Facebook, Instagram & Co: Ein Großteil des sozialen Lebens mit Verwandten und Freunden, ob nah oder weit entfernt, findet heute über Social Media statt. Das Selfie auf der richtigen Plattform ist zur neuen Visitenkarte geworden. Sich der Online-Präsenz zu entziehen, ist in der modernen Welt kaum noch möglich. Reizüberflutung und die Unfähigkeit, einen Gedankengang zu Ende zu führen, sind zunehmend Probleme, denen sich jeder stellen muss. In ihrem Buch plädiert Jenny Odell für einen achtsamen Umgang mit unserer Aufmerksamkeit. Anstatt sich dem Druck nach konstantem Produktivsein zu beugen, sollten wir alle innehalten und nichts tun!Lesung mit Birte Schnöink1 mp3-CD ca. 7 h 57 min
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2021Kampf den digitalen Bewusstseinsfressern
Jenny Odells sprunghafter Aktivismus fürs Nichtstun
Dass das Nichtstun im Angesicht der sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie ein großes Thema ist, versteht man sofort. Wenn die digitalen Plattformen noch die letzten Bewusstseinsströme von einem haben wollen, um sie gewinnbringend weiterzuverwerten, ist die einzig angemessene Antwort die des Schreibers Bartleby aus der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville: Ich möchte lieber nicht. Kulturkritisch groß dagegen anwettern hilft erst mal nicht viel, weil auch das sofort eingespeist wird in den "Content" der Industrie. Was also tun, um nichts zu tun?
Das Buch "Nichts tun" der amerikanischen Künstlerin Jenny Odell verspricht da jetzt "eine praktische Anleitung zum Nichtstun als Akt des politischen Widerstands". Das ist sehr willkommen. Tatsächlich ist ja gerade die Kunst auf eine solche Verweigerung angewiesen, will sie nicht ihrerseits zu einer bloßen Zulieferindustrie der Plattformen werden. Zentrale Fragen werden in diesem Buch angetippt, die hinter der Frage nach der richtigen Weise des Nichtstuns stecken: Wie kann man das Bewusstsein erden? Wie kann man Freiheit erringen, ohne sich isolieren zu müssen? Was sind die Zugänge zur Wirklichkeit, die einem gegenüber den digitalen Medien Souveränität verschaffen könnten?
Am nächsten kommt Odell einer Antwort darauf bei der Beschreibung einiger Kunstwerke, die sie als "Aufmerksamkeitstrainingsgeräte" bezeichnet. Der Maler David Hockney hatte bei der Herstellung seiner digitalen Videoinstallation "Seven Yorkshire Landscapes" etwa zwölf Kameras seitlich an sein Auto montiert und war damit langsam mehrere Straßen in seiner Heimat Yorkshire entlanggefahren. Das Ergebnis war eine Wand von Bildschirmen, auf denen die Betrachter die Fahrt anhand der aufgenommenen Videos nachvollziehen konnten - doch sowohl die nicht ganz abgestimmten, etwas versetzten Bildausschnitte als auch die extreme Langsamkeit der Bewegung erzeugten ein ganz ungewohntes Wahrnehmungserlebnis. "Und dabei kann man sich so vieles genauer anschauen, dass einem nicht langweilig wird", sagte Hockney dazu: "Der Prozess des Betrachtens selbst ist die Schönheit." Odell berichtet von den Reaktionen vieler Museumsbesucher, die danach auch die Wirklichkeit draußen ganz anders betrachteten: Sie sahen den Botanischen Garten in der Nähe des Museums "neu, in all seiner kaleidoskopischen Schönheit".
Das ist wie ein optisches Pendant zu jenem "Deep Listening", das die Komponistin Pauline Oliveros in den siebziger Jahren lehrte und das eine erhöhte Aufmerksamkeit auch für die Geräusche des täglichen Lebens und der Natur umfasste. Odell selbst hat eine ähnliche Erfahrung bei der Vogelbeobachtung gemacht, die einem tatsächlich abverlange, nichts zu tun: "Vogelbeobachtung ist das Gegenteil davon, online nach etwas zu suchen." Man könne da nur leise gehen und warten, bis man etwas hört.
Der Performance-Künstler Tehching Hsieh hat 1978 eine existentiell noch eingreifendere Installation geschaffen, als er für sein Werk "Cage Piece" einen nur wenige Quadratmeter großen Käfig in seinem Atelier aufbaute. Die Performance bestand darin, dass sich Hsieh ein ganzes Jahr lang in diesem Käfig einschloss und sich selbst dazu verpflichtete, in dieser Zeit nicht zu sprechen, zu lesen, zu schreiben oder Fernsehen zu gucken. Ein- oder zweimal im Monat durfte ihn das Kunstpublikum in seinem Käfig besichtigen. In einem Interview beschrieb Hsieh das Verhalten der Leute draußen: Sie füllen ihre Zeit aus und versuchen damit, "ihr Leben mit Sinn zu erfüllen". Er aber sei am Gegenteil interessiert: "Was würde passieren, wenn er alles leeren würde?"
Auf eine weitere Pointe dieses Experiments weist Odell an anderer Stelle hin. Hsieh habe nach seinem Jahr im Käfig gesagt, sein Geist sei während dieser Zeit nicht im Gefängnis gewesen. Odell zieht daraus den Schluss, dass immerhin der "geistige Raum" die Möglichkeit biete, durch einen inneren Vorbehalt die Bande der digitalen Plattformen zu lösen. Wenn die Firmen einen auch dazu bewegen können, sich eine bestimmte Werbung anzusehen, dann wissen sie noch lange nicht, wie man sie sich ansieht. Man könnte sie sich zum Beispiel wie eine Aikidokämpferin anschauen, die ihren Gegner besser kennenlernen möchte, um ihn mit seiner eigenen Energie zu überwinden.
An solchen Stellen merkt man, was für ein großartiges Buch das hätte werden können, wenn seine Autorin versucht hätte, dem Nichtstun auf den Grund zu gehen. Aber leider hat Jenny Odell das nicht getan, sie hat das große Thema verschenkt. Weshalb das so ist, wird schon von den ersten Seiten an klar. Es geht erst mal los mit einem Walter-Benjamin-Zitat ("Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe"). Zu Recht wird dann die Enteignung der gelebten Erfahrung durch Algorithmen beklagt, aber nur ganz knapp, um dann schon auf der zweiten Seite zu Robert Louis Stevenson überzugehen, der "bereits 1877" "extreme Emsigkeit" als "Zeichen für mangelnde Lebenskraft" bezeichnete. Dann ist der Weg nicht weit zu Seneca ("frage dich, wie viel dir von deinem Leben durch andere weggenommen worden"), der so klinge, wie die Autorin nicht unterlässt anzumerken, als sei er gerade "aus dem Stupor einer auf Facebook vertanen Stunde erwacht".
So geht's 273 Seiten lang weiter in einem fort: Ein Zitat von Gilles Deleuze, Thoreau, Diogenes, John Cage und so vielen anderen beliebten Zitatlieferanten reiht sich an das nächste, unterbrochen nur von Überleitungen, bei denen das Ich der Autorin oft eine große Rolle spielt, wenn dieses etwas hört, ihm im Rosengarten etwas auffällt, es Studenten etwas erklärt. Zusammengehalten wird das alles nur dadurch, das es in einem irgendwie gefühlten Zusammenhang zu den Themen sinnvolles Leben, Muße und Kapitalismuskritik steht. Eine zwingende Argumentation aber, die der beanspruchten Radikalität gerecht würde, unterbleibt.
Weder setzt sich Odell näher mit der spezifischen Bedrohung des Bewusstseins durch die digitalen Plattformen und deren politischen Konsequenzen auseinander. Noch prüft sie die einschlägigen Ansätze aus der Geistesgeschichte darauf, inwieweit sie in der Konfrontation mit den Aufmerksamkeitsfressern heute fruchtbar sein können - die Muße-Theorien der antiken Philosophie, die buddhistischen Überlegungen zu einer Geistesgegenwart, die sich den Gedankenschleifen entzieht, der taoistische Begriff des "Wu wei" (Nicht-Handelns), all das wird allenfalls gestreift. Immerhin stellt dieses Buch das Nichtstun als ein neues Feld des Aktivismus vor, und das ist ja schon einiges. MARK SIEMONS
Jenny Odell: "Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen". Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C. H. Beck, 296 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jenny Odells sprunghafter Aktivismus fürs Nichtstun
Dass das Nichtstun im Angesicht der sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie ein großes Thema ist, versteht man sofort. Wenn die digitalen Plattformen noch die letzten Bewusstseinsströme von einem haben wollen, um sie gewinnbringend weiterzuverwerten, ist die einzig angemessene Antwort die des Schreibers Bartleby aus der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville: Ich möchte lieber nicht. Kulturkritisch groß dagegen anwettern hilft erst mal nicht viel, weil auch das sofort eingespeist wird in den "Content" der Industrie. Was also tun, um nichts zu tun?
Das Buch "Nichts tun" der amerikanischen Künstlerin Jenny Odell verspricht da jetzt "eine praktische Anleitung zum Nichtstun als Akt des politischen Widerstands". Das ist sehr willkommen. Tatsächlich ist ja gerade die Kunst auf eine solche Verweigerung angewiesen, will sie nicht ihrerseits zu einer bloßen Zulieferindustrie der Plattformen werden. Zentrale Fragen werden in diesem Buch angetippt, die hinter der Frage nach der richtigen Weise des Nichtstuns stecken: Wie kann man das Bewusstsein erden? Wie kann man Freiheit erringen, ohne sich isolieren zu müssen? Was sind die Zugänge zur Wirklichkeit, die einem gegenüber den digitalen Medien Souveränität verschaffen könnten?
Am nächsten kommt Odell einer Antwort darauf bei der Beschreibung einiger Kunstwerke, die sie als "Aufmerksamkeitstrainingsgeräte" bezeichnet. Der Maler David Hockney hatte bei der Herstellung seiner digitalen Videoinstallation "Seven Yorkshire Landscapes" etwa zwölf Kameras seitlich an sein Auto montiert und war damit langsam mehrere Straßen in seiner Heimat Yorkshire entlanggefahren. Das Ergebnis war eine Wand von Bildschirmen, auf denen die Betrachter die Fahrt anhand der aufgenommenen Videos nachvollziehen konnten - doch sowohl die nicht ganz abgestimmten, etwas versetzten Bildausschnitte als auch die extreme Langsamkeit der Bewegung erzeugten ein ganz ungewohntes Wahrnehmungserlebnis. "Und dabei kann man sich so vieles genauer anschauen, dass einem nicht langweilig wird", sagte Hockney dazu: "Der Prozess des Betrachtens selbst ist die Schönheit." Odell berichtet von den Reaktionen vieler Museumsbesucher, die danach auch die Wirklichkeit draußen ganz anders betrachteten: Sie sahen den Botanischen Garten in der Nähe des Museums "neu, in all seiner kaleidoskopischen Schönheit".
Das ist wie ein optisches Pendant zu jenem "Deep Listening", das die Komponistin Pauline Oliveros in den siebziger Jahren lehrte und das eine erhöhte Aufmerksamkeit auch für die Geräusche des täglichen Lebens und der Natur umfasste. Odell selbst hat eine ähnliche Erfahrung bei der Vogelbeobachtung gemacht, die einem tatsächlich abverlange, nichts zu tun: "Vogelbeobachtung ist das Gegenteil davon, online nach etwas zu suchen." Man könne da nur leise gehen und warten, bis man etwas hört.
Der Performance-Künstler Tehching Hsieh hat 1978 eine existentiell noch eingreifendere Installation geschaffen, als er für sein Werk "Cage Piece" einen nur wenige Quadratmeter großen Käfig in seinem Atelier aufbaute. Die Performance bestand darin, dass sich Hsieh ein ganzes Jahr lang in diesem Käfig einschloss und sich selbst dazu verpflichtete, in dieser Zeit nicht zu sprechen, zu lesen, zu schreiben oder Fernsehen zu gucken. Ein- oder zweimal im Monat durfte ihn das Kunstpublikum in seinem Käfig besichtigen. In einem Interview beschrieb Hsieh das Verhalten der Leute draußen: Sie füllen ihre Zeit aus und versuchen damit, "ihr Leben mit Sinn zu erfüllen". Er aber sei am Gegenteil interessiert: "Was würde passieren, wenn er alles leeren würde?"
Auf eine weitere Pointe dieses Experiments weist Odell an anderer Stelle hin. Hsieh habe nach seinem Jahr im Käfig gesagt, sein Geist sei während dieser Zeit nicht im Gefängnis gewesen. Odell zieht daraus den Schluss, dass immerhin der "geistige Raum" die Möglichkeit biete, durch einen inneren Vorbehalt die Bande der digitalen Plattformen zu lösen. Wenn die Firmen einen auch dazu bewegen können, sich eine bestimmte Werbung anzusehen, dann wissen sie noch lange nicht, wie man sie sich ansieht. Man könnte sie sich zum Beispiel wie eine Aikidokämpferin anschauen, die ihren Gegner besser kennenlernen möchte, um ihn mit seiner eigenen Energie zu überwinden.
An solchen Stellen merkt man, was für ein großartiges Buch das hätte werden können, wenn seine Autorin versucht hätte, dem Nichtstun auf den Grund zu gehen. Aber leider hat Jenny Odell das nicht getan, sie hat das große Thema verschenkt. Weshalb das so ist, wird schon von den ersten Seiten an klar. Es geht erst mal los mit einem Walter-Benjamin-Zitat ("Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe"). Zu Recht wird dann die Enteignung der gelebten Erfahrung durch Algorithmen beklagt, aber nur ganz knapp, um dann schon auf der zweiten Seite zu Robert Louis Stevenson überzugehen, der "bereits 1877" "extreme Emsigkeit" als "Zeichen für mangelnde Lebenskraft" bezeichnete. Dann ist der Weg nicht weit zu Seneca ("frage dich, wie viel dir von deinem Leben durch andere weggenommen worden"), der so klinge, wie die Autorin nicht unterlässt anzumerken, als sei er gerade "aus dem Stupor einer auf Facebook vertanen Stunde erwacht".
So geht's 273 Seiten lang weiter in einem fort: Ein Zitat von Gilles Deleuze, Thoreau, Diogenes, John Cage und so vielen anderen beliebten Zitatlieferanten reiht sich an das nächste, unterbrochen nur von Überleitungen, bei denen das Ich der Autorin oft eine große Rolle spielt, wenn dieses etwas hört, ihm im Rosengarten etwas auffällt, es Studenten etwas erklärt. Zusammengehalten wird das alles nur dadurch, das es in einem irgendwie gefühlten Zusammenhang zu den Themen sinnvolles Leben, Muße und Kapitalismuskritik steht. Eine zwingende Argumentation aber, die der beanspruchten Radikalität gerecht würde, unterbleibt.
Weder setzt sich Odell näher mit der spezifischen Bedrohung des Bewusstseins durch die digitalen Plattformen und deren politischen Konsequenzen auseinander. Noch prüft sie die einschlägigen Ansätze aus der Geistesgeschichte darauf, inwieweit sie in der Konfrontation mit den Aufmerksamkeitsfressern heute fruchtbar sein können - die Muße-Theorien der antiken Philosophie, die buddhistischen Überlegungen zu einer Geistesgegenwart, die sich den Gedankenschleifen entzieht, der taoistische Begriff des "Wu wei" (Nicht-Handelns), all das wird allenfalls gestreift. Immerhin stellt dieses Buch das Nichtstun als ein neues Feld des Aktivismus vor, und das ist ja schon einiges. MARK SIEMONS
Jenny Odell: "Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen". Aus dem Englischen von Annabel Zettel. C. H. Beck, 296 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2021Digitale
Ödnis
Jenny Odells Anleitung
zum aktiven Nichtstun
Jenny Odell ist in Cupertino aufgewachsen, im Silicon Valley. Cupertino ist eine konturlose Stadt, in der etwa der Tech-Gigant Apple seinen Hauptsitz hat, den sogenannten Apple Park, der wie ein bizarrer Weltall-Donut in der akkurat geformten kalifornischen Landschaft liegt. Cupertino ist Heimat der überdrehten Tech-Welt und gleichzeitig so nah an der wilden Natur der kalifornischen Berge, dass ein so ausführliches Nachdenken über das Leben zwischen Digitalität und Wirklichkeit, wie in „Nichts tun: Die Kunst sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“, vielleicht nur in Cupertino hätte seinen Anfang nehmen können.
Mit dieser Einordnung tritt man der Autorin und Stanford-Dozentin sicher nicht zu nahe, denn die Aufmerksamkeit für Orte beschreibt Jenny Odell in „Nichts tun“ als zentrale Strategie für ein besseres Leben, was bei Odell in erster Linie ein aufmerksameres, bewussteres Leben bedeutet, und eines, in der diese Aufmerksamkeit selbstbestimmt verteilt ist. Ein Leben, in dem es weniger um Produktivität geht und mehr um Erdung. „Nichts tun“ wurde in den USA ein großer Erfolg, nachdem es 2019 Barack Obama empfahl. Odell beschreibt es einleitend als „aktivistisches Buch im Gewand eines Selbsthilfebuchs“.
Und so beginnt „Nichts tun“ hippiesk, mit Vogelbeobachtung und langem Sitzen in Rosengärten. Lauter Tätigkeiten, bei denen Odell ihre Aufmerksamkeit für die reale Umwelt schärft, für den Klang von Krähen, für die Beeren, die Zedernseidenschwänze lieben. Je länger sie beobachtet, desto mehr sieht, hört und spürt sie. Doch es geht hier nicht nur um Achtsamkeit. Der Text ist auch eine eindrucksvoll kundige große Vorlesung, mit unzähligen Beispielen aus Kunst, Geschichte und Philosophie – und sehr vielen kalifornischen Vogelarten. Odell erkundet Wege aus den Hamsterrädern der modernen Welt, aber immer mit dem Ziel, dabei nicht unsere Verantwortung für ebendiese Welt aus dem Blick zu verlieren. Es geht ihr also nicht einfach nicht um Alltagsflucht, Selbstsorge und Aussteigertum, sondern bewusste Verweigerung.
Wandel könne nur durch Innehalten entstehen, so Odell. Weshalb sie Verbindungen zieht von den gescheiterten amerikanischen Kommunen der Sechziger zu den libertären Träumen der neuen Mogule im Silicon Valley. In den von ihnen erschaffenen virtuellen Welten fehle der Platz für das „Tier Mensch“. Eine süchtig machende digitale Ödnis, in der Menschen und Informationen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Einem Zusammenhang, den man wiederfinden könne, wenn man sich auf seine echte Umgebung konzentriere, auf die Bäume zum Beispiel, oder Vögel, Gebäude, Menschen, die in direkter Nachbarschaft leben. Odell beschreibt ihre Position dabei als „selbstverständlich antikapitalistisch“, aber für echte Technikfeindlichkeit lebt sie glücklicherweise viel zu sehr in der Gegenwart. Wer wirklich nichts tun möchte, muss also mehr tun. Zwischendurch zum Beispiel mal den Vögeln zuhören.
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Aussteigen kann jeder, die
wirklich zeitgemäße Kunst ist
die bewusste Verweigerung
Jenny Odell:
Nichts tun.
C.H. Beck,
München 2021.
296 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ödnis
Jenny Odells Anleitung
zum aktiven Nichtstun
Jenny Odell ist in Cupertino aufgewachsen, im Silicon Valley. Cupertino ist eine konturlose Stadt, in der etwa der Tech-Gigant Apple seinen Hauptsitz hat, den sogenannten Apple Park, der wie ein bizarrer Weltall-Donut in der akkurat geformten kalifornischen Landschaft liegt. Cupertino ist Heimat der überdrehten Tech-Welt und gleichzeitig so nah an der wilden Natur der kalifornischen Berge, dass ein so ausführliches Nachdenken über das Leben zwischen Digitalität und Wirklichkeit, wie in „Nichts tun: Die Kunst sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“, vielleicht nur in Cupertino hätte seinen Anfang nehmen können.
Mit dieser Einordnung tritt man der Autorin und Stanford-Dozentin sicher nicht zu nahe, denn die Aufmerksamkeit für Orte beschreibt Jenny Odell in „Nichts tun“ als zentrale Strategie für ein besseres Leben, was bei Odell in erster Linie ein aufmerksameres, bewussteres Leben bedeutet, und eines, in der diese Aufmerksamkeit selbstbestimmt verteilt ist. Ein Leben, in dem es weniger um Produktivität geht und mehr um Erdung. „Nichts tun“ wurde in den USA ein großer Erfolg, nachdem es 2019 Barack Obama empfahl. Odell beschreibt es einleitend als „aktivistisches Buch im Gewand eines Selbsthilfebuchs“.
Und so beginnt „Nichts tun“ hippiesk, mit Vogelbeobachtung und langem Sitzen in Rosengärten. Lauter Tätigkeiten, bei denen Odell ihre Aufmerksamkeit für die reale Umwelt schärft, für den Klang von Krähen, für die Beeren, die Zedernseidenschwänze lieben. Je länger sie beobachtet, desto mehr sieht, hört und spürt sie. Doch es geht hier nicht nur um Achtsamkeit. Der Text ist auch eine eindrucksvoll kundige große Vorlesung, mit unzähligen Beispielen aus Kunst, Geschichte und Philosophie – und sehr vielen kalifornischen Vogelarten. Odell erkundet Wege aus den Hamsterrädern der modernen Welt, aber immer mit dem Ziel, dabei nicht unsere Verantwortung für ebendiese Welt aus dem Blick zu verlieren. Es geht ihr also nicht einfach nicht um Alltagsflucht, Selbstsorge und Aussteigertum, sondern bewusste Verweigerung.
Wandel könne nur durch Innehalten entstehen, so Odell. Weshalb sie Verbindungen zieht von den gescheiterten amerikanischen Kommunen der Sechziger zu den libertären Träumen der neuen Mogule im Silicon Valley. In den von ihnen erschaffenen virtuellen Welten fehle der Platz für das „Tier Mensch“. Eine süchtig machende digitale Ödnis, in der Menschen und Informationen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Einem Zusammenhang, den man wiederfinden könne, wenn man sich auf seine echte Umgebung konzentriere, auf die Bäume zum Beispiel, oder Vögel, Gebäude, Menschen, die in direkter Nachbarschaft leben. Odell beschreibt ihre Position dabei als „selbstverständlich antikapitalistisch“, aber für echte Technikfeindlichkeit lebt sie glücklicherweise viel zu sehr in der Gegenwart. Wer wirklich nichts tun möchte, muss also mehr tun. Zwischendurch zum Beispiel mal den Vögeln zuhören.
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Aussteigen kann jeder, die
wirklich zeitgemäße Kunst ist
die bewusste Verweigerung
Jenny Odell:
Nichts tun.
C.H. Beck,
München 2021.
296 Seiten, 24 Euro.
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»Nichtstun lässt sich gut in den Alltag integrieren. Jenny Odell gibt Tipps, wie das funktioniert.« F. A. S.