war. Ein blinder, auf seinen Stock gestützter alter Mann im weiten Umhang - keine sehr attraktive Rolle für ein vierzehnjähriges Mädchen. Aber im Verlauf der Theaterproben lernt Callie von einer ihrer Mitspielerinnen, der koketten Darstellerin der Antigone, nicht nur, wie man einen Blinden spielt - nicht stolpernd und tastend, vielmehr still stehend, lauschend, mit den Ohren sehend -, sondern sie erfährt auch, daß sie wesentlich mehr mit Teiresias gemein hat, als sie sich hätte träumen lassen.

Wie hatte Teiresias eigentlich sein Augenlicht verloren? Ovid erzählt, daß Zeus und Hera, das Urbild aller zänkischen Ehepaare, in Streit darüber gerieten, welches Geschlecht in der Liebe mehr Vergnügen empfinde, Mann oder Frau. Als Schiedsrichter wurde der Nymphensohn Teiresias berufen, der als einziges Lebewesen aus eigener Erfahrung sprechen konnte: Als Mann geboren, wurde er für sieben Jahre in eine Frau verwandelt und kehrte dann in seinen Männerkörper zurück. Als Teiresias Zeus recht gab und sogar behauptete, das Vergnügen der Frau sei neunmal größer als das des Mannes, nahm ihm die erzürnte Hera das Augenlicht. Zeus, unfähig, die Tat der Gattin rückgängig zu machen, schenkte dem Geblendeten zum Trost die heikle Gabe der Prophetie und ein langes Leben.

Als Callie zum ersten Mal in ihrem Leben spürt, daß sie einen anderen Menschen begehrt, hält sie die kleine rothaarige Antigone in den Armen und trägt das Kostüm des Teiresias. Und wenn sie später Antigones Körper erforscht, im Ferienhaus, nachts, Callie mit der Konzentration eines Uhrmachers, die Geliebte schlafend und wach wie Kleists Marquise von O., erforscht sie zugleich den eigenen Körper, der ihr nicht weniger unbekannt ist. Eine Kettenreaktion beginnt, an deren Ende ein Unfallarzt enthüllt, was Callie ahnte, ohne es begreifen zu können: Sie ist keine Frau, die Frauen liebt, sondern ein Mann in einem Frauenkörper. So ungefähr jedenfalls. Der tatsächliche biologische Sachverhalt ist nämlich nicht nur für Callie und einen gewöhnlichen Ambulanzarzt, sondern auch für den Leser viel zu kompliziert, zumindest über die ersten paar hundert Seiten. Spätestens nach der Lektüre der Akte, die der New Yorker Sexologe Dr. Luce über Callie anlegt und die im Buch vollständig zitiert wird, gehen uns solche Fachbegriffe wie "5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphrodit" geläufig über die Lippen. Die Augen geöffnet aber hat Calliope erst ihre Rolle als blinder Seher Teiresias. Er ist zugleich der Kronzeuge des zweigeschlechtlichen Erzählers dafür, daß sein Problem nicht ganz neu ist - nicht in der Welt und nicht in der Literatur.

Die Reise des Gens, das für Calliopes Zustand verantwortlich ist, nimmt ihren Ausgang neun Generationen vor ihrer Geburt, also vor rund 250 Jahren. Etwa zur gleichen Zeit, als in einem abgelegenen griechischen Dorf die Genmutation sich vermutlich als Folge von Inzest herausbildet, erhebt im weit entfernten England ein anderer Erzähler, nämlich Tristram Shandy, seinen Eltern gegenüber den Vorwurf, sie hätten sich bei seiner Zeugung "nicht gehörig vor Augen gestellt, wie viel von dem abhänge, was sie gerade taten". Shandy vertritt die Ansicht, daß die während der Zeugung herrschenden Launen und Stimmungen Einfluß auf das gesamte Leben des Kindes haben: "Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als manche von euch glauben mögen."

Eugenides, der Nabokov und Tolstoi sowie Philip Roth und Saul Bellow zu den Autoren zählt, die ihn beeinflußt haben, verdankt manches in seinem Buch dem "Tristram Shandy" des Lawrence Sterne, einem erzählerischen Experiment, das zahlreiche Strukturelemente des modernen Romans vorwegnahm und als Vorläufer der Postmoderne gilt. Cal berichtet nicht nur wie Tristram detailliert über die eigene Zeugung und andere Ereignisse, die vor seiner Geburt stattfanden, sondern er orientiert sich auch an Sternes eigentümlichem Strukturprinzip, das zeitversetzte Erzählsequenzen ineinanderschachtelt.

Da ist zunächst das Berlin der Gegenwart, wo Cal als Angehöriger der amerikanischen Botschaft ein einsames Leben führt, das ihm Maßanzüge, teure Zigarren und handgenähte Schuhe nicht recht versüßen können. Während Cal die Geschichte seines Lebens und seiner Familie niederschreibt, also das Buch verfaßt, das wir lesen, entwickelt sich eine vorsichtige Liebesziehung zu einer asiatisch-amerikanischen Fotografin. Sie ist das vorerst letzte Glied einer Kette von fehlgeschlagenen Versuchen, eine Beziehung aufzubauen. Cal nennt das die "Routine meiner unvollständigen Verführungen", denn bevor es Ernst wird, macht er sich regelmäßig aus dem Staub. Und so ist die pubertäre Episode mit der kleinen Antigone noch für den vierzigjährigen Kulturattaché die einzige sexuelle Erfahrung, die ihm glückliche Momente gewährte, auch wenn sie in einer Katastrophe endete. Cal verschweigt den Namen seiner großen Liebe und nennt sie nach Buñuels Filmklassiker nur "das obskure Objekt".

Die Romanze zwischen der fohlenhaften Callie, die verzweifelt darauf wartet, daß ihr Busen sich entwickelt und ihre Menstruation einsetzt, und statt dessen gegen aufkommenden Bartwuchs kämpfen muß, und der extrovertierten kleinen Diva mit roten Haaren gehört zu den bewegendsten Episoden dieses Buches, das ebenso viele anrührende wie komische Seiten hat. Dies gilt schon für die Familiengeschichte, die zweite Erzählebene, die in der Türkei beginnt, wo Desdemona und Eleutherios Stephanides Seidenraupen züchten, bis sie 1922 vor den Kriegshandlungen zwischen Türken und Griechen fliehen. Auf der Überfahrt findet eine folgenschwere Transformation statt: Als Bruder und Schwester verlassen Desdemona und Lefty die Heimat, als Mann und Frau kommen sie in der Neuen Welt an. Als ihr Sohn Milton auch noch seine Cousine Tessie heiratet, ist für das mutierte Gen die Stunde gekommen.

Calliope wird als Mann geboren, dessen primäre Geschlechtsorgane jedoch weiblich wirken. Das äußerst seltene Krankheitsbild, das Eugenides für seinen Erzähler ausgesucht hat, existiert tatsächlich und macht sich erst während der Pubertät bemerkbar. Deshalb wird Cal als Calliope erzogen, womit das alte Rätsel im Raum steht, was prägender wirkt: Vererbung und Biologie oder Erziehung und soziale Umwelt. Der Roman beleuchtet diese Frage aus vielen Winkeln, ohne sie zu entscheiden.

Als Callies Leidensgeschichte sich zuträgt, in den frühen siebziger Jahren, galt auch die sexuelle Identität als stark milieubedingt, der Unterschied zwischen Mann und Frau als Frage der Sozialisation. Jetzt schlägt das Pendel zurück in die biologische Richtung, und den Genen wird schicksalhafte Macht zugeschrieben. Cal konstatiert einmal, daß vermutlich keine andere Zeit ihm so günstige Rahmenbedingungen geboten hätte wie die bis zur völligen Orientierungslosigkeit liberalen Siebziger. Aber Callies Eltern stammten aus einem anderen Jahrzehnt.

Wie in "Die Korrekturen", dem Roman seines Freundes und Altersgenossen Jonathan Franzen, überstehen auch in "Middlesex" die Familienbande am Ende alle Wirren, nur die Väter müssen dran glauben. Wie zuvor der Eisenbahningenieur Alfred Lambert, der von Bord eines Ozeandampfers in die Tiefe fällt, lernt nun auch Milton Stephanides, Besitzer der Hercules-Hotdog-Kette am Ende seines Lebens das Fliegen. Er segelt nach einer wilden Verfolgungsjagd mit seinem Schwager in seinem Cadillac von einer Brücke. Dies ist nur ein skurriles Detail dieses witzigen, berührenden und lebensklugen Buches - und nur eine von vielen Parallelen zu Franzens Roman. Denn was ist etwa Dr. Luces' Vorschlag, Callie zu operieren, anderes als der Versuch einer chirurgischen Korrektur an einer Laune der Natur?

Gegen Ende eines Gesprächs, das Eugenides und sein Freund und früherer Student Jonathan Safran Foer für ein amerikanisches Magazin miteinander geführt haben, macht Eugenides ein - deutlich ironisch gefärbtes - Geständnis. "Calliope Stephanides, der vierzehnjährige männliche Pseudohermaphrodit, Schülerin einer Mädchenschule - c'est moi." Und tatsächlich: Das ist so wahr und so falsch wie Flauberts Behauptung, er sei Emma Bovary.

Jeffrey Eugenides: "Midlesex". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 735 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2003

Fischmensch im Designeranzug
Genetische Unordnung und frühes Leid: Heute erscheint Jeffrey Eugenides’ äußerst ambitionierter, aber durchaus unterhaltsamer Familienroman „Middlesex”
Jede Metropole kennt den Typus des überangepassten Zugewanderten aus der Provinz: Immer ist er aufs Genaueste orientiert über die angesagten Orte in der Stadt, stets aufs sorgfältigste gestylt. Er weiß besser als jeder andere, ob schwere Brille zur Trainingsjacke noch geht, ob man Puma- Schuhe an Zegna-Anzügen tragen darf, und zur Zeit arbeitet er wieder hart an dem leicht angeschmuddelten Haarrand, der ihm ins schräg gestreifte Hemd fällt. Lernt man einen solchen supercoolen Menschen näher kennen, entpuppt er sich oft als sympathischer, sogar gemütvoller Zeitgenosse, der seinen heimatlichen Dialekt kaum verleugnen kann und treu sorgend mit seiner Freundin zusammenlebt. Je mehr so ein angenehmer Mitmensch aus dem Zegna-Anzug herauskommt, umso interessanter und klüger wirkt er im Gespräch. Selbst seine anstrengende Kostümierung beginnen wir zu lieben, ist sie doch in Wirklichkeit nichts als ein subtiler Tribut an das Schwarzwalddorf, das er hinter sich gelassen hat.
Einem solchen netten Menschen gleicht der monatelang mit großem Getöse vorangekündigte, soeben mit dem Pulitzerpreis gekrönte, nun auf deutsch vorliegende Roman „Middlesex” des 43 Jahre alten amerikanischen Erzählers Jeffrey Eugenides. „Middlesex” ist angetan mit allen Insignien jenes postpostmodernen Erzählens, dessen Epoche vor zwei Jahren mit Jonathan Franzens „Korrekturen” begonnen haben soll – eines Erzählens, das allerhöchstbewusst die Ironie wieder hinter sich ließ und das klassische Erzählen ähnlich lässig übt wie die jüngste bildende Kunst die figurative Malerei.
„Middlesex” spielt virtuos mit den handwerklichen Tricks klassischer und moderner Erzählkunst (Perspektivenwechsel, Rückblenden, filmische Schnitte, Wechsel von Metapher zur Metonymie und zurück) – ständig sagt der Roman: Das können wir auch noch! Er ist durchwirkt von einem mythologischen Motivgeflecht, er zitiert darüber hinaus die allerneueste Wissenschaft, die Biogenetik, er greift ungescheut die großen Themen des amerikanischen zwanzigsten Jahrhunderts auf – von der Autoindustrie bis zu den Rassenkonflikten –, und ist vor allem eins: die berührende Geschichte eines Außenseiters und dessen Familie.
Das überambitionierte Drumherum wird vor allem den Kenner irritieren, denn ihm verrät es mangelnden Kunstsinn, böse gesagt: eine am Ende doch ziemlich uncoole Geschmacksunsicherheit. Den begierigen Leser, den die sehr unterhaltsame Geschichte fesselt, wird es eher weniger stören. Ihm wird dagegen auffallen, dass unter dem postpostmodernen Outfit nicht einfach ein klassischer Roman nach menschlichem Maß herauskommt (wie unser Provinzler unterm Zegna-Anzug), sondern ein seltsam schillerndes Mischwesen, oben Mensch, unten Fisch, oben Familienroman, unten außenseiterisches Leidensgeständnis. Ein komplexes Gebilde also: Sympathischer Fischmensch im Designeranzug! Lernen wir ihn kennen und lieben.
Zola lässt grüßen
Der Ich-Erzähler heißt Cal und hieß einmal Calliope. Er ist das, was man seit alters einen Hermaphroditen nannte: zunächst wuchs er als Mädchen auf, bevor im Alter von vierzehn die genetische männliche Natur den Sieg davontrug. Das Postpostmoderne daran ist nun, dass die Muse Kalliope im griechischen Mythos fürs Erzählen – das Epos – zuständig ist, dass auch der blinde Seher Teiresias in der griechischen Tragödie zweigeschlechtlich gewesen sein soll (die junge Calliope spielt in einer Schüleraufführung der „Antigone” selbstredend den Teiresias), und dass der übergeschlechtliche, „sehende” Ich- Erzähler daher eine mythologisch hochbewusste Wiedergeburt des klassischen allwissenden Autors mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten darstellt. Anstrengend. Berührend aber ist der menschliche Fall, der unter diesem Konstrukt zum Vorschein kommt: die mit allem denkbaren medizinischen und psychologischen Realismus dargestellte Geschichte eines Außenseiters, dessen primäre Geschlechtsorgane weiblich wirken, während die darunter liegende genetische, also auch hormonelle Natur bis hin zur sexuellen Orientierung männlich ist.
Calliope ist ein männliches Wesen, das sich dessen zunächst selbst nicht bewusst ist und das die Erziehung zu einer Frau machen soll. Damit kommt ein uraltes Thema auch der Literatur ins Spiel, die Frage nach Milieu und Vererbung, das Problem von Natur und Geschichte, von Zufall und Notwendigkeit. Émile Zola hatte einst das Zusammenspiel zwischen Gesellschaft (Milieu) und Vererbung (bei ihm „Degeneration”) zum tragenden, nämlich „naturgesetzlichen” Prinzip seines großen, die ganze französische Gesellschaft um 1860 umspannenden Zyklus der Rougon-Macquart gemacht. Da Cal/Calliope nach den erblichen Wurzeln seiner genetischen Absonderlichkeit sucht, kommt er ganz zwanglos in ein Zolasches Fahrwasser und damit auf die hohe See des klassischen Familienromans, der sich über mehrere Generationen erstreckt.
Cool und postpostmodern daran ist zweierlei: Erstens der hochbewusste Rückgriff auf ein historisch scheinbar so abgetanes Genre wie die Naturgeschichte einer Familie; und zweitens die avancierte Neuformulierung dieses Genres im Code der allerneuesten Biogenetik. Eugenides hat präzise recherchiert, wir erfahren jede Menge über die erbbiologischen Voraussetzungen des Hermaphroditismus. Zu ihnen zählt gehäuftes Heiraten unter nahen Verwandten, wie es in bevölkerungsarmen ländlichen Zuständen nicht selten vorkommt. Cal – auch das motiviert den geballten Einsatz klassischer Mythologie – entstammt einer griechischen Einwandererfamilie, die 1922 aus dem von den Türken zerstörten Smyrna nach Detroit kam. Die abenteuerlichen Umstände dieser Flucht erlaubten es Cals Großeltern, einem Geschwisterpaar, eine inzestuöse Ehe einzugehen. Auch in der nachfolgenden Generation wird nahverwandschaftlich geheiratet: Cals Eltern sind Cousin und Cousine.
So das Gerüst. Es enthält in seinen verschiedenen Ebenen – Mythos, naturalistischer Roman, moderne Biogenetik – eine Stufenfolge menschlichen Wissens. Eugenides hat sein Konstrukt so fein verstrebt, dass man für einen präzisen Aufriss die langen Bleiwüsten angelsächsischer Book-Reviews benötigen würde. Für deutsche Leser genüge der Hinweis, dass Cal seine Geschichte in Berlin, der einst geteilten, nun vereinigten Stadt, aufschreibt, woraus sich die Parallele zu Zweiheit und Einheit der menschlichen Geschlechternatur gewinnen lässt. Und aufgewachsen ist Cal in einer Straße namens „Middlesex”. Und so weiter. – Doch genug davon.
Der lesbare Kern von „Middlesex” ist der naturalistische Roman, der in ihm steckt, in oft virtuos formulierter, über weite Strecken äußerst komischer und bewegender Gestalt. Er führt uns in die kleine farbige Welt einer griechischen Einwanderergemeinde, von der getragen sich Cals Großeltern und Eltern wie so viele andere Immigranten durch zähe Arbeit und unerschütterlichen Mut nach oben schaffen. Der erste Boom der fordistischen Autoindustrie mit ihrem puritanischen Arbeitsethos, die Prohibition mit ihrer Schattenwelt aus Gangstertum, die Depression, der Zweite Weltkrieg, die Zeit der Rassenunruhen ziehen in lebenden Bildern am Leser vorbei. 1922 setzen diese Bilder aus der amerikanischen Vergangenheit ein – im selben Moment, in dem die Vereinigten Staaten zum ersten Mal als Weltmacht im Alten Europa aufgetreten waren. Eugenides‘ Gemälde sind geeignet, die aktuellen Spannungen zu lindern: zu komisch gemischt, zu unvollkommen, zu menschlich erscheint dieses Amerika, um wirklich Angst zu machen.
Cals Geschichte verquickt sich mit dem familiären Zeitenstrom in den frühen siebziger Jahren. Calliope ist Jahrgang 1960, also beginnt die Pubertät in der späten Hippiezeit. Die Gelegenheit, sein Determinismus-Thema mit dem Zeithintergrund energisch zu verknoten, lässt Eugenides sich nicht entgehen. Um 1970 galt die Natur nichts, die Gesellschaft dafür alles – so sollte Emanzipation möglich sein. Als endlich 1974 Cals „wahre” Natur erkannt wird (nämlich ihre trompe l’oeil-haften Geschlechtsorgane durchschaut sind), gerät sie an den New Yorker Sexologen Dr. Luce. Schon dieser Name macht überdeutlich, dass es sich nicht um einen Lichtbringer handeln kann. Dr. Luce sieht zwar am Chromosomenbefund, dass Calliope genetisch ein Mann mit nur scheinbar weiblichen Geschlechtsorganen ist; aber er will, dass die bisherige Erziehung die Oberhand behält: Cal soll eine Frau bleiben, das Milieu auch hier alles gewesen sein.
Der Unfall des Milthiades
Cal entscheidet sich für die Natur. Sie/er zieht Jungenskleider an und flieht quer über den Kontinent nach San Francisco. Dort wieder Zeitbilder: Drogenpenner, Prostitution – Cal spielt in einer Peepshow den Gott Hermaphroditos –, frühe Genderbewegung. Seine stärksten Momente hat der Roman in der quälenden Phase vor der Befreiung. Calliope spürt immer deutlicher, dass etwas nicht stimmt mit ihr, versteckt sich immer tiefer hinter einer zeittypischen Haarmähne. Dann verliebt sie sich in eine Mitschülerin – scheinbar aussichtslos, doch nicht ganz ohne Entgegenkommen der Angebeteten. Das ist der Roman im Roman, sein glibberig funkelnder Fischschwanz: eine sehr amerikanische Adoleszenzgeschichte, voll der schmerzhaften Poesie des Heranwachsens.
Postpostmodern ist die zirkushafte Wendigkeit, mit der Eugenides seinen eigentlich rührenden familiären Stoff zum Glitzern bringt. Cals Vater Milton – ursprünglich ganz hellenisch Milthiades – wird für manchen Leser der Favorit sein. Er ist inmitten seiner noch ganz modernen hippiesken Romanumwelt ein rechtschaffener Reaktionär, ein hartleibiger Geschäftsmann – Chef der HerkulesImbiss-Kette, Nixonanhänger, Kirchenfeind, ein großzügiger Geizkragen, der sich in seinem Aufsteigerwahn jedes Jahr das neueste Modell des Cadillac leistet – eine enorm komische Figur, die Eugenides bei einem Autounfall ums Leben kommen lässt.
Milton fliegt in seinem letzten Wagen nach einem Zusammenstoß etliche Meter über die Straße, der Autor aber lässt genau in diesem Moment seinen Film einfach mehrere Sätze lang stehen und mit ihm Milton in seinem schönen präpostmodernen Schlitten in der Luft hängen. Erst dann kracht er zu Boden. Denn längst war Ölkrise, alternative Lebensformen breiteten sich aus, aus Sex wurde Gender, und dicke Romane wurden etwas so Altmodisches wie dicke Autos. Hier ist wieder einer.
GUSTAV SEIBT
JEFFREY EUGENIDES: Middlesex. Roman. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 735 Seiten, 24,90 Euro.
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[Middlesex] ist ein unerhörter, wundervoller Roman. Jonathan Franzen