Dichter sind kritische Menschen; meist richtet sich ihre Kritik mehr gegen die Umstände, die Kollegen, die Ignoranz in der Welt als gegen sich selbst. Dass Dichter sich in Einverständigkeit üben, kommt fast gar nicht vor; eine unterschwellige Unzufriedenheit gehört zum literarischen Geschäft, das man zumachen könnte, wenn die Beteiligten ihr Genügen darin fänden, den bestehenden Verhältnissen zu applaudieren. Der Dichter Heinrich Heine, der eigentlich Harry Heine hieß, war ein Künstler der Kritik, die er, wenn ihm danach war, in Poesie umsetzte. Dabei befeuerte ihn die Gewissheit, in einer Zeitenwende zu leben: "Um meine Wiege spielten die letzten Mondlichter des achtzehnten und das erste Morgenrot des neunzehnten Jahrhunderts". Heine begreift sich als Dichter des Übergangs: "Das letzte freie Waldlied der Romantik" ist "verklungen", nun macht sich "die selbsttrunkenste Subjektivität, die weltentzügelte Individualität, die gottfreie Persönlichkeit mit all ihrer Lebenslust ... geltend", ein Prozess, der möglicherweise bis auf den heutigen Tag angehalten hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2006Der Ritter vom molligen Popo
Heine und ein Ende: Eine Übersicht über neuere Bücher
Die Heine-Philologie erhielt 1997, zum zweihundertsten Geburtstag, einen mächtigen Schub. Wie steht es damit beim neuen Jubiläum, dem hundertfünfzigsten Todestag? Der Ertrag ist geringer. Die umfassende Biographie aus dem Jahr 1997 von Jan-Christoph Hauschild und Michael Werner ist von Kiepenheuer & Witsch zu Zweitausendeins gewandert und im Text unverändert geblieben, aber mit fünfzig Abbildungen versehen worden. Was damals gesagt wurde, kann wiederholt werden: "Diese fundierte Biographie wird wohl fürs erste nicht zu überbieten sein" (F.A.Z. vom 9. Dezember 1997). Worin allerdings die "Aktualisierung" bestehen soll, die der Verlag verspricht, bleibt unerfindlich.
Der Diogenes Verlag legt Ludwig Marcuses erstmals 1932 erschienene, 1951 von den Exilerfahrungen her ergänzte und 1970 noch einmal erweiterte Darstellung "Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer" wieder vor. Auch bei erneuter Lektüre erscheint das Buch nicht veraltet. Die teils erzählende, teils analytische Verfahrensweise gibt der Gestalt Heines, seinen geistigen Kämpfen und seiner dichterischen Individualität vor dem Hintergrund der politischen, der Sozial- und Wirtschafts-, auch der Alltagsgeschichte klares Profil. Immer erkennbar bleibt das Modell vom "großen romantischen Aufklärer". Glücklich verbunden sind wissenschaftlicher und schriftstellerischer Stil.
Weit entfernt davon ist die Biographie "Heinrich Heine. Narr des Glücks" von Kerstin Decker, die in die Falle Heinescher Ironie und Heineschen Witzes läuft, die sie beide noch übertrumpfen zu können glaubt. Die promovierte Philosophin versucht krampfhaft, unter ihr Niveau zu gehen. Gewiß, sie hat sich gründlich kundig gemacht und sucht Nähe zum Gegenstand mit vielen Zitaten aus den Werken und Briefen. Aber ihr Hauptinteresse gilt den knalligen, delikaten Situationen. Sie gefällt sich in Flapsigkeit. Eine Blütenlese aus Kapitelüberschriften: "Der Achtzehnjährige entscheidet sich für den Beruf des Millionärs, fährt nach Hamburg und geht pleite", "Künftiger Advokat hat eine Wasserseele und schreibt Wellenstrophen", "Als Liberalenhäuptling in Bayern", "Er legt sich ins Bett, steht nie wieder auf, spekuliert an der Börse und beschwert sich bei Gott". Hier wird Gegenwartsnähe durch Schnoddrigkeit vorgetäuscht (Heine "als Spezialist für Kleinstkinderheilkunde"), hier wird Heine hergerichtet für unsere Spaßgesellschaft. Munter purzeln die Sensationshistörchen.
Da ist Jakob Hessings Untersuchung "Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns" aus einem anderen Holz. Der Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, den Lesern dieser Zeitung durch seine sachkundigen Rezensionen jüdischer Literatur bekannt, hat sein Buch für zwei Leserkreise konzipiert. Da Heine für lange Zeit nicht nur unter Deutschen, sondern auch unter traditionsgebundenen Juden umstritten war, übernimmt das Buch Aufgaben einer Einführung mit. Hessing liest die Texte zunächst in einem deutschen und dann in einem jüdischen "Kontext" und kommt zu dem Schluß, daß die Lücke zwischen den "beiden Hälften der deutsch-jüdischen Existenz Heines" nicht zu schließen ist und daß Heine erst in den letzten Lebensjahren seine jüdische Identität vollends "aus der Verdrängung" holt.
Hessings Essayband "Der Fluch des Propheten" (1989) faßte "drei Abhandlungen zu Sigmund Freud" zusammen. Von einem gemäßigten psychoanalytischen Ansatz her verstehen sich auch die Kopplung der Begriffe "Traum" und "Tod" und die Deutung der Texte als Projektionen des Ich, als Heines "Verwandlung" seines eigenen Lebens in Dichtung. Totenbilder in Heines Werk seien tief mit seinem jüdischen Selbstverständnis verknüpft; immer wieder versuche er eine Erlösung zu erträumen, und immer wieder neu müsse er dabei scheitern. Seine melancholische Tiefe gewinne Heines Werk aus solcher Enttäuschung. Am Ende bedauert man, daß der Autor zwei bedeutende Versuche einer Zusammenschau der religiösen Perspektiven in Heines Werk nicht mehr zur Kenntnis hat nehmen können - Karl-Josef Kuschel: "Gottes grausamer Spaß? Heinrich Heines Leben mit der Katastrophe" (2002); Christoph Bartscherer: "Heinrich Heines religiöse Revolte" (2005).
Was immer auch Heine von Goethe trennte - in einem war er Goetheaner: in der Wahl seiner Ehepartnerin. Seine französische Frau, die er Mathilde nannte, verstand nicht eine einzige Zeile seiner deutschen Gedichte. Gewiß, er schätzte die Freundschaft gebildeter oder schöner Frauen wie Rahel Varnhagen, George Sand oder der Principessa di Belgiojoso, aber das berührte nicht die sinnliche Anziehungskraft Mathildes. Sie war ihm das, was Christiane für Goethe war. Dieser Anhänglichkeit konnte auch die "letzte Blume" seines "larmoyanten Lebens" in den letzten Monaten, Elise Krinitz, die er seine "Mouche" nannte, nichts anhaben.
Ganz unaufgeregt geht Edda Ziegler, Autorin einer illustrierten Heine-Biographie in dritter Auflage, das Thema "Der Dichter und die Frauen" an. Ihre Untersuchung, fundiert und gut lesbar, entwirft die Beziehungsmodelle: das rührende Verhältnis zur Mutter oder das leidenschaftliche zum "Hausvesuv" Mathilde, die Rolle der "Salonièren und Gönnerinnen" in Berlin und Hamburg oder die Tändeleien mit den Pariser Grisetten und die kultivierten Freundschaften im "Foyer der europäischen Gesellschaft". Den Band beschließt eine Typologie der "Kunstfiguren" in Heines Werk, etwa des naiven Mädchens (auch der frommen Naiven), der femme fatale oder der Sphinxfrau, der sinnenfrohen Hellenin oder der Grisetten und, am Ende des Lebens, der Allegorien "Frau Sorge" und "Schwarze Frau".
Der Band zu Heine in der "Suhrkamp Basis-Biographie" ist Joseph Anton Kruse anvertraut worden, dessen schnörkelloser Stil sich schon früher in einem Insel-Taschenbuch bewährt hatte. Die Einleitung stellt Heine als "Grenzgänger der Moderne" vor. In drei Kapiteln skizziert Kruse, ein breites Wissen auf den Punkt bringend, Leben, Werk und Wirkung Heines. Als Einführung zu empfehlen! Otto A. Böhmer erzählt das Leben Heines, indem er es mit seitenfüllenden Zitaten von Gedichten und Prosatexten durch Heine selbst erzählen läßt: für ein breites Lesepublikum, das im Jubiläumsjahr auf Heine neugierig geworden ist.
Als Dauerzweikampf zieht sich durch das Leben Heines sein Verhältnis zum Hamburger Verleger Julius Campe, ein freundschaftliches Duell, das manchmal ernst zu werden drohte, aber auf jeden Fall mit dem Florett ausgefochten wurde. Eine Auswahl aus dem Briefwechsel beider, versehen mit einem geschliffenen Vorwort, haben Gerhard Höhn und Christian Liedtke herausgegeben. An witziger Schlagfertigkeit zeigt sich der Verleger oft seinem Autor durchaus gewachsen. Der Leser erlebt die Geburt eines Dioskurenpaares: des modernen Schriftstellers und des modernen Verlegers. Den Band hat der Hoffmann und Campe Verlag als "Freundesgabe" herausgebracht, man wünschte ihm aber eine weitere Verbreitung.
Eine kleine Guckkastenbühne, auf der das Schauspiel der Familien- und Freundesbeziehungen Heines gespielt wird, öffnet sich in der Auswahl von 199 (aus insgesamt etwa 1800) Briefen Heines, die Bernd Füllner und Christian Liedtke getroffen haben. Wie seine Lyrik sind Heines Briefe meistens "Thermometer" seiner "Gemütsstimmung", manchmal auch im "Negligee-Gewand" geschriebene Prosa, oft Ventil für Konfessionen. Schon früh schließt der Mollton der Melancholie Zwischenrufe der Ironie nicht aus. Insgeheim entwerfen die Briefe ein Bild des Partners mit. (Eine Fundgrube ist das "Personenlexikon" des Bandes.) Zu den bitter-anklägerischen Zeugnissen des Familienstreits um das Erbe des Hamburger Onkels in Gegensatz stehen die zärtlichen Briefe an die "liebe gute Pracht-Mutter" und die intimen an Mathilde, die er während des Hamburg-Aufenthaltes im November 1843 gern mit ihrem "dicken Popo (gros derrière) herumwirbeln" gesehen hätte. So entsteht vor den Augen des Publikums farbig "ein Leben in Briefen". Der letzte Brief, aus dem Februar 1856, gerichtet an Alexander von Humboldt, ist auch der kürzeste: "Dem großen Alexandros sendet seinen letzten Gruß der sterbende H. Heine."
WALTER HINCK
Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner: "Heinrich Heine". Aktualisierte und um einen Bildteil erweiterte Neuausgabe. Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2005. 763 S., geb., 22,- [Euro].
Ludwig Marcuse: "Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer". Diogenes Verlag, Zürich 2005. 368 S., geb., 24,90 [Euro].
Kerstin Decker: "Heinrich Heine. Narr des Glücks". Biographie. Propyläen Verlag, Berlin 2005. 448 S., geb., 22,- [Euro].
Jakob Hessing: "Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns". Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 294 S., geb., 29,90 [Euro].
Edda Ziegler: "Heinrich Heine. Der Dichter und die Frauen". Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich 2005. 207 S., geb., 19,90 [Euro].
Joseph Anton Kruse: "Heinrich Heine". Suhrkamp BasisBiographie 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 160 S., br., 7,90 [Euro].
Otto A. Böhmer: "Heinrich Heine. Sein Leben erzählt". Diogenes Verlag, Zürich 2005. 171 S., br., 8,90 [Euro].
Gerhard Höhn/Christian Liedtke (Herausgeber): "Der Weg von Ihrem Herzen zu Ihrer Tasche ist sehr weit". Aus dem Briefwechsel zwischen Heinrich Heine und seinem Verleger Julius Campe. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 127 S., br., Freundesgabe des Verlags.
Heinrich Heine: ". ..und grüßen Sie mir die Welt". Ein Leben in Briefen. Herausgegeben von Bernd Füllner und Christian Liedtke. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 559 S., geb., 25,- [Euro].
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Heine und ein Ende: Eine Übersicht über neuere Bücher
Die Heine-Philologie erhielt 1997, zum zweihundertsten Geburtstag, einen mächtigen Schub. Wie steht es damit beim neuen Jubiläum, dem hundertfünfzigsten Todestag? Der Ertrag ist geringer. Die umfassende Biographie aus dem Jahr 1997 von Jan-Christoph Hauschild und Michael Werner ist von Kiepenheuer & Witsch zu Zweitausendeins gewandert und im Text unverändert geblieben, aber mit fünfzig Abbildungen versehen worden. Was damals gesagt wurde, kann wiederholt werden: "Diese fundierte Biographie wird wohl fürs erste nicht zu überbieten sein" (F.A.Z. vom 9. Dezember 1997). Worin allerdings die "Aktualisierung" bestehen soll, die der Verlag verspricht, bleibt unerfindlich.
Der Diogenes Verlag legt Ludwig Marcuses erstmals 1932 erschienene, 1951 von den Exilerfahrungen her ergänzte und 1970 noch einmal erweiterte Darstellung "Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer" wieder vor. Auch bei erneuter Lektüre erscheint das Buch nicht veraltet. Die teils erzählende, teils analytische Verfahrensweise gibt der Gestalt Heines, seinen geistigen Kämpfen und seiner dichterischen Individualität vor dem Hintergrund der politischen, der Sozial- und Wirtschafts-, auch der Alltagsgeschichte klares Profil. Immer erkennbar bleibt das Modell vom "großen romantischen Aufklärer". Glücklich verbunden sind wissenschaftlicher und schriftstellerischer Stil.
Weit entfernt davon ist die Biographie "Heinrich Heine. Narr des Glücks" von Kerstin Decker, die in die Falle Heinescher Ironie und Heineschen Witzes läuft, die sie beide noch übertrumpfen zu können glaubt. Die promovierte Philosophin versucht krampfhaft, unter ihr Niveau zu gehen. Gewiß, sie hat sich gründlich kundig gemacht und sucht Nähe zum Gegenstand mit vielen Zitaten aus den Werken und Briefen. Aber ihr Hauptinteresse gilt den knalligen, delikaten Situationen. Sie gefällt sich in Flapsigkeit. Eine Blütenlese aus Kapitelüberschriften: "Der Achtzehnjährige entscheidet sich für den Beruf des Millionärs, fährt nach Hamburg und geht pleite", "Künftiger Advokat hat eine Wasserseele und schreibt Wellenstrophen", "Als Liberalenhäuptling in Bayern", "Er legt sich ins Bett, steht nie wieder auf, spekuliert an der Börse und beschwert sich bei Gott". Hier wird Gegenwartsnähe durch Schnoddrigkeit vorgetäuscht (Heine "als Spezialist für Kleinstkinderheilkunde"), hier wird Heine hergerichtet für unsere Spaßgesellschaft. Munter purzeln die Sensationshistörchen.
Da ist Jakob Hessings Untersuchung "Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns" aus einem anderen Holz. Der Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, den Lesern dieser Zeitung durch seine sachkundigen Rezensionen jüdischer Literatur bekannt, hat sein Buch für zwei Leserkreise konzipiert. Da Heine für lange Zeit nicht nur unter Deutschen, sondern auch unter traditionsgebundenen Juden umstritten war, übernimmt das Buch Aufgaben einer Einführung mit. Hessing liest die Texte zunächst in einem deutschen und dann in einem jüdischen "Kontext" und kommt zu dem Schluß, daß die Lücke zwischen den "beiden Hälften der deutsch-jüdischen Existenz Heines" nicht zu schließen ist und daß Heine erst in den letzten Lebensjahren seine jüdische Identität vollends "aus der Verdrängung" holt.
Hessings Essayband "Der Fluch des Propheten" (1989) faßte "drei Abhandlungen zu Sigmund Freud" zusammen. Von einem gemäßigten psychoanalytischen Ansatz her verstehen sich auch die Kopplung der Begriffe "Traum" und "Tod" und die Deutung der Texte als Projektionen des Ich, als Heines "Verwandlung" seines eigenen Lebens in Dichtung. Totenbilder in Heines Werk seien tief mit seinem jüdischen Selbstverständnis verknüpft; immer wieder versuche er eine Erlösung zu erträumen, und immer wieder neu müsse er dabei scheitern. Seine melancholische Tiefe gewinne Heines Werk aus solcher Enttäuschung. Am Ende bedauert man, daß der Autor zwei bedeutende Versuche einer Zusammenschau der religiösen Perspektiven in Heines Werk nicht mehr zur Kenntnis hat nehmen können - Karl-Josef Kuschel: "Gottes grausamer Spaß? Heinrich Heines Leben mit der Katastrophe" (2002); Christoph Bartscherer: "Heinrich Heines religiöse Revolte" (2005).
Was immer auch Heine von Goethe trennte - in einem war er Goetheaner: in der Wahl seiner Ehepartnerin. Seine französische Frau, die er Mathilde nannte, verstand nicht eine einzige Zeile seiner deutschen Gedichte. Gewiß, er schätzte die Freundschaft gebildeter oder schöner Frauen wie Rahel Varnhagen, George Sand oder der Principessa di Belgiojoso, aber das berührte nicht die sinnliche Anziehungskraft Mathildes. Sie war ihm das, was Christiane für Goethe war. Dieser Anhänglichkeit konnte auch die "letzte Blume" seines "larmoyanten Lebens" in den letzten Monaten, Elise Krinitz, die er seine "Mouche" nannte, nichts anhaben.
Ganz unaufgeregt geht Edda Ziegler, Autorin einer illustrierten Heine-Biographie in dritter Auflage, das Thema "Der Dichter und die Frauen" an. Ihre Untersuchung, fundiert und gut lesbar, entwirft die Beziehungsmodelle: das rührende Verhältnis zur Mutter oder das leidenschaftliche zum "Hausvesuv" Mathilde, die Rolle der "Salonièren und Gönnerinnen" in Berlin und Hamburg oder die Tändeleien mit den Pariser Grisetten und die kultivierten Freundschaften im "Foyer der europäischen Gesellschaft". Den Band beschließt eine Typologie der "Kunstfiguren" in Heines Werk, etwa des naiven Mädchens (auch der frommen Naiven), der femme fatale oder der Sphinxfrau, der sinnenfrohen Hellenin oder der Grisetten und, am Ende des Lebens, der Allegorien "Frau Sorge" und "Schwarze Frau".
Der Band zu Heine in der "Suhrkamp Basis-Biographie" ist Joseph Anton Kruse anvertraut worden, dessen schnörkelloser Stil sich schon früher in einem Insel-Taschenbuch bewährt hatte. Die Einleitung stellt Heine als "Grenzgänger der Moderne" vor. In drei Kapiteln skizziert Kruse, ein breites Wissen auf den Punkt bringend, Leben, Werk und Wirkung Heines. Als Einführung zu empfehlen! Otto A. Böhmer erzählt das Leben Heines, indem er es mit seitenfüllenden Zitaten von Gedichten und Prosatexten durch Heine selbst erzählen läßt: für ein breites Lesepublikum, das im Jubiläumsjahr auf Heine neugierig geworden ist.
Als Dauerzweikampf zieht sich durch das Leben Heines sein Verhältnis zum Hamburger Verleger Julius Campe, ein freundschaftliches Duell, das manchmal ernst zu werden drohte, aber auf jeden Fall mit dem Florett ausgefochten wurde. Eine Auswahl aus dem Briefwechsel beider, versehen mit einem geschliffenen Vorwort, haben Gerhard Höhn und Christian Liedtke herausgegeben. An witziger Schlagfertigkeit zeigt sich der Verleger oft seinem Autor durchaus gewachsen. Der Leser erlebt die Geburt eines Dioskurenpaares: des modernen Schriftstellers und des modernen Verlegers. Den Band hat der Hoffmann und Campe Verlag als "Freundesgabe" herausgebracht, man wünschte ihm aber eine weitere Verbreitung.
Eine kleine Guckkastenbühne, auf der das Schauspiel der Familien- und Freundesbeziehungen Heines gespielt wird, öffnet sich in der Auswahl von 199 (aus insgesamt etwa 1800) Briefen Heines, die Bernd Füllner und Christian Liedtke getroffen haben. Wie seine Lyrik sind Heines Briefe meistens "Thermometer" seiner "Gemütsstimmung", manchmal auch im "Negligee-Gewand" geschriebene Prosa, oft Ventil für Konfessionen. Schon früh schließt der Mollton der Melancholie Zwischenrufe der Ironie nicht aus. Insgeheim entwerfen die Briefe ein Bild des Partners mit. (Eine Fundgrube ist das "Personenlexikon" des Bandes.) Zu den bitter-anklägerischen Zeugnissen des Familienstreits um das Erbe des Hamburger Onkels in Gegensatz stehen die zärtlichen Briefe an die "liebe gute Pracht-Mutter" und die intimen an Mathilde, die er während des Hamburg-Aufenthaltes im November 1843 gern mit ihrem "dicken Popo (gros derrière) herumwirbeln" gesehen hätte. So entsteht vor den Augen des Publikums farbig "ein Leben in Briefen". Der letzte Brief, aus dem Februar 1856, gerichtet an Alexander von Humboldt, ist auch der kürzeste: "Dem großen Alexandros sendet seinen letzten Gruß der sterbende H. Heine."
WALTER HINCK
Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner: "Heinrich Heine". Aktualisierte und um einen Bildteil erweiterte Neuausgabe. Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2005. 763 S., geb., 22,- [Euro].
Ludwig Marcuse: "Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer". Diogenes Verlag, Zürich 2005. 368 S., geb., 24,90 [Euro].
Kerstin Decker: "Heinrich Heine. Narr des Glücks". Biographie. Propyläen Verlag, Berlin 2005. 448 S., geb., 22,- [Euro].
Jakob Hessing: "Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns". Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 294 S., geb., 29,90 [Euro].
Edda Ziegler: "Heinrich Heine. Der Dichter und die Frauen". Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich 2005. 207 S., geb., 19,90 [Euro].
Joseph Anton Kruse: "Heinrich Heine". Suhrkamp BasisBiographie 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 160 S., br., 7,90 [Euro].
Otto A. Böhmer: "Heinrich Heine. Sein Leben erzählt". Diogenes Verlag, Zürich 2005. 171 S., br., 8,90 [Euro].
Gerhard Höhn/Christian Liedtke (Herausgeber): "Der Weg von Ihrem Herzen zu Ihrer Tasche ist sehr weit". Aus dem Briefwechsel zwischen Heinrich Heine und seinem Verleger Julius Campe. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 127 S., br., Freundesgabe des Verlags.
Heinrich Heine: ". ..und grüßen Sie mir die Welt". Ein Leben in Briefen. Herausgegeben von Bernd Füllner und Christian Liedtke. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005. 559 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main