Ein Jahr hat Momo ihre Freunde Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer nicht mehr gesehen. In der Zwischenzeit hat sich die Welt verändert: Die Menschen geben immer mehr grauen Herren die Möglichkeit zu entstehen, weil sie ihnen ihre Zeit überlassen. Selbst Momos Freunde sind kaum wiederzuerkennen. Aber das genügt den grauen Herren noch nicht: Momo soll sie zu Meister Hora bringen, damit sie endlich die gesamte Zeit in ihren Besitz bringen können.
Wird Momo es schaffen, die Zeitdiebe zu besiegen und so die Herzen der Menschen zu retten?
Wird Momo es schaffen, die Zeitdiebe zu besiegen und so die Herzen der Menschen zu retten?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2023Sie hört zu
Ein Bilderbuch zum 50. Jubiläum von „Momo“ erzählt zauberhaft von Achtsamkeit –
lässt den berühmten Kampf mit den „grauen Herren“ aber einfach weg. Geht das?
VON CHRISTIANE LUTZ
Eine besondere Lebensweisheit stammt von Beppo, dem Straßenkehrer: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken“, sagt er beim Anblick einer langen Straße, die er kehren soll. „Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.“ Das ist in seiner Schlichtheit und Klugheit unschlagbar. Ein Mantra der Gelassenheit, das auch aus einem Stress-Bewältigungsratgeber aus dem Jahr 2023 stammen könnte. Es steht aber in „Momo“ von Michael Ende.
„Momo“ erschien vor genau 50 Jahren, am 1. September 1973. Der Jugendroman erzählt die Geschichte des eigenwilligen Mädchens, das die Welt vor den bösen Zeitdieben rettet. Das Buch wurde in 49 Sprachen übersetzt und weltweit fast 13 Millionen Mal verkauft. Nicht nur erzählt Michael Ende darin von Freundschaft und dem größten Geschenk, das man einander machen kann: nämlich Zeit. Er erzählt auch von dem, was uns die Zeit zu rauben droht, womit wir ständig zu kämpfen haben. Die „grauen Herren“, zigarrenrauchende düstere Glatzköpfe, zapfen den Menschen ihre Lebenszeit ab mit dem Argument, Zeit sei viel zu kostbar, um sie zu verplempern mit Dingen wie Schlaf, Nichtstun, sich um andere kümmern. In einer Welt, in der alles immer hektischer wird und Momos Freunde plötzlich gehetzte Zeitsparer werden, ist Momo die perfekte Heldin. Wo alles schneller wird, wird sie langsamer. Und rettet am Ende so ihre Freunde.
Der Thiemann-Esslinger Verlag, bei dem Michael Endes Bücher erschienen sind, hat anlässlich des Jubiläums jetzt ein neues Bilderbuch herausgebracht mit Illustrationen von Simona Ceccarelli und einer Textbearbeitung von Uwe-Michael Gutzschhahn. Man hat entschieden, sich ausschließlich auf den ersten Teil des eigentlich dreiteiligen Romans zu konzentrieren, auf „Momo und ihre Freunde“. Der ist eigentlich nur die Exposition des Romans. Den dramatischen Kampf gegen die grauen Herren lässt dieses Buch komplett weg.
Es ist nie leicht, einer Geschichte neue Bilder zu geben, wenn diese schon so ikonisch ist, und wenn, wie bei „Momo“, der Autor selbst sogar Illustrationen anfertigte. Simona Ceccarellis neue Illustrationen aber sind zauberschön und ruhig. In weichen Farben gehalten scheinen sie oft surreal aus dem Rahmen des Bildes herausfließen zu wollen. Momo ist vorlagengetreu als Kind mit „wildem, pechschwarzem Lockenkopf“, barfuß, langem Rock und Männerjacke angelegt. Ein Mädchen, das den Kopf oft Richtung Himmel hebt und die Aufmerksamkeit immer konzentriert auf etwas richtet.
In diesem Buch besteht Momos Welt aus Traumlandschaften, die sehr italienisch anmuten. Dem italophilen Michael Ende hätte das gut gefallen, „Momo“ steckt, zum Beispiel in den Namen seiner Figuren, voller Italienbezüge. In einem Amphitheater erfindet sie mit ihren Freunden fantastische Spiele, man sieht mal Menschen, mal Sterne am Himmel, die sich um Momo scharen. Dass man dabei an Jesus und seine Jünger denkt, kann kein Zufall sein. Momo ist ja auch so etwas wie die Künderin einer Heilsbotschaft: der von der ungeteilten Aufmerksamkeit. Wie keine andere versteht sie es im Moment zu leben, nicht über gestern oder morgen nachzugrübeln. Sie hört allen Menschen urteilsfrei zu. Das macht die Menschen froh und das macht Momo froh. „Und wer nun noch immer meint, Zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.“ Ende. Eine große Meditation über das Thema Achtsamkeit.
Aber was ist alle Erkenntnis um den Wert des Moments, um den der Zeit, wenn man nicht auch um ihre Flüchtigkeit weiß? Wenn man sich der Gefahren nicht bewusst ist? „Graue Herren“ der Gegenwart gäbe es jedenfalls zuhauf, die gab es seit 1973 eigentlich immer, was diesen Roman so wahnsinnig gut und hartnäckig modern macht. Heute haben die Menschen mehr Freizeit denn je und sind trotzdem gestresster als je zuvor. Wie geht das zusammen? Irgendwas, irgendwer stiehlt unsere Zeit also ganz offensichtlich auch heute. Vor Kurzem erst startete auf Netflix die Science-Fiction-Serie „Paradise“, die das Thema Zeit auf eine gar nicht so andere Weise verhandelt: In der Serie kauft ein Konzern mittellosen Menschen ihre besten Jahre ab, damit ein paar Reiche länger leben können. Die Beziehung der Menschen zu ihrer Lebenszeit war und bleibt eine sehr spezielle, auch sehr krisenhafte.
Das aber ergründet das neue „Momo“-Buch nicht und reduziert die Geschichte dadurch um ihre Spannung zu einer sehr zeitgeistigen Erzählung, in der es vor allem um gute Gefühle geht. Man muss hier gar nicht mangelnde Werktreue beklagen, aber einfach die „grauen Herren“ wegzulassen und damit alles zu eliminieren, was es uns so schwer macht, allzeit achtsam und gegenwärtig zu leben, wirkt auch für ein Kinderbuch ein wenig entrückt. Michael Endes „Momo“ ist bei aller Märchenhaftigkeit doch eigentlich sehr viel näher an der Wirklichkeit.
Wenn Momo in den Himmel schaut, ist ihr, „als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging“.
Foto: Simona Ceccarelli/Thienemann Verlag
Michael Ende: Momo. Textbearbeitung von Uwe-Michael Gutzschhahn. Mit Bildern von Simona Ceccarelli. Thienemann-Esslinger,
Stuttgart 2023.
32 Seiten, 16 Euro.
Ab sechs Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Bilderbuch zum 50. Jubiläum von „Momo“ erzählt zauberhaft von Achtsamkeit –
lässt den berühmten Kampf mit den „grauen Herren“ aber einfach weg. Geht das?
VON CHRISTIANE LUTZ
Eine besondere Lebensweisheit stammt von Beppo, dem Straßenkehrer: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken“, sagt er beim Anblick einer langen Straße, die er kehren soll. „Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.“ Das ist in seiner Schlichtheit und Klugheit unschlagbar. Ein Mantra der Gelassenheit, das auch aus einem Stress-Bewältigungsratgeber aus dem Jahr 2023 stammen könnte. Es steht aber in „Momo“ von Michael Ende.
„Momo“ erschien vor genau 50 Jahren, am 1. September 1973. Der Jugendroman erzählt die Geschichte des eigenwilligen Mädchens, das die Welt vor den bösen Zeitdieben rettet. Das Buch wurde in 49 Sprachen übersetzt und weltweit fast 13 Millionen Mal verkauft. Nicht nur erzählt Michael Ende darin von Freundschaft und dem größten Geschenk, das man einander machen kann: nämlich Zeit. Er erzählt auch von dem, was uns die Zeit zu rauben droht, womit wir ständig zu kämpfen haben. Die „grauen Herren“, zigarrenrauchende düstere Glatzköpfe, zapfen den Menschen ihre Lebenszeit ab mit dem Argument, Zeit sei viel zu kostbar, um sie zu verplempern mit Dingen wie Schlaf, Nichtstun, sich um andere kümmern. In einer Welt, in der alles immer hektischer wird und Momos Freunde plötzlich gehetzte Zeitsparer werden, ist Momo die perfekte Heldin. Wo alles schneller wird, wird sie langsamer. Und rettet am Ende so ihre Freunde.
Der Thiemann-Esslinger Verlag, bei dem Michael Endes Bücher erschienen sind, hat anlässlich des Jubiläums jetzt ein neues Bilderbuch herausgebracht mit Illustrationen von Simona Ceccarelli und einer Textbearbeitung von Uwe-Michael Gutzschhahn. Man hat entschieden, sich ausschließlich auf den ersten Teil des eigentlich dreiteiligen Romans zu konzentrieren, auf „Momo und ihre Freunde“. Der ist eigentlich nur die Exposition des Romans. Den dramatischen Kampf gegen die grauen Herren lässt dieses Buch komplett weg.
Es ist nie leicht, einer Geschichte neue Bilder zu geben, wenn diese schon so ikonisch ist, und wenn, wie bei „Momo“, der Autor selbst sogar Illustrationen anfertigte. Simona Ceccarellis neue Illustrationen aber sind zauberschön und ruhig. In weichen Farben gehalten scheinen sie oft surreal aus dem Rahmen des Bildes herausfließen zu wollen. Momo ist vorlagengetreu als Kind mit „wildem, pechschwarzem Lockenkopf“, barfuß, langem Rock und Männerjacke angelegt. Ein Mädchen, das den Kopf oft Richtung Himmel hebt und die Aufmerksamkeit immer konzentriert auf etwas richtet.
In diesem Buch besteht Momos Welt aus Traumlandschaften, die sehr italienisch anmuten. Dem italophilen Michael Ende hätte das gut gefallen, „Momo“ steckt, zum Beispiel in den Namen seiner Figuren, voller Italienbezüge. In einem Amphitheater erfindet sie mit ihren Freunden fantastische Spiele, man sieht mal Menschen, mal Sterne am Himmel, die sich um Momo scharen. Dass man dabei an Jesus und seine Jünger denkt, kann kein Zufall sein. Momo ist ja auch so etwas wie die Künderin einer Heilsbotschaft: der von der ungeteilten Aufmerksamkeit. Wie keine andere versteht sie es im Moment zu leben, nicht über gestern oder morgen nachzugrübeln. Sie hört allen Menschen urteilsfrei zu. Das macht die Menschen froh und das macht Momo froh. „Und wer nun noch immer meint, Zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.“ Ende. Eine große Meditation über das Thema Achtsamkeit.
Aber was ist alle Erkenntnis um den Wert des Moments, um den der Zeit, wenn man nicht auch um ihre Flüchtigkeit weiß? Wenn man sich der Gefahren nicht bewusst ist? „Graue Herren“ der Gegenwart gäbe es jedenfalls zuhauf, die gab es seit 1973 eigentlich immer, was diesen Roman so wahnsinnig gut und hartnäckig modern macht. Heute haben die Menschen mehr Freizeit denn je und sind trotzdem gestresster als je zuvor. Wie geht das zusammen? Irgendwas, irgendwer stiehlt unsere Zeit also ganz offensichtlich auch heute. Vor Kurzem erst startete auf Netflix die Science-Fiction-Serie „Paradise“, die das Thema Zeit auf eine gar nicht so andere Weise verhandelt: In der Serie kauft ein Konzern mittellosen Menschen ihre besten Jahre ab, damit ein paar Reiche länger leben können. Die Beziehung der Menschen zu ihrer Lebenszeit war und bleibt eine sehr spezielle, auch sehr krisenhafte.
Das aber ergründet das neue „Momo“-Buch nicht und reduziert die Geschichte dadurch um ihre Spannung zu einer sehr zeitgeistigen Erzählung, in der es vor allem um gute Gefühle geht. Man muss hier gar nicht mangelnde Werktreue beklagen, aber einfach die „grauen Herren“ wegzulassen und damit alles zu eliminieren, was es uns so schwer macht, allzeit achtsam und gegenwärtig zu leben, wirkt auch für ein Kinderbuch ein wenig entrückt. Michael Endes „Momo“ ist bei aller Märchenhaftigkeit doch eigentlich sehr viel näher an der Wirklichkeit.
Wenn Momo in den Himmel schaut, ist ihr, „als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging“.
Foto: Simona Ceccarelli/Thienemann Verlag
Michael Ende: Momo. Textbearbeitung von Uwe-Michael Gutzschhahn. Mit Bildern von Simona Ceccarelli. Thienemann-Esslinger,
Stuttgart 2023.
32 Seiten, 16 Euro.
Ab sechs Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de