Am Anfang steht eine SMS: "Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe euch." Innenminister Selden erhält sie von seiner Tochter und weiß nicht, ob es ein grausamer Scherz oder der modernste aller Albträume ist. Private Tragödie und politische Krise fallen ineinander, doch Selden weigert sich lange, dies anzuerkennen...
"Dietmar Bär liest kraftvoll und klug nuanciert." Sächsische Zeitung, Dresden
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2008Mobilmachen für Leitartikel
Ein Flugzeugabsturz, ein Arbeitskampf, eine Intrige, ein Scherenattentat und lauter Pressekonferenzen: Michael Kumpfmüllers politischer Roman „Nachricht an alle” findet für seinen Stoff keine Form Von Ijoma Mangold
Dies ist das Buch, nach dem man immer verlangt hat. Der große politische Zeitroman, der es mit der Wirklichkeit und ihren atemberaubenden Veränderungen aufnimmt, der einen Gegenstand hat, welcher die selbstreferentielle Perspektive privater Befindlichkeitsprosa hinter sich lässt, der diesen Stoff, der auf der Straße liegt und der unsere Zeitgenossenschaft ausmacht, aufgreift und romanhaft gestaltet. Schluss mit der Innerlichkeit, dazu ist die Realität viel zu spannend.
Aber wie im Märchen mit der Fee gilt auch in der Literatur: Du sollst dir nichts wünschen!
Das neue Buch von Michael Kumpfmüller, „Nachricht an alle”, ist ein politischer Roman. Und er hat bereits als Manuskript 2007 den Alfred-Döblin-Preis erhalten. Kumpfmüller will das Genre des Romans nutzen, um etwas über die Funktionsweise von Politik zu erfahren, was die ritualisierte Politikberichterstattung nicht in den Blick bekommt. Eine Strukturebene, auf der sowohl das Systemische der Politik als auch der privat-seelische Anteil ihrer Aktanten zur Erscheinung kommt. Der Roman ist in seinem Zugriff ambitioniert und skrupulös. Weder fatalisiert er die Politik, noch betreibt er eine Entlarvungsstrategie, bei der am Ende nur die Macht-, Geld- und Sexgier übrig bleibt. Weder will Kumpfmüller neues Futter für Politikverdrossenheit liefern, noch die Politik als den Bereich des Möglichen überschätzen. Er will einem komplexen Gegenstand auf der Höhe von dessen Komplexität gerecht werden. Das gelingt ihm nicht.
Denn statt eine poetologische Antwort auf die Herausforderung der Komplexität zu wagen, verlagert er sich auf die Stoffhuberei der Totalität: Alle Ebenen des Lebens sollen gleichzeitig erklingen, die Macht, die Ökonomie, die Medien, die Utopien, die Liebe, der Sex, die Einsamkeit und die Sinnsuche. Als ein dichtes Netz mit nicht steuerbaren Interdependenzen soll die Politik greifbar werden. Und Kumpfmüller will, seinem Totalitätsanspruch folgend, auch zeigen, wie alles mit allem zusammenhängt. So wird wirklich jedes Thema, das die Leitartikel der vergangenen zehn Jahre angetippt haben, in den Roman eingespeist. Eine Form allerdings, die diese Stofffülle deutbar machte, findet Kumpfmüller nicht. Und er hat auch keine Sprache, die mehr wahrnehmen ließe, als in einem einfühlsamen Leitartikel steht.
Der Roman beginnt („fange mit einem Erdbeben an und steigere dich langsam”) mit dem Absturz eines Passagierflugzeugs. In dem Flugzeug sitzt Anisha, die Tochter Seldens, Innenminister eines namenlosen, fiktiven westeuropäischen Landes. Die Absturzursache ist nicht ganz klar. Der Minister, den vor dem Aufprall der Maschine noch eine letzte SMS seiner Tochter erreicht, vermutet zuerst einen islamistischen Hintergrund. Ist die harte Linie, die der Innenminister in Sachen Terrorabwehr fährt, womöglich privat motiviert?
Dann geht es weiter mit Hannah, einer jungen Journalistin. Sie ist für ein Nachrichtenmagazin unterwegs zu einem Lokomotiven-Werk, das geschlossen werden soll. Die Arbeiter haben sich ans Fabrik-Tor gekettet. Es könnte sein, dass die Situation eskaliert und der Streik sich zu einer umfassenden sozialen Rebellion aufschwingt. Der Innenminister ist auch im Visier, schließlich hat er die Privatisierungs- und Reformpolitik mitzuverantworten: „Ende der Badewannenpolitik, so nannte er es. Einfach kein heißes Wasser mehr nachlaufen lassen, dafür mehr kaltes. Dann sehen wir ja, ob es zu Bewegungen kommt.” Währenddessen formiert sich der jugendlich-unzufriedene Mob, der locker mit Attac assoziiert ist, aber vor allem ein wenig Lebenssinn und Gefühlsintensität durch Randale sucht. Auch die Gewerkschaften drohen, der Regierung ihre Unterstützung zu entziehen. Nick aber, der Premier, hat offenbar Angst, Selden, sein zweiter Mann, könnte ihm gefährlich werden. Also lässt er nach kompromittierendem Material recherchieren. Und, ja, da gibt es tatsächlich eine kleine schmutzige Geschichte. Lynn heißt sie, manchmal trifft Selden sie bei Dienstreisen im Hotel, „friendly fucking”. Das belastende Material ist dürftig, aber das interessiert die Presse nicht. Sie kocht daraus ihr Süppchen.
Während dessen hat der Innenminister, dessen malende Ehefrau auch wirklich ein bisschen nervt, eine stärker innerlichkeitszentrierte Beziehung mit der Journalistin Hannah. Als beide auf einer Insel Entspannung suchen, kommt es zu einem Attentat. Ein irregeleitetes Mädchen fällt den Minister mit einer Schere an. Die Bodyguards haben gepennt, zum Glück verfehlt die Schere die Hauptschlagader nur knapp. Der Minister überlebt. Anders als Tarsa, eine Schauspielschülerin, die mit ihrem Idealismus an der Wirklichkeit verzweifelt. Sie will ein Zeichen setzen gegen alle Ungerechtigkeiten dieser Welt. Sie verbrennt sich in aller Öffentlichkeit. Zum Glück kommt dann eine große Flut, die den Innenminister politisch rettet. Nur was motiviert ihn selber? Das weiß er nicht so genau. Manchmal grübelt Selden ein bisschen, von wegen Lebenssinn, aber das legt sich dann auch wieder.
Kurz vor Ende des Romans befasst sich Hannah noch mit Zwangsprostitution aus der Ukraine, bekommt von Selden einen Sohn, und das Schlusskapitel entwirft andeutungsweise ein apokalyptisches Szenario, in dem die Innenstädte gesperrt sind, es zu viele Alte gibt, weshalb der Staat eine ominöse Fristenlösung durchgesetzt hat, während die pensionierte Funktionselite in streng bewachten Reservaten ihrem Ende entgegendämmert. Der gemeinsame Sohn von Hannah und Selden ist mittlerweile Anwalt, hat einen ordentlichen Ödipuskomplex und lebt mit einer Frau zusammen, die völlig unbegreiflicherweise Anisha heißt, wie die Tochter des Innenministers, die am Anfang des Romans im Flugzeug verunglückte. Welcher Kreis sich damit schließt, wissen die Götter.
Ein erheblicher erzählerischer Aufwand, aber der Stoff liegt wie tot vor dem Leser. Obwohl so viel passiert, fehlt dem Roman jeder Spannungsbogen. Denn die Ereignisse dürfen sich nie in zu klarer Ursache-Wirkung-Relation aufeinander beziehen, das wäre zu grob für die behauptete Komplexität. Das Deutungsmuster, das der Roman stattdessen bietet, lautet, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt, echte Sinnstiftung aber nicht möglich ist, weshalb es darauf ankommt, den nächsten Schritt zu machen, ohne zynisch zu werden. Keiner ist letztverantwortlich, niemand dämonisch machtversessen, alles folgt einer Systemlogik, die deprimierend ist, aber mit der man zumindest soweit leben kann, dass jede dagegen opponierende Rebellion auch nicht attraktiver erscheint. Der Roman erreicht so einen Grad der Abgebrühtheit, den man rühmen müsste, wäre er auch nur irgendwie erkenntnisstiftend.
Michael Kumpfmüller
Nachricht an alle
Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 384 Seiten, 19,95 Euro.
Wie funktioniert das politische System? Die Führungselite muss sich fotografieren lassen, wie sie Entscheidung-Fällen spielt, während sie in Wahrheit kaum etwas verändern kann. Doch zu einfach? Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ein Flugzeugabsturz, ein Arbeitskampf, eine Intrige, ein Scherenattentat und lauter Pressekonferenzen: Michael Kumpfmüllers politischer Roman „Nachricht an alle” findet für seinen Stoff keine Form Von Ijoma Mangold
Dies ist das Buch, nach dem man immer verlangt hat. Der große politische Zeitroman, der es mit der Wirklichkeit und ihren atemberaubenden Veränderungen aufnimmt, der einen Gegenstand hat, welcher die selbstreferentielle Perspektive privater Befindlichkeitsprosa hinter sich lässt, der diesen Stoff, der auf der Straße liegt und der unsere Zeitgenossenschaft ausmacht, aufgreift und romanhaft gestaltet. Schluss mit der Innerlichkeit, dazu ist die Realität viel zu spannend.
Aber wie im Märchen mit der Fee gilt auch in der Literatur: Du sollst dir nichts wünschen!
Das neue Buch von Michael Kumpfmüller, „Nachricht an alle”, ist ein politischer Roman. Und er hat bereits als Manuskript 2007 den Alfred-Döblin-Preis erhalten. Kumpfmüller will das Genre des Romans nutzen, um etwas über die Funktionsweise von Politik zu erfahren, was die ritualisierte Politikberichterstattung nicht in den Blick bekommt. Eine Strukturebene, auf der sowohl das Systemische der Politik als auch der privat-seelische Anteil ihrer Aktanten zur Erscheinung kommt. Der Roman ist in seinem Zugriff ambitioniert und skrupulös. Weder fatalisiert er die Politik, noch betreibt er eine Entlarvungsstrategie, bei der am Ende nur die Macht-, Geld- und Sexgier übrig bleibt. Weder will Kumpfmüller neues Futter für Politikverdrossenheit liefern, noch die Politik als den Bereich des Möglichen überschätzen. Er will einem komplexen Gegenstand auf der Höhe von dessen Komplexität gerecht werden. Das gelingt ihm nicht.
Denn statt eine poetologische Antwort auf die Herausforderung der Komplexität zu wagen, verlagert er sich auf die Stoffhuberei der Totalität: Alle Ebenen des Lebens sollen gleichzeitig erklingen, die Macht, die Ökonomie, die Medien, die Utopien, die Liebe, der Sex, die Einsamkeit und die Sinnsuche. Als ein dichtes Netz mit nicht steuerbaren Interdependenzen soll die Politik greifbar werden. Und Kumpfmüller will, seinem Totalitätsanspruch folgend, auch zeigen, wie alles mit allem zusammenhängt. So wird wirklich jedes Thema, das die Leitartikel der vergangenen zehn Jahre angetippt haben, in den Roman eingespeist. Eine Form allerdings, die diese Stofffülle deutbar machte, findet Kumpfmüller nicht. Und er hat auch keine Sprache, die mehr wahrnehmen ließe, als in einem einfühlsamen Leitartikel steht.
Der Roman beginnt („fange mit einem Erdbeben an und steigere dich langsam”) mit dem Absturz eines Passagierflugzeugs. In dem Flugzeug sitzt Anisha, die Tochter Seldens, Innenminister eines namenlosen, fiktiven westeuropäischen Landes. Die Absturzursache ist nicht ganz klar. Der Minister, den vor dem Aufprall der Maschine noch eine letzte SMS seiner Tochter erreicht, vermutet zuerst einen islamistischen Hintergrund. Ist die harte Linie, die der Innenminister in Sachen Terrorabwehr fährt, womöglich privat motiviert?
Dann geht es weiter mit Hannah, einer jungen Journalistin. Sie ist für ein Nachrichtenmagazin unterwegs zu einem Lokomotiven-Werk, das geschlossen werden soll. Die Arbeiter haben sich ans Fabrik-Tor gekettet. Es könnte sein, dass die Situation eskaliert und der Streik sich zu einer umfassenden sozialen Rebellion aufschwingt. Der Innenminister ist auch im Visier, schließlich hat er die Privatisierungs- und Reformpolitik mitzuverantworten: „Ende der Badewannenpolitik, so nannte er es. Einfach kein heißes Wasser mehr nachlaufen lassen, dafür mehr kaltes. Dann sehen wir ja, ob es zu Bewegungen kommt.” Währenddessen formiert sich der jugendlich-unzufriedene Mob, der locker mit Attac assoziiert ist, aber vor allem ein wenig Lebenssinn und Gefühlsintensität durch Randale sucht. Auch die Gewerkschaften drohen, der Regierung ihre Unterstützung zu entziehen. Nick aber, der Premier, hat offenbar Angst, Selden, sein zweiter Mann, könnte ihm gefährlich werden. Also lässt er nach kompromittierendem Material recherchieren. Und, ja, da gibt es tatsächlich eine kleine schmutzige Geschichte. Lynn heißt sie, manchmal trifft Selden sie bei Dienstreisen im Hotel, „friendly fucking”. Das belastende Material ist dürftig, aber das interessiert die Presse nicht. Sie kocht daraus ihr Süppchen.
Während dessen hat der Innenminister, dessen malende Ehefrau auch wirklich ein bisschen nervt, eine stärker innerlichkeitszentrierte Beziehung mit der Journalistin Hannah. Als beide auf einer Insel Entspannung suchen, kommt es zu einem Attentat. Ein irregeleitetes Mädchen fällt den Minister mit einer Schere an. Die Bodyguards haben gepennt, zum Glück verfehlt die Schere die Hauptschlagader nur knapp. Der Minister überlebt. Anders als Tarsa, eine Schauspielschülerin, die mit ihrem Idealismus an der Wirklichkeit verzweifelt. Sie will ein Zeichen setzen gegen alle Ungerechtigkeiten dieser Welt. Sie verbrennt sich in aller Öffentlichkeit. Zum Glück kommt dann eine große Flut, die den Innenminister politisch rettet. Nur was motiviert ihn selber? Das weiß er nicht so genau. Manchmal grübelt Selden ein bisschen, von wegen Lebenssinn, aber das legt sich dann auch wieder.
Kurz vor Ende des Romans befasst sich Hannah noch mit Zwangsprostitution aus der Ukraine, bekommt von Selden einen Sohn, und das Schlusskapitel entwirft andeutungsweise ein apokalyptisches Szenario, in dem die Innenstädte gesperrt sind, es zu viele Alte gibt, weshalb der Staat eine ominöse Fristenlösung durchgesetzt hat, während die pensionierte Funktionselite in streng bewachten Reservaten ihrem Ende entgegendämmert. Der gemeinsame Sohn von Hannah und Selden ist mittlerweile Anwalt, hat einen ordentlichen Ödipuskomplex und lebt mit einer Frau zusammen, die völlig unbegreiflicherweise Anisha heißt, wie die Tochter des Innenministers, die am Anfang des Romans im Flugzeug verunglückte. Welcher Kreis sich damit schließt, wissen die Götter.
Ein erheblicher erzählerischer Aufwand, aber der Stoff liegt wie tot vor dem Leser. Obwohl so viel passiert, fehlt dem Roman jeder Spannungsbogen. Denn die Ereignisse dürfen sich nie in zu klarer Ursache-Wirkung-Relation aufeinander beziehen, das wäre zu grob für die behauptete Komplexität. Das Deutungsmuster, das der Roman stattdessen bietet, lautet, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt, echte Sinnstiftung aber nicht möglich ist, weshalb es darauf ankommt, den nächsten Schritt zu machen, ohne zynisch zu werden. Keiner ist letztverantwortlich, niemand dämonisch machtversessen, alles folgt einer Systemlogik, die deprimierend ist, aber mit der man zumindest soweit leben kann, dass jede dagegen opponierende Rebellion auch nicht attraktiver erscheint. Der Roman erreicht so einen Grad der Abgebrühtheit, den man rühmen müsste, wäre er auch nur irgendwie erkenntnisstiftend.
Michael Kumpfmüller
Nachricht an alle
Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008. 384 Seiten, 19,95 Euro.
Wie funktioniert das politische System? Die Führungselite muss sich fotografieren lassen, wie sie Entscheidung-Fällen spielt, während sie in Wahrheit kaum etwas verändern kann. Doch zu einfach? Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2008Der Minister als Mensch und großer Kümmerer
Aliens im Raumschiff Berlin: Michael Kumpfmüller versucht vergeblich, den politischen Roman wiederzubeleben / Von Martin Halter
Ein Film, heißt es in Hollywood, muss mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. "Nachricht an alle" beginnt nicht schlecht mit einem Flugzeugabsturz. "Wir stürzen ab", schreibt Anisha in ihrer SMS, "betet für mich." Selden, ihr Vater, ist außer sich, schon weil ein Terroranschlag ihn auch als Innenminister träfe. Aber es war nur ein normales Unglück, und so macht er bald wieder Politik als Beruf, Berufung und Routine: Sitzungen, Interviews, Beratungen mit seinem persönlichen Referenten Per und seinem Parteichef Nick, Loyalitäten ausloten, Intrigen kontern, Lunten austreten, Aufstände niederschlagen. "Krawalle belebten ihn. Er langweilte sich nicht mehr."
Unklar bleibt nur, wie eine bizarre Regenbogenkoalition aus streikenden Arbeitern, Studenten, Unterschichten-Mob, Aktionskünstlern, islamischen Kofferbombern und Globalisierungskritikern den Staat fast an den Rand des Zusammenbruchs bringen konnte. Als die Revolution plötzlich verebbt, muss Selden sich einen anderen Kick suchen. Hannah, eine der wenigen verantwortungsvollen Journalistinnen unter lauter Aasgeiern und Besserwissern, bietet sich als Ersatz für die schwedische Geliebte und die Ehefrau an. Britta sitzt einsam und verbittert zu Hause und reagiert Klimakterium und Ehefrust mit spitzen Bemerkungen beim Frühstück und Malen ab.
Deutsche Minister wollen sich in Selden begreiflicherweise ungern wieder erkennen. Wolfgang Schäuble sprach von Klischees, Gerhard Baum und Joschka Fischer vermissten bei Kumpfmüllers Hauptfigur die Visionen. Aber braucht ein Funktionsträger der Macht Visionen? Selden ist kein Unmensch; er ist klug, diskret, kompetent. Kumpfmüller hat spürbar Respekt vor den Männern, die sich für unsere Bequemlichkeit und Sicherheit den "Arsch aufreißen", Seele, Leib und Leben hingeben, während die Klugscheißer und Empörungsathleten in den Redaktionen nur Maulaffen feilhalten.
Gut, der Mann kann mit Eisprung und Schwangerschaft nicht viel anfangen und hält sich Menschen und Realität mit Leibwächtern, Bunkern und Panzerglas vom Leib. Manchmal weiß er selber nicht mehr, ob er noch am Leben oder selber schon Panzer ist. Aber er ist auch ein "großer Kümmerer": Während "die da unten" immer nur fragen, was der Sozialstaat für sie tun kann, tut Selden etwas für sein Land. Selbst wenn man ihm dafür Bierdosen und böse Worte an den Kopf wirft und Mania, eine psychisch labile Autonome, die sich für die heilige Maria hält, ein Messer in den Hals rammt.
Es gibt vermutlich kein Land, in dem die Politiker so einsilbig geschlechtslose Namen wie Per, Thor, Nick, Beck oder Holms tragen; selbst die Untergrundkämpfer nennen sich Rubber, Tick, Trick und Track. Kumpfmüller wollte einen politischen Roman von hier und heute schreiben, oder sagen wir: einen über Struktur und Personal postheroischer Politik, und das konnte nach Lage der Dinge im Raumschiff Berlin nur ein Ufo mit vage leuchtenden Außerirdischen und Comic-Figuren werden.
Weil es kein Schlüsselroman werden durfte, passen nun alle und kein Schlüssel. Selden trägt Züge von Sarkozy (brennende Autos als Lebenselixier) und Schäuble (Terrorismus als politische Obsession und persönliches Trauma); mit Schily teilt er die linke Vergangenheit, mit Lafontaine die Narbe am Hals, mit Schröder die Brioni-Anzüge. Dennoch bleibt er so unfassbar diffus, dass er nicht mal beim Sex weiß, ob er drinnen oder draußen ist. Selden ist der ideelle Gesamtpolitiker, ein Frankenstein-Monster, zusammengeflickt aus Leichenteilen und Zitaten, künstlich belebt durch das Scheinwerferlicht der Kameras und die galvanischen Ströme der Talkshows.
Kumpfmüller hat für seinen Roman Sabine Christiansen und Anne Will zugeschaut, Politiker interviewt, Luhmann und Machiavelli gelesen. Die Recherchen kommen mehr der Beschreibung der Kulissen, der Analyse der Mechanismen zugute als der Figurenzeichnung. Manchmal liest sich das wie ein "Zeit"-Leitartikel über Legitimitätskrisen der Demokratie im Medienzeitalter. Insofern ist "Nachricht an alle" tatsächlich der politische Roman des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Nicht so hoffnungslos romantisch wie Koeppens "Treibhaus", nicht so moralisch wie Böll oder Grass, aber auch nicht so aufregend schnell und messerscharf wie vor kurzem Ulrich Peltzers "Teil der Lösung".
Wie bei Peltzer und Don DeLillo wird auch in Kumpfmüllers Niemandsland alles Leben vom weißen Rauschen der Medien verschluckt und von subversiven Müll- und Happeningspezialisten wieder ausgegraben: So verbrennt sich eine Aktionskünstlerin selber, um das endlose Spiel der leeren Zeichen mit einer authentischen Geste zu unterbrechen; aber selbst ihr Tod ist nur ein Zitat. Selbst der Asket DeLillo konnte zuletzt in "Falling Man" die Simulationen symbolischer Politik kaum noch in Handlung, Anschauung und Erzählung übersetzen. Umso mehr gilt das für einen eher barocken Autor wie Kumpfmüller, der seinen Bericht aus der Werkstatt der Macht gern mit Sätzen wie "Etwas ging nicht weit genug", "Ein schwarzes Loch war eine abstrakte Tatsache" oder "Alles war Struktur, Kampf gegen Windmühlen" schmückt.
Kumpfmüller beschreibt nüchtern, sachlich und kühl eine kalte, sachliche Welt, in der die Wirklichkeit, mit Brecht zu sprechen, längst "in die Funktionale gerutscht" ist. Liebe und Tod sind nur kleine Störungen in einem ort- und zeitlosen Betriebssystem. Vielleicht funktioniert Politik heute wirklich so. Aber von einem politischen Roman erwartet man doch mehr als Mimikry an die Sprache der Zombies und Aliens in einem unidentifizierbaren Flugobjekt über Berlin.
Michael Kumpfmüller: "Nachricht an alle". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 383 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aliens im Raumschiff Berlin: Michael Kumpfmüller versucht vergeblich, den politischen Roman wiederzubeleben / Von Martin Halter
Ein Film, heißt es in Hollywood, muss mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. "Nachricht an alle" beginnt nicht schlecht mit einem Flugzeugabsturz. "Wir stürzen ab", schreibt Anisha in ihrer SMS, "betet für mich." Selden, ihr Vater, ist außer sich, schon weil ein Terroranschlag ihn auch als Innenminister träfe. Aber es war nur ein normales Unglück, und so macht er bald wieder Politik als Beruf, Berufung und Routine: Sitzungen, Interviews, Beratungen mit seinem persönlichen Referenten Per und seinem Parteichef Nick, Loyalitäten ausloten, Intrigen kontern, Lunten austreten, Aufstände niederschlagen. "Krawalle belebten ihn. Er langweilte sich nicht mehr."
Unklar bleibt nur, wie eine bizarre Regenbogenkoalition aus streikenden Arbeitern, Studenten, Unterschichten-Mob, Aktionskünstlern, islamischen Kofferbombern und Globalisierungskritikern den Staat fast an den Rand des Zusammenbruchs bringen konnte. Als die Revolution plötzlich verebbt, muss Selden sich einen anderen Kick suchen. Hannah, eine der wenigen verantwortungsvollen Journalistinnen unter lauter Aasgeiern und Besserwissern, bietet sich als Ersatz für die schwedische Geliebte und die Ehefrau an. Britta sitzt einsam und verbittert zu Hause und reagiert Klimakterium und Ehefrust mit spitzen Bemerkungen beim Frühstück und Malen ab.
Deutsche Minister wollen sich in Selden begreiflicherweise ungern wieder erkennen. Wolfgang Schäuble sprach von Klischees, Gerhard Baum und Joschka Fischer vermissten bei Kumpfmüllers Hauptfigur die Visionen. Aber braucht ein Funktionsträger der Macht Visionen? Selden ist kein Unmensch; er ist klug, diskret, kompetent. Kumpfmüller hat spürbar Respekt vor den Männern, die sich für unsere Bequemlichkeit und Sicherheit den "Arsch aufreißen", Seele, Leib und Leben hingeben, während die Klugscheißer und Empörungsathleten in den Redaktionen nur Maulaffen feilhalten.
Gut, der Mann kann mit Eisprung und Schwangerschaft nicht viel anfangen und hält sich Menschen und Realität mit Leibwächtern, Bunkern und Panzerglas vom Leib. Manchmal weiß er selber nicht mehr, ob er noch am Leben oder selber schon Panzer ist. Aber er ist auch ein "großer Kümmerer": Während "die da unten" immer nur fragen, was der Sozialstaat für sie tun kann, tut Selden etwas für sein Land. Selbst wenn man ihm dafür Bierdosen und böse Worte an den Kopf wirft und Mania, eine psychisch labile Autonome, die sich für die heilige Maria hält, ein Messer in den Hals rammt.
Es gibt vermutlich kein Land, in dem die Politiker so einsilbig geschlechtslose Namen wie Per, Thor, Nick, Beck oder Holms tragen; selbst die Untergrundkämpfer nennen sich Rubber, Tick, Trick und Track. Kumpfmüller wollte einen politischen Roman von hier und heute schreiben, oder sagen wir: einen über Struktur und Personal postheroischer Politik, und das konnte nach Lage der Dinge im Raumschiff Berlin nur ein Ufo mit vage leuchtenden Außerirdischen und Comic-Figuren werden.
Weil es kein Schlüsselroman werden durfte, passen nun alle und kein Schlüssel. Selden trägt Züge von Sarkozy (brennende Autos als Lebenselixier) und Schäuble (Terrorismus als politische Obsession und persönliches Trauma); mit Schily teilt er die linke Vergangenheit, mit Lafontaine die Narbe am Hals, mit Schröder die Brioni-Anzüge. Dennoch bleibt er so unfassbar diffus, dass er nicht mal beim Sex weiß, ob er drinnen oder draußen ist. Selden ist der ideelle Gesamtpolitiker, ein Frankenstein-Monster, zusammengeflickt aus Leichenteilen und Zitaten, künstlich belebt durch das Scheinwerferlicht der Kameras und die galvanischen Ströme der Talkshows.
Kumpfmüller hat für seinen Roman Sabine Christiansen und Anne Will zugeschaut, Politiker interviewt, Luhmann und Machiavelli gelesen. Die Recherchen kommen mehr der Beschreibung der Kulissen, der Analyse der Mechanismen zugute als der Figurenzeichnung. Manchmal liest sich das wie ein "Zeit"-Leitartikel über Legitimitätskrisen der Demokratie im Medienzeitalter. Insofern ist "Nachricht an alle" tatsächlich der politische Roman des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Nicht so hoffnungslos romantisch wie Koeppens "Treibhaus", nicht so moralisch wie Böll oder Grass, aber auch nicht so aufregend schnell und messerscharf wie vor kurzem Ulrich Peltzers "Teil der Lösung".
Wie bei Peltzer und Don DeLillo wird auch in Kumpfmüllers Niemandsland alles Leben vom weißen Rauschen der Medien verschluckt und von subversiven Müll- und Happeningspezialisten wieder ausgegraben: So verbrennt sich eine Aktionskünstlerin selber, um das endlose Spiel der leeren Zeichen mit einer authentischen Geste zu unterbrechen; aber selbst ihr Tod ist nur ein Zitat. Selbst der Asket DeLillo konnte zuletzt in "Falling Man" die Simulationen symbolischer Politik kaum noch in Handlung, Anschauung und Erzählung übersetzen. Umso mehr gilt das für einen eher barocken Autor wie Kumpfmüller, der seinen Bericht aus der Werkstatt der Macht gern mit Sätzen wie "Etwas ging nicht weit genug", "Ein schwarzes Loch war eine abstrakte Tatsache" oder "Alles war Struktur, Kampf gegen Windmühlen" schmückt.
Kumpfmüller beschreibt nüchtern, sachlich und kühl eine kalte, sachliche Welt, in der die Wirklichkeit, mit Brecht zu sprechen, längst "in die Funktionale gerutscht" ist. Liebe und Tod sind nur kleine Störungen in einem ort- und zeitlosen Betriebssystem. Vielleicht funktioniert Politik heute wirklich so. Aber von einem politischen Roman erwartet man doch mehr als Mimikry an die Sprache der Zombies und Aliens in einem unidentifizierbaren Flugobjekt über Berlin.
Michael Kumpfmüller: "Nachricht an alle". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 383 S., geb., 19,95 [Euro].
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