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Was die Liebe, was der Glaube, was die Sprache vermag.Wovon handelt dieses Hörbuch? Es ist leichter zu sagen, wovon es nicht handelt. Es handelt also von allem, vor allem von Anton Percy Schlugen, von ihm und mit ihm und durch ihn. Seine Mutter tauft ihn Anton, nennt ihn Percy, selber heißt sie Josefine Schlugen, wird Fini genannt. Sie ist Schneiderin, lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab, sie liest sie ihrem Sohn vor…mehr

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Produktbeschreibung
Was die Liebe, was der Glaube, was die Sprache vermag.Wovon handelt dieses Hörbuch? Es ist leichter zu sagen, wovon es nicht handelt. Es handelt also von allem, vor allem von Anton Percy Schlugen, von ihm und mit ihm und durch ihn. Seine Mutter tauft ihn Anton, nennt ihn Percy, selber heißt sie Josefine Schlugen, wird Fini genannt. Sie ist Schneiderin, lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab, sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei. Mit diesem Glauben lebt Percy. Ein Hörbuch darüber, was die Liebe vermag, was der Glaube vermag, was die Sprache vermag - und über die Kunst, Motorrad zu fahren.
Autorenporträt
Walser, Martin
Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden »Pour le Mérite« ausgezeichnet und zum »Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres« ernannt.
Trackliste
CD 1
1Ewald, ich heiße Percy00:06:34
2Am frühen Abend eines 24. December...00:03:40
3Jedes Mal wenn Percy aus dem Klinik-Wald...00:05:24
4Und sagte noch: Glaubwürdig sein...00:05:57
5Anklopfen musste Percy nicht.00:08:48
6Das Scherblinger Schweigen...00:07:03
7Ja, ja, ja, ja, sagte der Professor...00:07:13
8Am nächsten Tag klopfte Percy wieder...00:04:52
9Am siebten Tag der Percy-Besuche...00:07:04
10Dass Männer, auch viel jüngere...00:06:43
11Und in Stuttgart, gleich am ersten Abend...00:07:50
CD 2
1Auch wenn sie eine dumme Gans war...00:06:26
2Ja, sagte er, so ein Bahnsteig...00:06:58
3Sie nickte tapferer als sie sich fühlte.00:08:07
4Wenn Jungs duschen schau ich zu...00:07:02
5Neurologisch-psychiatrische Untersuchung00:06:03
6Nur dass du Bescheid weißt, sagte er...00:07:08
7Ewald reagierte nicht.00:06:58
8Wenn sie nicht mehr konnte...00:07:40
9Sag mit jetzt, wie es dem Hauptwerk...00:06:40
10Horch!00:05:22
CD 3
1Percy, dass du gerade heute...00:05:16
2Nichts verriet, dass sie ihn gehört...00:08:00
3Er zog seine Schuhe aus00:11:09
4Weil sie zum Schluss doch eher gerannt...00:07:53
5Frau Doktor Gern gab mir Tabletten00:07:58
6Nur dass Sie's wissen. Sehnsucht...00:08:12
7Jetzt lege ich los...00:07:07
8Mit diesen Blättern, die eine andere...00:07:49
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2011

Produziert ihr Kälte, ich produzier' Wärme

Das Evangelium des Martin Walser: In seinem neuen Roman bündelt der Schriftsteller die Themen seines Lebens. "Muttersohn" trägt diese große Bürde ohne falsche Gelassenheit.

Von Felicitas von Lovenberg

Es ist nie alles gesagt. Doch ab und zu erscheint ein Buch, das es zumindest versucht, das die Wesenssumme seines Autors zieht - im vollen Bewusstsein, dass sich dieser, seit er das Werk vollendet hat, schon wieder weiterbewegt, sich abermals verändert und weiter mit Leben, mit Stimmungen, Gedanken, Wissen angereichert haben wird. So ein Buch ist "Muttersohn", der in der kommenden Woche erscheinende neue Roman von Martin Walser: der Abguss einer quicklebendigen Skulptur.

Wohl kein anderer deutscher Autor der Gegenwart hat sich so oft selbst das Fell über die Ohren gezogen und ist dabei so unverwechselbar er selbst geblieben: eins und doppelt, Umriss und Schatten. In "Muttersohn" bündelt Walser nun all seine großen Themen, und das mit einem Intensitäts- und Identifikationsfuror sowie einer Sprachenergie, die alles tut, um die ihn schreckende Kategorie Alterswerk zu sprengen.

Es ist ein Hauptwerk voller Hauptfiguren. Wie bei Walser gewohnt sind schon deren Namen Schlüssel. Der "Muttersohn", dessen Evangelium hier erzählt wird, ist Anton Parcival Schlugen, genannt Percy, einziger Sohn von Josefine, genannt Fini. Ein Mann war für seine Geburt im Jahr 1977 nicht nötig: So hat Fini es Percy gesagt, und der Sohn hat den Glauben der Mutter zu seinem eigenen gemacht. Zum Glauben begabt wie andere zur Musik, sind ihm Zweifel fremd: "Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was."

Von der Liebe Finis in Einzigartigkeit gebadet und von wundersamen Ereignissen bestätigt, ist Percy beseelt von einem "Zu-viel-Gefühl", das er teilen und mitteilen will. Der "Engel ohne Flügel", als der er sich begreift, ist gelernter Krankenpfleger, seine Heilmethode eine das Gegenüber umfassend bestätigende Anwesenheit. Der Bejahte gibt die Zustimmung, die ihn einhüllt, an andere weiter. Die Wirkung ist enorm: "Du bist die Erleichterung", wie es einer ausdrückt. Percy hingegen nennt es messianisch: "Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin."

Der Roman setzt ein mit Percys Rückkehr ans Psychiatrische Landeskrankenhaus Scherblingen, das der gleichnamigen Abtei angegliedert ist. Patres, Patienten und Angestellte sind dort nicht unbedingt voneinander zu scheiden; schließlich neigt die Medizin ebenso zum Wahn wie der Glaube. Hier in der schönen Bodenseeregion wurde Percy einst ausgebildet von Professor Augustin Feinlein, hier ist er aufgrund seiner unkonventionellen Heilungserfolge ein Star. Nun hat Feinlein ihn bei einem besonders schweren Fall zu Hilfe geholt: ein Selbstmordkandidat, an den kein Herankommen ist. Sein Name ist Ewald Kainz, und wie sich herausstellt, hat Percy seit Jahren darauf gewartet, genau diesem Mann seine Geschichte zu erzählen, die in erster Linie die der Herkunft und der Josefs-Ehe seiner Mutter Fini ist, der souveränsten Figur dieses Romans.

Trotzdem bildet Percy in seiner heiteren Güte das helle Zentrum dieses Buchs. Ihn umkreisen zahlreiche weitere ausladende Charaktere. Ewald Kainz steht Percy als der Verneinte gegenüber. Kaum geboren, wollte die Mutter ihn ersticken; als Kind wurde er im Erziehungsheim vom Pfarrer verprügelt, als Lehrer unter Ideologieverdacht entlassen. Zwei Selbstmordversuche sind fehlgeschlagen, der dritte hat ihn nach Scherblingen gebracht. Kainz, einst ein eloquenter Redner, dem eine hingerissene Fini an einem Wintertag des Jahres 1973 einmal während einer Demonstration das Mikrofon gehalten und danach zahllose, niemals abgeschickte Briefe geschrieben hat, wurde zum Stotterer. Erst durch die Liebe der Chorleiterin und Logopädin Elsa fand er seine Stimme wieder. Ihre Ehe ähnelte einer einvernehmlichen Umklammerung, bis der Motorradlehrer Ewald die Psychotherapeutin Silvia kennenlernt und damit in einen tödlichen Zwiespalt gerät: "Silvi immer wieder. Elsa immer."

Percys Mentor Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein kennen Walser-Leser aus "Mein Jenseits", jener Novelle, die im Frühjahr vergangenen Jahres bereits einen Vorgeschmack auf diesen Roman bot und uns darin nun unverändert wiederbegegnet. Obwohl kompositorisch das ausgereifteste Kapitel, ist Feinleins Passion für "Muttersohn" nicht so wesentlich wie seinerzeit vermutet. "Mein Jenseits" erscheint eher als Variation des Leitmotivs in einer anderen Tonart. Denn auch Feinlein ist ein Verlassener: Die Frau, die er liebt, hat seinen Rivalen geheiratet, der ihm dann auch noch das Amt des Klinikdirektors raubt. Doch Feinlein hat einige für das Verständnis des Romans hilfreiche Sätze zu sagen: "Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist."

Es ist, als wollten Walsers Helden sämtlich testen, wie weit die Liebe trägt. "Muttersohn" erzählt vom Glauben als der Sehnsucht nach absolutem Angenommensein auf Erden. So lässt sich das Buch auf vielen Ebenen lesen: messianisch als Roman über vaterunabhängige Söhne und ihre Mütter. Als Geschichte über die ewige Mangelhaftigkeit der Liebe zwischen Männern und Frauen. Als Klage des Autors über sein Waisentum angesichts einer bestenfalls stiefmütterlichen Kritik. Und als Erneuerung von Walsers lebenslangem Glaubensbekenntnis: "Sprache ist nie bloß Mittel, sie ist immer auch Zweck." Dass sogar er den Zweck nicht immer beherrscht: das ist Walsersche Demut.

Zum Streben nach Geborgenheit gehört unausweichlich die - im Falle dieses Autors höchst produktive - Angst vor Abhängigkeit. Erst der Tod als "größtmögliche Distanz zu allem" erscheint Walsers "Nichtbeisichbleibenkönnern" als mögliche Erlösung aus dem ewigen Kreislauf des Angezogenseins und Sich-weggestoßen-Wähnens. "Muttersohn" strotzt nur so vor Existentialismen, Sätzen, die zu gut, zu wahrhaftig, zu markant sind, um nicht aufgeschrieben zu werden, auch von Formulierungen, bei denen einem mulmig werden kann. Als Martin Walser vor wenigen Tagen im "Stern" ankündigte, sich, wenn es so weit sei, in der Schweiz einen "anständigen Tod servieren" lassen zu wollen, spiegelten sich darin die Sterbephantasien von Ewald Kainz, nach dessen schließlich doch gelungenem Selbstmord Percy schreibt: "Es gibt Handlungen, die überhaupt nicht verantwortet werden müssen. Das darf sein: eine Handlung, die geschehen ist, ohne dass es dafür einen Schuldigen geben kann." Wobei es am Ende von "Muttersohn", dessen disparate Erzählstränge zum Ende hin radikal, ja geradezu brachial in einer Art Massensterben zusammengeführt werden, Schuldige zuhauf gibt - aber für deren Seelenheil ist der Roman dann konsequenterweise nicht mehr zuständig.

Zum Glück für den Leser ist die höhere Heiterkeit des "Wärmeproduzenten" Percy über die weiteste Strecke aber auch die seines Schöpfers, dem über dem Sinn für Wunder der für Witz nie abhandenkommt, von zärtlich bis ätzend. In "Muttersohn" bekommen die Spitzen vor allem die "Heruntermacher", stellvertretend für seine bisherigen und künftigen Kritiker, zu spüren, denen Percy unter anderem bei einem denkwürdigen Auftritt in einer Talkshow Saures gibt.

Außerdem wohnt unterm Dach der Anstalt Innozenz, Betreiber der Ofenküche und Erfinder der "Scherblinger Anthologie" sowie eines Schredders namens Oblomov. Innozenz hat eine Mission: "Die Scherblinger Anthologie ist die einzige Anthologie der Welt, in der keine Zeile veröffentlicht wird, die schon sonst wo zu lesen war! Gut, gell?" Sein Oblomov ist programmiert, "keine einzige Zeile ungelesen" zu vernichten. Denn: "Percy, es ist alles EIN TEXT. Keiner und keine darf ausgeschlossen sein." Jetzt muss nur noch ein Preis "für das beste Stück der Schredder-Literatur" her. Innozenz schwebt vor, dass eine prominente Jury den Text laudiert und dem Autor 50 000 Euro überreicht, "dann wird der Text vom Laudator Oblomov übergeben. Die Jurymitglieder sind verpflichtet, über den preisgekrönten und oblomovisierten Text keinerlei Mitteilung zu machen. So wird ein exemplarisches Textschicksal aufgeführt."

Innozenz, der den "Irrgarten der Wörter wieder zum Paradies" machen will, hat Walsers ganze Sympathie. Denn als Glaubensbuch ist dieser Roman natürlich auch ein großes Brausen der literarischen Götter des Autors. Fini, die Ergriffene und Ergreifende, spricht als Iphigenie, ihr Mann, der aller Welt misstrauende Hugo, als Arno Schmidt. Elsa singt den Simon aus Händels Oratorium "Judas Maccabaeus", und Percy ist als Zungenredner mit Mystikern wie Augustinus, Heinrich Seuse, Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg im Bunde. Und mittendrin steht Martin Walser als inbrünstiger Beglaubiger Hölderlins und Kleists, hingerissen vom Dasein als "einer unendlichen Folge von Augenblicken, Stimmungen, die sich eben nicht in ja oder nein spalten lassen", wie er es früher einmal ausgedrückt hat.

Am Ende stellt der Roman natürlich auch dem Leser die Glaubensfrage. Nicht nur die Welt ist schöner, wenn man ihr zustimmend begegnet, auch Literatur erlebt sich anders, wenn man dem Autor vertraut. Gewiss: Nach einem so geschlossenen Roman wie "Ein liebender Mann" wirkt "Muttersohn" streckenweise wie ein ungefüger Brocken. Nein, Walser ist nie eindeutig. Und legt sich doch dauernd fest, jede Aussage ist so wahr wie kurz darauf ihr Gegenteil. Aber wie die besten Alterswerke lebt auch dieses von der Kompromisslosigkeit, vom Wissen um die Endlichkeit, der unverstellten Dringlichkeit seiner Aussagen. Als Evangelium stellt dieses Werk keine Frage - es ist.

"Bekenntnisse kennen keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur den Augenblick, in dem sie ausgedrückt werden", sagt Percy. Im Fall von "Muttersohn" währt der Augenblick, solange dieser Roman gelesen wird - also für sehr lange Zeit.

Martin Walser: "Muttersohn". Roman.

Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 505 S., geb., 24,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.07.2011

Wo, bitte, geht’s hier zum Himmel?
Ein Buch wie eine Monstranz: In seinem neuen Roman „Muttersohn“ erzählt Martin Walser vom Leben Jesu als Krankenpfleger in Oberschwaben
In der Jugend, sagt ein persisches Sprichwort, gleiche der Mensch seiner Zeit; im Alter seinen Vorfahren. Wenn das auf irgendeinen Schriftsteller zutrifft, dann bestimmt auf Martin Walser. Als er, kaum dreißigjährig, in den Fünfzigern auftrat, da bescherte er der noch jungen Bundesrepublik ihren exemplarischen Gesellschaftsroman, erst die „Ehen in Philippsburg“ und dann die Anselm-Kristlein-Trilogie, mit dem Auftakt „Halbzeit“ von 1960.
Der scharfe Blick des Autors kam vom zornigen linken Flügel (lange stand Walser den deutschen Kommunisten nahe); aber der Protagonist selber erlebte das alles von innen heraus, als den Zwang, sich bei Strafe des Untergangs jeder der rasch wechselnden Lagen anzupassen wie ein Chamäleon. „Mimikry“ hieß ein Großkapitel; und die Figur des Anselm Kristlein entfaltete ihre peinigende Brillanz in der permanenten Selbstverleugnung des ökonomischen Subjekts. Sah man genau hin, erkannte man jedoch, wonach es sich stattdessen sehnte: Weg aus Stuttgart und München wollte es, zurück in ein Land und eine Zeit, die es schon damals nicht mehr gab, ins alte katholische Oberschwaben zwischen Donau und Bodensee, wo seine und des Autors Familie herstammten.
Jetzt, ein rundes halbes Jahrhundert später, gibt es sie wieder. Walser hat es so beschlossen. Sein Schreiben hat den Zorn wie den Zwang abgestreift, um sich seine Welt so zu bauen, wie er sie haben will. Dass die Realität des Jahres 2011 ihm dabei gewisse Hindernisse in den Weg stellt, erkennt er nur insofern an, als er das Zentrum des Geschehens in ein Psychiatrisches Landeskrankenhaus verlegt.
Aber bei diesem handelt es sich um ein altes Prämonstratenserkloster, das dessen Leiter, Prof. Dr. Augustin Feinlein, in der Art eines milden Prälaten zu leiten bemüht ist, war doch ein Vorfahr von ihm der letzte Abt gewesen, bevor das Kloster im Jahr 1803 säkularisiert, die Klosterbibliothek auf Ochsenkarren weggeführt und vernichtet wurde. Augustin Feinlein: Schon der Name verkündet, dass hier ein geträumtes Altersbild des nur unter Druck so wendig gewordenen Handlungsreisenden Anselm Kristlein vorliegt; nun ist der Druck (nicht ganz, sonst käme ja kein Roman zustande, aber doch weitgehend) von ihm gewichen, und er kann führen, was er immer wollte, die vita contemplativa eines Mönchs, ein Leben in der Beschaulichkeit.
Der eigentliche Held des Buchs aber ist Anton Percy Schlugen, oder, um die aussagekräftigere volle Form zu verwenden, Anton Parcival von Schlugen. Er ist der titelgebende „Muttersohn“, ohne die verächtliche Verkleinerungssilbe, dem bestimmt ist, auf Erden jenes Einmalige zu verrichten, das dem in einer Komplettfamilie herangewachsenen Normalmenschen versagt bliebe.
Dieser Muttersohn zeichnet sich dadurch aus, dass zu seiner Erzeugung ein Vater überhaupt nicht erforderlich war, bzw. dass es seiner Mutter Josefine gelang, seine Empfängnis allein durch Briefe zu bewerkstelligen, die sie an den von ihr angebeteten Ewald Kainz schrieb, aber nie abschickte. Percy heilt Kranke, die alle anderen aufgegeben haben; Percy, rhetorisch völlig ungeschult, hält spontane Ansprachen, die die Hörer im Herzen erschüttern; Percy sammelt (obschon erst spät im Buch) ein rundes Dutzend Jünger um sich, die sich als Motorradgang verkleiden, und einer von ihnen (der, der ihn am meisten liebt) verrät und tötet ihn: Percy, mit einem Wort, ist Jesus. Davor ist Walser nicht zurückgeschreckt, und dafür muss er den Preis entrichten, den alle Schriftsteller zu zahlen haben, die für den Sohn Gottes einen neuen Sitz im Leben suchen: Das göttliche Charisma verfliegt, und der neuzeitliche Roman gelangt sozusagen von Amts wegen nicht über einen ziemlich banalen Menschenkitsch hinaus.
Genau einmal durfte Percys Mutter für Ewald Kainz, als er bei einer Demonstration in den Siebzigern gegen die Berufsverbote sprach, das Mikrofon halten; das hat als Inspiration für ein ganzes Leben zu genügen. Doch erscheint Ewalds Engagement für die linke Sache vor allem als Ausgeburt einer höchstpersönlichen Not: Denn er hat mit seinem Stottern zu ringen. Nun ist er im Landeskrankenhaus gelandet, ganz verstummt, wo Percy, Krankenpfleger und sein Sohn in einem höheren Sinn, sich ihm mit seiner „Schlafsacktherapie“ naht, welche ganz auf Güte und Schweigen setzt. Man begeht wohl keine biografistische Indiskretion, wenn man vermutet, Walser, der seinen Vater früh verlor und eine besonders enge Beziehung zu seiner Mutter unterhielt, habe hier Aspekte seiner eigenen Existenz auf zwei Rollen verteilt, den politisch umgetriebenen jungen Walser als den Alten besetzt und den alten, der seinen Frieden mit der Welt gemacht hat, als den jungen Erlöser.
Muss Ewald als Percys geistiger Vater gelten, so Augustin Feinlein als sein geistlicher; von ihm lernt er die beiden wichtigsten Fertigkeiten, die das Band mit dem Himmel knüpfen, Orgelspielen und Latein. Wenn die Figuren einander über Seiten hinweg Jakob Böhme und Swedenborg, Heinrich Seuse und Augustinus, aber auch Goethes Iphigenie, Arno Schmidt und Rilke vorlesen oder noch lieber auswendig rezitieren, trägt das zum Fortgang des Romans so gut wie nichts bei; offenbar erweist hier der Autor Walser den anderen Autoren die Reverenz, wie wenn er Büsten von ihnen in seinem Arbeitszimmer aufstellen würde. Es macht deutlich, dass Walser sein neues Buch höchstens noch zur Hälfte als eine öffentliche und literarische Angelegenheit betrachtet, vorwiegend jedoch als eine Privatsache, in die er die Leserschaft nur wie durch eine angelehnte Tür blicken lässt. (Sogar Lyrik teilt Walser auf diesem Weg mit; sie klingt, als ob einer, der sich allein glaubt, stillvergnügt vor sich hin summt.)
Darum nehmen die Mystiker unter seinen Gewährsleuten eine so herausgehobene Stellung ein. Nicht, als ob Walser selbst ein solcher wäre. Aber das mystische Erlebnis liegt doch insoweit auf seiner Linie, als es sich Anderen schlechterdings nicht mitteilen lässt und von ihm nur der Abglanz des indirekten Ausdrucks nach außen dringt. Bei Walser kommt eine trotzige Note hinzu. Als Motto des dritten Teils, „Mein Jenseits“ (der bereits letztes Jahr als selbständiges Buch herauskam), setzt er ein Zitat von Jakob Böhme: „Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben.“
Das ist mehr, als ein bei Rowohlt publizierender Autor in Anspruch nehmen sollte. Es heißt die Freiheit des hohen Alters dann doch übertreiben und sich der Unbelangbarkeits-Erschleichung schuldig zu machen. In dieser Verquickung des öffentlichen Raums mit dem Bloß-Persönlichen gleicht Walser seinem Augustin Feinlein, der die Monstranz mit der Heilig-Blut-Reliquie aus der Stiftskirche stiehlt, um sie vor dem Unverständnis der Gegenwart in Sicherheit zu bringen. „Die herablassende Duldung, mit der die Gebildeten, egal ob kirchlich oder weltlich, die Reliquie als ein Relikt behandeln, das nur noch Peinlichkeiten bereitet, wann immer es irgendwo genannt werden muss. Für Theologen eine Torheit, für aufgeklärte Zeitgenossen ein Ärgernis.“
Der Apostel Paulus, von dem Walser den letzten Satz in leichter Abwandlung entlehnt hat, fährt fort: Wir aber predigen Christus den Gekreuzigten. Walser und sein Feinlein hingegen haben dem Ärgernis und der Torheit nur ihr hochfahrendes Ich entgegenzusetzen. Glaubenkönnen, sagt Feinlein, das sei so etwas wie Musikalität: Der eine hat sie, der andere nicht, und wer nicht, dem fehlt was, ohne dass er es wüsste. So würde ein wahrer Gläubiger nicht sprechen, der seinen Glauben als widerfahrende Gnade statt als ihm gehöriges Talent begriffe. Dass Feinlein erwischt und daraufhin vom Klinikleiter zum Fall degradiert wird, betrachtet er als einen so unabwendbaren wie gleichgültigen Vorgang. Aber was es mit derartiger Weltabkehr bei Walser wirklich auf sich hat, zeigt sich, als Percy-Jesus mit seiner innigen Botschaft in einer Talkshow auftritt. „Percy: (...) Ein Mensch ist in jedem Augenblick alles, was er sein kann. Wenn man ihn reduziert auf das, was man über ihn wissen kann, ist es möglich, dass auch er sich selber nachher produziert als die Datei, die ihr aus ihm gemacht habt. (Vereinzelt Beifall aus dem Publikum.)“
Der Beifall bleibt dann keineswegs vereinzelt, das Publikum kommt in Schwung, lacht und klatscht und „(stimmt zu, ziemlich lebhaft)“. Hier ist eine Eitelkeit am Werk, die tut, als ob sie ihre Wirkungen nicht bemerkt, um sie insgeheim doch mit einem Taschenspiegel zu kontrollieren. Und es kann passieren, dass Percy plötzlich aus der Rolle des Allliebenden und Allesverzeihenden fällt und in seiner Predigt über die „Heruntermacher“ und das „Heruntermachen“ vom Leder zieht, sechzehnmal auf anderthalb Seiten. Da spürt man des Autors notorischen Groll durch, der sich regt, sooft ihm einer seine arglose Rührung nicht aufs Wort glauben mag.
Das Buch arbeitet sich ab an einem widersprüchlichen Vorsatz, den man mit nur geringer Überspitzung vielleicht so formulieren könnte: Dieser Autor will, dass man ihm dabei zuschaut, wie er sich selbst genügt. Es wäre trotzdem kein Walser-Buch, wenn in ihm nicht immer wieder auch erstaunliche Stellen und Formulierungen zu finden wären wie diese: „Meine Oberlippe kommt nicht in Frage, verglichen mit Deiner Oberlippe. Oberlippe, das kommt mir bei Dir vor wie eine Steigerung von Lippe.“ So schreibt Percy Liebesbriefe, wenn sein Schöpfer ihn nicht gerade zum Predigen verdonnert.
Hier flammt noch einmal des Autors alte Gabe auf, sich erotisch hinreißen zu lassen und bis zum Schamlosen an ein Du zu verlieren. Aber das Buch hat fünfhundert Seiten, auf denen beherrschend drei Walsersche Spiegel- und Wunschfiguren – Percy, Feinlein, Kainz – agieren. Als ein gelungenes sollte man es nach alledem nicht bezeichnen; nicht zuletzt, weil es ein landläufiges Gelingen gar nicht im Sinn hatte. Vielleicht sollte man ihm in Walsers überaus umfangreichem, mehr als ein halbes Jahrhundert umspannendem Werk einen Sonderplatz anweisen, ähnlich wie es sonst mit Briefen und Tagebüchern geschieht: als eine Alters-Apokryphe, einen Schatten am Rande des eigentlichen Corpus von Text und Mensch, der dessen Licht Kontur und Tiefe gibt.
BURKHARD MÜLLER
MARTIN WALSER: Muttersohn. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 505 Seiten, 24,95 Euro.
Die hier angewandte
„Schlafsacktherapie“ setzt ganz
auf Güte und Schweigen
Dieser Autor will, dass man
ihm dabei zuschaut,
wie er sich selbst genügt
Im neuen Roman von Martin Walser (links) nimmt Ewald Kainz mit seinem Motorrad an einer Ballon-Verfolgungsfahrt teil: „Der Ballon war immer noch rechts vor uns in der Höhe. Wenn das so weiterging, kämen wir auch noch durch Amtzell! Aber das doch nicht.“
Fotos (2): Felix Kaestle/dapd (links), Rex Features LTD/action press 
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Bei bester Laune hat Rezensent Adam Soboczynski Martin Walser in diesem Roman erlebt, denn wenn auch andere Autoren im Alter zu formaler Strenge neigen, pflege Walser eher die menschenfreundliche Heiterkeit. Sehr verspielt geht es also bei "Mutttersohn" zu, biografisch und sehr anspielungsreich. Der Roman erzählt vom "anmutigen und würdevollen" Percy Anton, der angeblich ohne Vater gezeugt wurde und in seiner edlen Einfalt sowohl einem Talkshow-Publikum wie auch den Patienten in der Nervenklinik, in der er als Pfleger arbeitet, Trost und Glauben spendet. Um diesen Percy Anton herum baut Walser etliche Ärzte und Patienten, deren psychische Probleme Walser freudig entfaltet, wie sich Rezensent Soboczynski freut, denen er aber auch das "Glück gnädiger Vernebelung" zuteil werden lässt.

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Ein großer Wurf. Welt am Sonntag