Seit Marcel Möring für sein Debüt "In Babylon" mit der höchst dotierten literarischen Auszeichnung der Niederlande bedacht wurde, gilt er als einer der bedeutendsten Schriftsteller des Nachbarlandes. Im Mittelpunkt des Romans "Modellfliegen" steht der zwölfjährige David im Holland der Nachkriegszeit. Sein Vater hat seinen alten Job gekündigt und beschlossen, in Zukunft Modellflugzeuge zu bauen. Eine wunderbare Zeit beginnt. David spürt die große Liebe seiner Eltern, die ihm unerschütterlich erscheint; und doch hat die Idylle Risse. Der Vater hat den Rückzug aus Beruf und öffentlichem Leben vollzogen, die Mutter ist hilflos angesichts dieser Resignation. Als dann mit Vaters ehemaligem Kriegskameraden das Gegenbild zu ihm auftaucht, zerplatzt das Familienglück wie eine Seifenblase, denn nicht nur David ist von der Vitalität und Weltgewandtheit des Besuchers fasziniert ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2001Segelflug über den Kanal
Schwellenerlebnisse: Marcel Möring bastelt Modelle
Vor drei Jahren hat Marcel Möring mit seinem Roman "In Babylon" Furore gemacht. In der so figuren- wie geschehensreichen Chronik einer jüdischen Familie bewährte er sich als virtuoser Schwadroneur; das Buch gleicht einem Turm von Babel aus Geschichten. Der magische Realist aus Rotterdam sieht sich selbst gern in der Nachfolge von Proust, Joyce und Faulkner. Mit etwas mehr Bescheidenheit: "In Babylon" ist ein außergewöhnliches Stück Literatur, dessen erzählerische Kraft über manche Mängel hinwegsehen läßt. Mit seinem neuen Werk "Modellfliegen" habe sich Möring nun auch als "Meister der kleinen Form" erwiesen, kündigt der Verlag an. Es soll nicht einfach eine Erzählung, sondern eine Novelle sein.
Welcher Mann würde sich nicht an die kriegerischen Basteleien seiner Kindheit erinnern? Da entstand unter mehr oder weniger geschickten Händen aus einem Haufen Plastikteilchen ein kleines grinsendes Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Stuka, eine Spitfire oder Messerschmitt. Wo seid ihr geblieben, ihr regnerischen, klebstoffdünstenden Nachmittage des Modellbaus? So fragt sich Mörings Ich-Erzähler und beschwört eine eigenartige Familienidylle. Als er zwölf war (das muß so um 1970 gewesen sein), wurden Vater und Mutter auf einen Schlag arbeitslos. Der Vermieter, ein Spielzeughändler, konnte Abhilfe schaffen. Die Jungen seien zu faul geworden, behauptete er, ihre Modellflugzeuge selber zu bauen. So sitzt die Familie bald daheim um den Tisch und leimt Flieger zusammen, damit sie der Spielzeughändler hinterher mit leichtem Aufpreis verkaufen kann. "Mein Vater hatte ein Schnur durchs Zimmer gespannt, an die wir die fertigen Exemplare hängten. Die Frühstücksbar stand voll mit frisch bemalten Flugzeugen. Wir lebten in einer Luftblase, in der alles ruhig, geschützt und freundlich war. Der Tee stand auf dem Stövchen, Geräusche wehten zu den offenen Balkontüren herein."
Der bastelnde Vater entpuppt sich per Rückblende als waschechter Pilot, ein ehemaliger Kampfflieger in den Reihen Englands, wohin er bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren auf abenteuerliche Weise entkommen war: im Segelflugzeug, kurz bevor die Deutschen das Land besetzten. In den Niederlanden wurde nach Erscheinen des Buches darüber debattiert, ob dergleichen überhaupt technisch möglich sei. Die Antwort der Segelflugexperten, die Gleitwinkel und Sinkgeschwindigkeit mit der beträchtlichen Distanz verrechneten, lautete entschieden: Nein. Aber kann man in der Literatur nicht gegebenenfalls mit dem Tretboot zum Mond fahren?
Im zivilen Leben arbeitete der Vater dann als Sprühflieger in der Schädlingsbekämpfung. Damit er die Mutter, eine Krankenschwester, kennenlernen konnte, bedurfte es nur noch einer Bruchlandung auf dem Kartoffelacker. So spielt das Leben, wenn es die Verfilmung anstrebt: tollkühne Männer in abstürzenden Kisten und schöne Frauen, die sich in das Häufchen Menschenelend verlieben, um es bis zur Ehefähigkeit gesund zu pflegen.
Damit ist das Flugthema erschöpft, die Erzählung aber erst zu einem Drittel geschrieben. Jetzt täte ein wenig Ernsthaftigkeit gut; fünf Seiten über den Holocaust folgen; dann schlägt das Buch einen unerwarteten Haken in Richtung Künstlernovelle. Die Hauptfigur, der zwölfjährige David, interessiert sich plötzlich nicht mehr für Flugzeuge, sondern für kulinarische Höhenflüge. Schon manches Kochbuch hat der junge Feinschmecker studiert. Sein analytischer Gaumen schmeckt aus jedem Gericht leicht das zugrundeliegende Rezept heraus. Wir sehen zu, wie sich das Genie erstmals zu erkennen gibt, ein Bocuse als Bube.
Mit einem älteren Gourmet geht er ins beste Restaurant seines Städtchens und beschwert sich lauthals über das Essen: "Die Lammkoteletts sind viel zu lange gebraten. Sie sind unter einer typisch holländischen Mehlschwitze begraben. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Soße nicht à la minute zubereitet ist." Kurzerhand bittet ihn der Chef des Hauses zu einem Wettkochen an den Herd, wo sich der Profi neidlos geschlagen geben muß.
Im nächsten Kapitel lernt man Davids Großeltern kennen, zwei phantastische Gestalten. Es geht ans Erben. Der Junge wird testamentarisch schon mal zum Direktor eines großen Jagdreviers bestimmt. Nun wird ihm aber mulmig zumute, und er beruft sich defensiv auf sein Alter: "Ich bin zwölf." Darauf Großpapa: "Blödsinn. Ein Mann formt sich selbst in früher Jugend. Die Spielzeit ist vorbei. Portwein?" Am Ende outet sich der Erzähler beruflich. Er ist weder Pilot noch Meisterkoch oder Jagddirektor geworden, sondern hat den kleinen Laden des jüdischen Spielzeughändlers übernommen. Dort baut er mit den Kindern des Viertels Drachen, erzählt Märchen und ist mit seinen Gedanken oft "in weiter Ferne, in einer anderen Welt, vor langer Zeit, als die Menschen noch gut waren und die Sommer lang". Der Mann ist gerade vierzig, er klingt wie hundertvierzig.
Kein Zweifel, die Geschichte läßt viele Deutungen zu; es geht um Schwellenerlebnisse auf dem schwierigen Weg ins adoleszente Leben. An der Schwelle lauert hier jedoch das Geschwollene. Mancher symbolische Köder wird ausgelegt. Aber wir verzichten darauf anzubeißen. Die Schwächen von "In Babylon" - das Gesuchte, Unstrukturierte, Kunstgewerbliche - liegen in der Novellenform zutage, ohne daß der Leser durch das epische Füllhorn entschädigt würde.
WOLFGANG SCHNEIDER
Marcel Möring: "Modellfliegen". Novelle. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Luchterhand Verlag, München 2001. 124 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schwellenerlebnisse: Marcel Möring bastelt Modelle
Vor drei Jahren hat Marcel Möring mit seinem Roman "In Babylon" Furore gemacht. In der so figuren- wie geschehensreichen Chronik einer jüdischen Familie bewährte er sich als virtuoser Schwadroneur; das Buch gleicht einem Turm von Babel aus Geschichten. Der magische Realist aus Rotterdam sieht sich selbst gern in der Nachfolge von Proust, Joyce und Faulkner. Mit etwas mehr Bescheidenheit: "In Babylon" ist ein außergewöhnliches Stück Literatur, dessen erzählerische Kraft über manche Mängel hinwegsehen läßt. Mit seinem neuen Werk "Modellfliegen" habe sich Möring nun auch als "Meister der kleinen Form" erwiesen, kündigt der Verlag an. Es soll nicht einfach eine Erzählung, sondern eine Novelle sein.
Welcher Mann würde sich nicht an die kriegerischen Basteleien seiner Kindheit erinnern? Da entstand unter mehr oder weniger geschickten Händen aus einem Haufen Plastikteilchen ein kleines grinsendes Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg, ein Stuka, eine Spitfire oder Messerschmitt. Wo seid ihr geblieben, ihr regnerischen, klebstoffdünstenden Nachmittage des Modellbaus? So fragt sich Mörings Ich-Erzähler und beschwört eine eigenartige Familienidylle. Als er zwölf war (das muß so um 1970 gewesen sein), wurden Vater und Mutter auf einen Schlag arbeitslos. Der Vermieter, ein Spielzeughändler, konnte Abhilfe schaffen. Die Jungen seien zu faul geworden, behauptete er, ihre Modellflugzeuge selber zu bauen. So sitzt die Familie bald daheim um den Tisch und leimt Flieger zusammen, damit sie der Spielzeughändler hinterher mit leichtem Aufpreis verkaufen kann. "Mein Vater hatte ein Schnur durchs Zimmer gespannt, an die wir die fertigen Exemplare hängten. Die Frühstücksbar stand voll mit frisch bemalten Flugzeugen. Wir lebten in einer Luftblase, in der alles ruhig, geschützt und freundlich war. Der Tee stand auf dem Stövchen, Geräusche wehten zu den offenen Balkontüren herein."
Der bastelnde Vater entpuppt sich per Rückblende als waschechter Pilot, ein ehemaliger Kampfflieger in den Reihen Englands, wohin er bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren auf abenteuerliche Weise entkommen war: im Segelflugzeug, kurz bevor die Deutschen das Land besetzten. In den Niederlanden wurde nach Erscheinen des Buches darüber debattiert, ob dergleichen überhaupt technisch möglich sei. Die Antwort der Segelflugexperten, die Gleitwinkel und Sinkgeschwindigkeit mit der beträchtlichen Distanz verrechneten, lautete entschieden: Nein. Aber kann man in der Literatur nicht gegebenenfalls mit dem Tretboot zum Mond fahren?
Im zivilen Leben arbeitete der Vater dann als Sprühflieger in der Schädlingsbekämpfung. Damit er die Mutter, eine Krankenschwester, kennenlernen konnte, bedurfte es nur noch einer Bruchlandung auf dem Kartoffelacker. So spielt das Leben, wenn es die Verfilmung anstrebt: tollkühne Männer in abstürzenden Kisten und schöne Frauen, die sich in das Häufchen Menschenelend verlieben, um es bis zur Ehefähigkeit gesund zu pflegen.
Damit ist das Flugthema erschöpft, die Erzählung aber erst zu einem Drittel geschrieben. Jetzt täte ein wenig Ernsthaftigkeit gut; fünf Seiten über den Holocaust folgen; dann schlägt das Buch einen unerwarteten Haken in Richtung Künstlernovelle. Die Hauptfigur, der zwölfjährige David, interessiert sich plötzlich nicht mehr für Flugzeuge, sondern für kulinarische Höhenflüge. Schon manches Kochbuch hat der junge Feinschmecker studiert. Sein analytischer Gaumen schmeckt aus jedem Gericht leicht das zugrundeliegende Rezept heraus. Wir sehen zu, wie sich das Genie erstmals zu erkennen gibt, ein Bocuse als Bube.
Mit einem älteren Gourmet geht er ins beste Restaurant seines Städtchens und beschwert sich lauthals über das Essen: "Die Lammkoteletts sind viel zu lange gebraten. Sie sind unter einer typisch holländischen Mehlschwitze begraben. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Soße nicht à la minute zubereitet ist." Kurzerhand bittet ihn der Chef des Hauses zu einem Wettkochen an den Herd, wo sich der Profi neidlos geschlagen geben muß.
Im nächsten Kapitel lernt man Davids Großeltern kennen, zwei phantastische Gestalten. Es geht ans Erben. Der Junge wird testamentarisch schon mal zum Direktor eines großen Jagdreviers bestimmt. Nun wird ihm aber mulmig zumute, und er beruft sich defensiv auf sein Alter: "Ich bin zwölf." Darauf Großpapa: "Blödsinn. Ein Mann formt sich selbst in früher Jugend. Die Spielzeit ist vorbei. Portwein?" Am Ende outet sich der Erzähler beruflich. Er ist weder Pilot noch Meisterkoch oder Jagddirektor geworden, sondern hat den kleinen Laden des jüdischen Spielzeughändlers übernommen. Dort baut er mit den Kindern des Viertels Drachen, erzählt Märchen und ist mit seinen Gedanken oft "in weiter Ferne, in einer anderen Welt, vor langer Zeit, als die Menschen noch gut waren und die Sommer lang". Der Mann ist gerade vierzig, er klingt wie hundertvierzig.
Kein Zweifel, die Geschichte läßt viele Deutungen zu; es geht um Schwellenerlebnisse auf dem schwierigen Weg ins adoleszente Leben. An der Schwelle lauert hier jedoch das Geschwollene. Mancher symbolische Köder wird ausgelegt. Aber wir verzichten darauf anzubeißen. Die Schwächen von "In Babylon" - das Gesuchte, Unstrukturierte, Kunstgewerbliche - liegen in der Novellenform zutage, ohne daß der Leser durch das epische Füllhorn entschädigt würde.
WOLFGANG SCHNEIDER
Marcel Möring: "Modellfliegen". Novelle. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Luchterhand Verlag, München 2001. 124 S., geb., 29,80 DM.
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