Worms, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Peter Bender, ehemals Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, macht sich als Gründer einer neuen Religionsgemeinschaft und mit der Proklamation der sogenannten Hohlwelt-Theorie einen Namen: Die Menschheit, so diese Theorie, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gemeinde bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen Kerkerhaft verurteilt. Als sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten herumspricht, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich selbst seine engsten Gefolgsleute von ihm ab. Die Benders verarmen, die Repressionen gegen seine Frau werden bald unerträglich, bis die Familie 1942 verhaftet und deportiert wird.
In seinem lange erwarteten neuen Roman rekonstruiert Clemens J. Setz eine reale, so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichte. Mehr noch ist Monde vor der Landung aber die Untersuchung der zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers und die Veranschaulichung eines Querdenkertums avant la lettre: bestürzend aktuell, von unüberbietbarer sprachlicher und gedanklicher Originalität.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In seinem lange erwarteten neuen Roman rekonstruiert Clemens J. Setz eine reale, so bewegende wie verstörende Lebens- und Familiengeschichte. Mehr noch ist Monde vor der Landung aber die Untersuchung der zerstörerischen Wahnwelt eines manischen Egozentrikers und die Veranschaulichung eines Querdenkertums avant la lettre: bestürzend aktuell, von unüberbietbarer sprachlicher und gedanklicher Originalität.
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Wie steht Wahn zum Wahn?
Psychologie des Phantastischen: "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz, erzählt von einem überzeugten Anhänger der Hohlerde-Theorie im "Dritten Reich".
Man spricht so leichtfertig davon, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, doch was Peter Bender für wahr hielt, ging in seinen Konsequenzen noch viel weiter. Als Anhänger der von dem Amerikaner John Cleves Symmes im frühen neunzehnten Jahrhundert begründeten Hohlerde-Theorie wollte der 1893 im rheinhessischen Bechtheim geborene Bender die Menschen nicht nur davon überzeugen, dass sie gar nicht auf der Außenseite der Erdkugel leben, sondern auf deren Innenseite. Er wollte ihnen auch die Vorstellung vom Himmel nehmen. Denn da man sich ja nicht auf, sondern in einer Kugel aufhält, ist man nicht vom Himmel umgeben, sondern dessen Wahrnehmung verdankt sich einer Art in der Hohlkugel schwebendem Miasma, das auch Sonne, Mond und Sterne enthält. Und läge es nicht im Weg - das ist doch einmal konsequentes Querdenken! -, dann könnten wir von Deutschland aus direkt hinüber nach Amerika auf dem gegenüberliegenden Erdschalensegment blicken.
So etwas können Menschen sich offenbar ausdenken, aber kann man sich solche Menschen ausdenken? Clemens J. Setz tut es in seinem heute erscheinenden neuen Roman "Monde vor der Landung", dem ersten seit der Zuerkennung des Büchnerpreises an den gerade vierzigjährigen österreichischen Schriftsteller. Wobei es diesen Peter Bender ebenso gegeben hat wie John Cleves Symmes, nur weiß man wenig über sie, weil sie denn doch nur von ein paar Dutzend Menschen ernst genommen wurden. Immerhin haben die dafür gesorgt, dass Zeugnisse des Wirkens und der Wirkung der Hohlerde-Propagandisten aufbewahrt wurden, und so gibt es in Florida das Archiv der ehemaligen Koresh-Gemeinde ("Koresh" nannte sich ein weiterer Hohlerde-Gläubiger), in dem auch Archivalien von und zu Peter Bender überlebt haben. Der ist ein Opfer der Nationalsozialisten geworden und 1944 im Konzentrationslager Mauthausen gestorben. Denn Wahn und Wahn gesellt sich nicht gern.
Außer in den Büchern von Setz, der ein großes Herz für Phantasten hat, ein kluges Hirn beim Überdenken von Phantastischem und eine sichere Hand bei der daraus resultierenden Ausgestaltung von Phantasien. Der Peter Bender des Romans ist eng an den Quellen orientiert (Setz gibt einige Dokumente im Buch als Abbildungen bei) und doch ganz eigene Schöpfung des Autors. Wir begleiten Benders Leben in drei Buchteilen mit insgesamt mehr als fünfzig meist sehr kurzen Kapiteln von 1920 an, als der überzeugte Hohlerdling in der französischen Besatzungszone erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Und mit seinen Landsleuten, denn wie wäre es in einem nach dem Ersten Weltkrieg aller weltlichen Sicherheiten beraubten Deutschland auch akzeptabel gewesen, dass ein ehemaliger Kampfpilot die Existenz des Himmels, wie wir ihn zu kennen glauben und er ihn doch selbst durchflogen hat, nun auch noch infrage stellt? Bender muss zum ersten Mal in Haft.
Vierzehn Kapitel lang wechselt Setz erst einmal zwischen der erzählten Gegenwart seines Peter Bender und dessen Vergangenheit hin und her. Das Trauma des Kriegs (und eines Absturzes) wird zur Erklärung der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, und mit der jüdischen Krankenschwester Charlotte Asch, die ihn im Lazarett gesund pflegt, tritt eine Frau in Benders Leben, die ihm sogar in seine Hohlerden-Gedankenwelt folgt. Dieses Vertrauen dankt ihr Bender nicht mit ehelicher Treue. Zwar deklariert er sich und Charlotte zum "Priesterpaar" der von ihm als Vernunftreligion proklamierten Lebensanschauung, doch sich selbst gestattet er Liebesmessdienerinnen. Dieser Mann ist ja auch vielfach überqualifiziert: "Weltkrieg. Pilot. Eisernes Kreuz. Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Schriftsteller. Bund rheinischer Dichter. Währungstheorie. Mathematik. Weltbildstudien. Priesterpaar. Stifter der Wormser Menschheitsreligion." Da bleibt den Damen nur das Staunen: "Es war beinahe ein Gedicht." Die derart für Überzeugung und Bett Gewonnenen werden dann in Benders Korrespondenz mit amerikanischen Gleichgesinnten zu frisch rekrutierten Gemeindemitgliedern aufgehübscht, sodass der Neid bei den Ursprungsvertretern der Hohlerde-Theorie groß ist.
Wäre die Geschichte des wahren Peter Bender und die Gegenwart eines von sich überzeugten Querdenkertums nicht so traurig, taugte der Stoff zum großen Schelmenroman. Doch das ist "Monde vor der Landung" nicht. Es ist - darin Raphaela Edelbauers gerade erschienenem "Die Inkommensurablen" ähnlich (F.A.Z. vom 3. Februar) - der Versuch einer Vergegenwärtigung des Historienromans durch die Überführung in eine Psychologie des Phantastischen. Was Edelbauer dabei stilistisch und formal für uns interessant zu machen versucht, geht Setz auf der inhaltlichen Ebene an. Der Erzählfokus auf Peter Bender entspricht einer Erzählperspektive aus diesem heraus (die jedoch ein paarmal aus Motivationen gebrochen wird, die außerhalb der Figur liegen - das ist eine Schwächung des Romans), und Zweifel an seiner Weltsicht ist somit nicht die Sache von "Monde vor der Landung". Das Buch nimmt seinen Protagonisten ernst, während es in Edelbauers Roman dank seiner personalen Dreierkonstellation ein Korrektiv zur Hauptfigur gibt.
Man mag gerade in der Verweigerung einer ironischen Haltung zu Peter Bender den kritischen Kommentar von Clemens J. Setz vermuten: Wer Irrwitz ohne Ironie referiert, hat Aussicht, dessen Vertreter mit den eigenen Waffen zu schlagen - sofern man den Anspruch einer "Vernunftreligion" glaubhaft findet. Doch Setz' Buch verharrt in staunendem Zeigegestus: Was für eine Figur ist dieser Peter Bender, was ein Wahn! Wir haben seit Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" viele historisierende Romane gelesen. Die guten darunter waren die ironisch-mitteilsamen: die von Kehlmann selbst, die von Christine Wunnicke, auch der von Raphaela Edelbauer. "Monde vor der Landung" ist zu ernsthaft-mitfühlsam, um gut zu sein. ANDREAS PLATTHAUS
Clemens J. Setz:
"Monde vor der Landung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 525 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Psychologie des Phantastischen: "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz, erzählt von einem überzeugten Anhänger der Hohlerde-Theorie im "Dritten Reich".
Man spricht so leichtfertig davon, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, doch was Peter Bender für wahr hielt, ging in seinen Konsequenzen noch viel weiter. Als Anhänger der von dem Amerikaner John Cleves Symmes im frühen neunzehnten Jahrhundert begründeten Hohlerde-Theorie wollte der 1893 im rheinhessischen Bechtheim geborene Bender die Menschen nicht nur davon überzeugen, dass sie gar nicht auf der Außenseite der Erdkugel leben, sondern auf deren Innenseite. Er wollte ihnen auch die Vorstellung vom Himmel nehmen. Denn da man sich ja nicht auf, sondern in einer Kugel aufhält, ist man nicht vom Himmel umgeben, sondern dessen Wahrnehmung verdankt sich einer Art in der Hohlkugel schwebendem Miasma, das auch Sonne, Mond und Sterne enthält. Und läge es nicht im Weg - das ist doch einmal konsequentes Querdenken! -, dann könnten wir von Deutschland aus direkt hinüber nach Amerika auf dem gegenüberliegenden Erdschalensegment blicken.
So etwas können Menschen sich offenbar ausdenken, aber kann man sich solche Menschen ausdenken? Clemens J. Setz tut es in seinem heute erscheinenden neuen Roman "Monde vor der Landung", dem ersten seit der Zuerkennung des Büchnerpreises an den gerade vierzigjährigen österreichischen Schriftsteller. Wobei es diesen Peter Bender ebenso gegeben hat wie John Cleves Symmes, nur weiß man wenig über sie, weil sie denn doch nur von ein paar Dutzend Menschen ernst genommen wurden. Immerhin haben die dafür gesorgt, dass Zeugnisse des Wirkens und der Wirkung der Hohlerde-Propagandisten aufbewahrt wurden, und so gibt es in Florida das Archiv der ehemaligen Koresh-Gemeinde ("Koresh" nannte sich ein weiterer Hohlerde-Gläubiger), in dem auch Archivalien von und zu Peter Bender überlebt haben. Der ist ein Opfer der Nationalsozialisten geworden und 1944 im Konzentrationslager Mauthausen gestorben. Denn Wahn und Wahn gesellt sich nicht gern.
Außer in den Büchern von Setz, der ein großes Herz für Phantasten hat, ein kluges Hirn beim Überdenken von Phantastischem und eine sichere Hand bei der daraus resultierenden Ausgestaltung von Phantasien. Der Peter Bender des Romans ist eng an den Quellen orientiert (Setz gibt einige Dokumente im Buch als Abbildungen bei) und doch ganz eigene Schöpfung des Autors. Wir begleiten Benders Leben in drei Buchteilen mit insgesamt mehr als fünfzig meist sehr kurzen Kapiteln von 1920 an, als der überzeugte Hohlerdling in der französischen Besatzungszone erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Und mit seinen Landsleuten, denn wie wäre es in einem nach dem Ersten Weltkrieg aller weltlichen Sicherheiten beraubten Deutschland auch akzeptabel gewesen, dass ein ehemaliger Kampfpilot die Existenz des Himmels, wie wir ihn zu kennen glauben und er ihn doch selbst durchflogen hat, nun auch noch infrage stellt? Bender muss zum ersten Mal in Haft.
Vierzehn Kapitel lang wechselt Setz erst einmal zwischen der erzählten Gegenwart seines Peter Bender und dessen Vergangenheit hin und her. Das Trauma des Kriegs (und eines Absturzes) wird zur Erklärung der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, und mit der jüdischen Krankenschwester Charlotte Asch, die ihn im Lazarett gesund pflegt, tritt eine Frau in Benders Leben, die ihm sogar in seine Hohlerden-Gedankenwelt folgt. Dieses Vertrauen dankt ihr Bender nicht mit ehelicher Treue. Zwar deklariert er sich und Charlotte zum "Priesterpaar" der von ihm als Vernunftreligion proklamierten Lebensanschauung, doch sich selbst gestattet er Liebesmessdienerinnen. Dieser Mann ist ja auch vielfach überqualifiziert: "Weltkrieg. Pilot. Eisernes Kreuz. Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Schriftsteller. Bund rheinischer Dichter. Währungstheorie. Mathematik. Weltbildstudien. Priesterpaar. Stifter der Wormser Menschheitsreligion." Da bleibt den Damen nur das Staunen: "Es war beinahe ein Gedicht." Die derart für Überzeugung und Bett Gewonnenen werden dann in Benders Korrespondenz mit amerikanischen Gleichgesinnten zu frisch rekrutierten Gemeindemitgliedern aufgehübscht, sodass der Neid bei den Ursprungsvertretern der Hohlerde-Theorie groß ist.
Wäre die Geschichte des wahren Peter Bender und die Gegenwart eines von sich überzeugten Querdenkertums nicht so traurig, taugte der Stoff zum großen Schelmenroman. Doch das ist "Monde vor der Landung" nicht. Es ist - darin Raphaela Edelbauers gerade erschienenem "Die Inkommensurablen" ähnlich (F.A.Z. vom 3. Februar) - der Versuch einer Vergegenwärtigung des Historienromans durch die Überführung in eine Psychologie des Phantastischen. Was Edelbauer dabei stilistisch und formal für uns interessant zu machen versucht, geht Setz auf der inhaltlichen Ebene an. Der Erzählfokus auf Peter Bender entspricht einer Erzählperspektive aus diesem heraus (die jedoch ein paarmal aus Motivationen gebrochen wird, die außerhalb der Figur liegen - das ist eine Schwächung des Romans), und Zweifel an seiner Weltsicht ist somit nicht die Sache von "Monde vor der Landung". Das Buch nimmt seinen Protagonisten ernst, während es in Edelbauers Roman dank seiner personalen Dreierkonstellation ein Korrektiv zur Hauptfigur gibt.
Man mag gerade in der Verweigerung einer ironischen Haltung zu Peter Bender den kritischen Kommentar von Clemens J. Setz vermuten: Wer Irrwitz ohne Ironie referiert, hat Aussicht, dessen Vertreter mit den eigenen Waffen zu schlagen - sofern man den Anspruch einer "Vernunftreligion" glaubhaft findet. Doch Setz' Buch verharrt in staunendem Zeigegestus: Was für eine Figur ist dieser Peter Bender, was ein Wahn! Wir haben seit Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" viele historisierende Romane gelesen. Die guten darunter waren die ironisch-mitteilsamen: die von Kehlmann selbst, die von Christine Wunnicke, auch der von Raphaela Edelbauer. "Monde vor der Landung" ist zu ernsthaft-mitfühlsam, um gut zu sein. ANDREAS PLATTHAUS
Clemens J. Setz:
"Monde vor der Landung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 525 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Clemens J. Setz schenkt uns einen "monumentalen" Roman mit deutlichem Bezug zur Gegenwart, aber ohne den "diskurstheoretischen Überbau" des jüngsten Zeh-Romans, freut sich Rezensent Florian Eichel. Setz hat gründlich recherchiert, (sogar eine Rechercheagentur beauftragt, die gleiche wie Juli Zeh und Simon Urban, erfahren wir), seinen Roman mit Faksimiles der originalen Dokumente angereichert, um die Geschichte von Peter Bender zu erzählen, der seine Kameraden im Ersten Weltkrieg noch mit Anekdoten aus dem Weltall belustigte, sich bald aber in der Verschwörungstheorie der Hohlwelttheorie verirrte. Selbst den Holocaustdeportationen begegnet Bender zunächst noch mit "Humor" - bis er, als geisteskrank geltend, ebenso wie seine jüdische Frau Charlotte ins KZ deportiert und dort umgebracht wird. Dass Setz seinen Helden bei aller Lächerlichkeit durchaus würdevoll zeichnet, rechnet ihm Eichel hoch an. Vor allem aber verdankt er dem Roman die Erkenntnis, dass nicht zwingend von den "Irrenden" eine Gefahr ausgeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2023Wie steht Wahn zum Wahn?
Psychologie des Phantastischen: "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz, erzählt von einem überzeugten Anhänger der Hohlerde-Theorie im "Dritten Reich".
Man spricht so leichtfertig davon, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, doch was Peter Bender für wahr hielt, ging in seinen Konsequenzen noch viel weiter. Als Anhänger der von dem Amerikaner John Cleves Symmes im frühen neunzehnten Jahrhundert begründeten Hohlerde-Theorie wollte der 1893 im rheinhessischen Bechtheim geborene Bender die Menschen nicht nur davon überzeugen, dass sie gar nicht auf der Außenseite der Erdkugel leben, sondern auf deren Innenseite. Er wollte ihnen auch die Vorstellung vom Himmel nehmen. Denn da man sich ja nicht auf, sondern in einer Kugel aufhält, ist man nicht vom Himmel umgeben, sondern dessen Wahrnehmung verdankt sich einer Art in der Hohlkugel schwebendem Miasma, das auch Sonne, Mond und Sterne enthält. Und läge es nicht im Weg - das ist doch einmal konsequentes Querdenken! -, dann könnten wir von Deutschland aus direkt hinüber nach Amerika auf dem gegenüberliegenden Erdschalensegment blicken.
So etwas können Menschen sich offenbar ausdenken, aber kann man sich solche Menschen ausdenken? Clemens J. Setz tut es in seinem heute erscheinenden neuen Roman "Monde vor der Landung", dem ersten seit der Zuerkennung des Büchnerpreises an den gerade vierzigjährigen österreichischen Schriftsteller. Wobei es diesen Peter Bender ebenso gegeben hat wie John Cleves Symmes, nur weiß man wenig über sie, weil sie denn doch nur von ein paar Dutzend Menschen ernst genommen wurden. Immerhin haben die dafür gesorgt, dass Zeugnisse des Wirkens und der Wirkung der Hohlerde-Propagandisten aufbewahrt wurden, und so gibt es in Florida das Archiv der ehemaligen Koresh-Gemeinde ("Koresh" nannte sich ein weiterer Hohlerde-Gläubiger), in dem auch Archivalien von und zu Peter Bender überlebt haben. Der ist ein Opfer der Nationalsozialisten geworden und 1944 im Konzentrationslager Mauthausen gestorben. Denn Wahn und Wahn gesellt sich nicht gern.
Außer in den Büchern von Setz, der ein großes Herz für Phantasten hat, ein kluges Hirn beim Überdenken von Phantastischem und eine sichere Hand bei der daraus resultierenden Ausgestaltung von Phantasien. Der Peter Bender des Romans ist eng an den Quellen orientiert (Setz gibt einige Dokumente im Buch als Abbildungen bei) und doch ganz eigene Schöpfung des Autors. Wir begleiten Benders Leben in drei Buchteilen mit insgesamt mehr als fünfzig meist sehr kurzen Kapiteln von 1920 an, als der überzeugte Hohlerdling in der französischen Besatzungszone erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Und mit seinen Landsleuten, denn wie wäre es in einem nach dem Ersten Weltkrieg aller weltlichen Sicherheiten beraubten Deutschland auch akzeptabel gewesen, dass ein ehemaliger Kampfpilot die Existenz des Himmels, wie wir ihn zu kennen glauben und er ihn doch selbst durchflogen hat, nun auch noch infrage stellt? Bender muss zum ersten Mal in Haft.
Vierzehn Kapitel lang wechselt Setz erst einmal zwischen der erzählten Gegenwart seines Peter Bender und dessen Vergangenheit hin und her. Das Trauma des Kriegs (und eines Absturzes) wird zur Erklärung der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, und mit der jüdischen Krankenschwester Charlotte Asch, die ihn im Lazarett gesund pflegt, tritt eine Frau in Benders Leben, die ihm sogar in seine Hohlerden-Gedankenwelt folgt. Dieses Vertrauen dankt ihr Bender nicht mit ehelicher Treue. Zwar deklariert er sich und Charlotte zum "Priesterpaar" der von ihm als Vernunftreligion proklamierten Lebensanschauung, doch sich selbst gestattet er Liebesmessdienerinnen. Dieser Mann ist ja auch vielfach überqualifiziert: "Weltkrieg. Pilot. Eisernes Kreuz. Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Schriftsteller. Bund rheinischer Dichter. Währungstheorie. Mathematik. Weltbildstudien. Priesterpaar. Stifter der Wormser Menschheitsreligion." Da bleibt den Damen nur das Staunen: "Es war beinahe ein Gedicht." Die derart für Überzeugung und Bett Gewonnenen werden dann in Benders Korrespondenz mit amerikanischen Gleichgesinnten zu frisch rekrutierten Gemeindemitgliedern aufgehübscht, sodass der Neid bei den Ursprungsvertretern der Hohlerde-Theorie groß ist.
Wäre die Geschichte des wahren Peter Bender und die Gegenwart eines von sich überzeugten Querdenkertums nicht so traurig, taugte der Stoff zum großen Schelmenroman. Doch das ist "Monde vor der Landung" nicht. Es ist - darin Raphaela Edelbauers gerade erschienenem "Die Inkommensurablen" ähnlich (F.A.Z. vom 3. Februar) - der Versuch einer Vergegenwärtigung des Historienromans durch die Überführung in eine Psychologie des Phantastischen. Was Edelbauer dabei stilistisch und formal für uns interessant zu machen versucht, geht Setz auf der inhaltlichen Ebene an. Der Erzählfokus auf Peter Bender entspricht einer Erzählperspektive aus diesem heraus (die jedoch ein paarmal aus Motivationen gebrochen wird, die außerhalb der Figur liegen - das ist eine Schwächung des Romans), und Zweifel an seiner Weltsicht ist somit nicht die Sache von "Monde vor der Landung". Das Buch nimmt seinen Protagonisten ernst, während es in Edelbauers Roman dank seiner personalen Dreierkonstellation ein Korrektiv zur Hauptfigur gibt.
Man mag gerade in der Verweigerung einer ironischen Haltung zu Peter Bender den kritischen Kommentar von Clemens J. Setz vermuten: Wer Irrwitz ohne Ironie referiert, hat Aussicht, dessen Vertreter mit den eigenen Waffen zu schlagen - sofern man den Anspruch einer "Vernunftreligion" glaubhaft findet. Doch Setz' Buch verharrt in staunendem Zeigegestus: Was für eine Figur ist dieser Peter Bender, was ein Wahn! Wir haben seit Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" viele historisierende Romane gelesen. Die guten darunter waren die ironisch-mitteilsamen: die von Kehlmann selbst, die von Christine Wunnicke, auch der von Raphaela Edelbauer. "Monde vor der Landung" ist zu ernsthaft-mitfühlsam, um gut zu sein. ANDREAS PLATTHAUS
Clemens J. Setz:
"Monde vor der Landung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 525 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Psychologie des Phantastischen: "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz, erzählt von einem überzeugten Anhänger der Hohlerde-Theorie im "Dritten Reich".
Man spricht so leichtfertig davon, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, doch was Peter Bender für wahr hielt, ging in seinen Konsequenzen noch viel weiter. Als Anhänger der von dem Amerikaner John Cleves Symmes im frühen neunzehnten Jahrhundert begründeten Hohlerde-Theorie wollte der 1893 im rheinhessischen Bechtheim geborene Bender die Menschen nicht nur davon überzeugen, dass sie gar nicht auf der Außenseite der Erdkugel leben, sondern auf deren Innenseite. Er wollte ihnen auch die Vorstellung vom Himmel nehmen. Denn da man sich ja nicht auf, sondern in einer Kugel aufhält, ist man nicht vom Himmel umgeben, sondern dessen Wahrnehmung verdankt sich einer Art in der Hohlkugel schwebendem Miasma, das auch Sonne, Mond und Sterne enthält. Und läge es nicht im Weg - das ist doch einmal konsequentes Querdenken! -, dann könnten wir von Deutschland aus direkt hinüber nach Amerika auf dem gegenüberliegenden Erdschalensegment blicken.
So etwas können Menschen sich offenbar ausdenken, aber kann man sich solche Menschen ausdenken? Clemens J. Setz tut es in seinem heute erscheinenden neuen Roman "Monde vor der Landung", dem ersten seit der Zuerkennung des Büchnerpreises an den gerade vierzigjährigen österreichischen Schriftsteller. Wobei es diesen Peter Bender ebenso gegeben hat wie John Cleves Symmes, nur weiß man wenig über sie, weil sie denn doch nur von ein paar Dutzend Menschen ernst genommen wurden. Immerhin haben die dafür gesorgt, dass Zeugnisse des Wirkens und der Wirkung der Hohlerde-Propagandisten aufbewahrt wurden, und so gibt es in Florida das Archiv der ehemaligen Koresh-Gemeinde ("Koresh" nannte sich ein weiterer Hohlerde-Gläubiger), in dem auch Archivalien von und zu Peter Bender überlebt haben. Der ist ein Opfer der Nationalsozialisten geworden und 1944 im Konzentrationslager Mauthausen gestorben. Denn Wahn und Wahn gesellt sich nicht gern.
Außer in den Büchern von Setz, der ein großes Herz für Phantasten hat, ein kluges Hirn beim Überdenken von Phantastischem und eine sichere Hand bei der daraus resultierenden Ausgestaltung von Phantasien. Der Peter Bender des Romans ist eng an den Quellen orientiert (Setz gibt einige Dokumente im Buch als Abbildungen bei) und doch ganz eigene Schöpfung des Autors. Wir begleiten Benders Leben in drei Buchteilen mit insgesamt mehr als fünfzig meist sehr kurzen Kapiteln von 1920 an, als der überzeugte Hohlerdling in der französischen Besatzungszone erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Und mit seinen Landsleuten, denn wie wäre es in einem nach dem Ersten Weltkrieg aller weltlichen Sicherheiten beraubten Deutschland auch akzeptabel gewesen, dass ein ehemaliger Kampfpilot die Existenz des Himmels, wie wir ihn zu kennen glauben und er ihn doch selbst durchflogen hat, nun auch noch infrage stellt? Bender muss zum ersten Mal in Haft.
Vierzehn Kapitel lang wechselt Setz erst einmal zwischen der erzählten Gegenwart seines Peter Bender und dessen Vergangenheit hin und her. Das Trauma des Kriegs (und eines Absturzes) wird zur Erklärung der Suche nach einem neuen Selbstverständnis, und mit der jüdischen Krankenschwester Charlotte Asch, die ihn im Lazarett gesund pflegt, tritt eine Frau in Benders Leben, die ihm sogar in seine Hohlerden-Gedankenwelt folgt. Dieses Vertrauen dankt ihr Bender nicht mit ehelicher Treue. Zwar deklariert er sich und Charlotte zum "Priesterpaar" der von ihm als Vernunftreligion proklamierten Lebensanschauung, doch sich selbst gestattet er Liebesmessdienerinnen. Dieser Mann ist ja auch vielfach überqualifiziert: "Weltkrieg. Pilot. Eisernes Kreuz. Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats. Schriftsteller. Bund rheinischer Dichter. Währungstheorie. Mathematik. Weltbildstudien. Priesterpaar. Stifter der Wormser Menschheitsreligion." Da bleibt den Damen nur das Staunen: "Es war beinahe ein Gedicht." Die derart für Überzeugung und Bett Gewonnenen werden dann in Benders Korrespondenz mit amerikanischen Gleichgesinnten zu frisch rekrutierten Gemeindemitgliedern aufgehübscht, sodass der Neid bei den Ursprungsvertretern der Hohlerde-Theorie groß ist.
Wäre die Geschichte des wahren Peter Bender und die Gegenwart eines von sich überzeugten Querdenkertums nicht so traurig, taugte der Stoff zum großen Schelmenroman. Doch das ist "Monde vor der Landung" nicht. Es ist - darin Raphaela Edelbauers gerade erschienenem "Die Inkommensurablen" ähnlich (F.A.Z. vom 3. Februar) - der Versuch einer Vergegenwärtigung des Historienromans durch die Überführung in eine Psychologie des Phantastischen. Was Edelbauer dabei stilistisch und formal für uns interessant zu machen versucht, geht Setz auf der inhaltlichen Ebene an. Der Erzählfokus auf Peter Bender entspricht einer Erzählperspektive aus diesem heraus (die jedoch ein paarmal aus Motivationen gebrochen wird, die außerhalb der Figur liegen - das ist eine Schwächung des Romans), und Zweifel an seiner Weltsicht ist somit nicht die Sache von "Monde vor der Landung". Das Buch nimmt seinen Protagonisten ernst, während es in Edelbauers Roman dank seiner personalen Dreierkonstellation ein Korrektiv zur Hauptfigur gibt.
Man mag gerade in der Verweigerung einer ironischen Haltung zu Peter Bender den kritischen Kommentar von Clemens J. Setz vermuten: Wer Irrwitz ohne Ironie referiert, hat Aussicht, dessen Vertreter mit den eigenen Waffen zu schlagen - sofern man den Anspruch einer "Vernunftreligion" glaubhaft findet. Doch Setz' Buch verharrt in staunendem Zeigegestus: Was für eine Figur ist dieser Peter Bender, was ein Wahn! Wir haben seit Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" viele historisierende Romane gelesen. Die guten darunter waren die ironisch-mitteilsamen: die von Kehlmann selbst, die von Christine Wunnicke, auch der von Raphaela Edelbauer. "Monde vor der Landung" ist zu ernsthaft-mitfühlsam, um gut zu sein. ANDREAS PLATTHAUS
Clemens J. Setz:
"Monde vor der Landung". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 525 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die kulturell, historisch und sprachlich ausgesprochen sensible Erzählinstanz ergreift niemals Partei und legt kein Urteil nahe. Auf diese Weise können Leser:innen ihren eigenen Zugang in die komplexe Thematik entwickeln und das soziale Abtriften eines trotz allem einnehmenden Menschen 'von Innen' erleben.« Jury des Österreichischen Buchpreises 2023 20231010