Eine Meditation über den Tod und eine Liebeserklärung an das Leben
Jeffrey Lockharts Vater Ross, ein Milliardär in seinen Sechzigern, versucht das Leben seiner jüngeren, schwerkranken Frau Artis zu retten. Zu dem Zweck bringt er sie in ein Forschungszentrum, in dem menschliches Leben durch Einfrieren verlängert werden soll, bis eines fernen Tages biomedizinische Fortschritte es erlauben, unrettbare Fälle von heute doch noch zu heilen und ihnen neue Möglichkeiten zu schenken. »Wir wurden ohne Freiheit der Wahl geboren. Sollen wir etwa genauso sterben? Das nicht zu akzeptieren - wäre das nicht eine grandiose Errungenschaft?«
Ross sucht neue Welten, andere Dimensionen, sein Sohn Jeffrey läßt nur das Leben im Hier und Jetzt gelten.
Welche Themen für den Mystiker DeLillo, dessen Welt in "Null K" unsere realen Gefährdungen klar sieht und sich doch nicht entmutigen läßt und aller Zerstörung die Schönheit und Menschlichkeit des Alltags entgegensetzt!
Jeffrey Lockharts Vater Ross, ein Milliardär in seinen Sechzigern, versucht das Leben seiner jüngeren, schwerkranken Frau Artis zu retten. Zu dem Zweck bringt er sie in ein Forschungszentrum, in dem menschliches Leben durch Einfrieren verlängert werden soll, bis eines fernen Tages biomedizinische Fortschritte es erlauben, unrettbare Fälle von heute doch noch zu heilen und ihnen neue Möglichkeiten zu schenken. »Wir wurden ohne Freiheit der Wahl geboren. Sollen wir etwa genauso sterben? Das nicht zu akzeptieren - wäre das nicht eine grandiose Errungenschaft?«
Ross sucht neue Welten, andere Dimensionen, sein Sohn Jeffrey läßt nur das Leben im Hier und Jetzt gelten.
Welche Themen für den Mystiker DeLillo, dessen Welt in "Null K" unsere realen Gefährdungen klar sieht und sich doch nicht entmutigen läßt und aller Zerstörung die Schönheit und Menschlichkeit des Alltags entgegensetzt!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Die Grundierung unseres Todes
Was bleibt angesichts der Unvermeidlichkeit des Sterbens? Die Hoffnung auf dessen Überwindung - wann auch immer. Der amerikanische Altmeister Don DeLillo erzählt in "Null K" von letzten Dingen, die zu vorletzten werden sollen.
Von Andreas Platthaus
Am Ende eines jeden Satzes wartet eine Wahrheit, und der Schriftsteller lernt, wie er diese erkennen kann, wenn er endlich dort angekommen ist. Auf einer Ebene liegt diese Wahrheit im Schwung des Satzes, in seinem Rhythmus, in seiner Balance, doch auf einer tieferen Ebene liegt sie in der Integrität des Schriftstellers, wie er mit der Sprache harmoniert. Wenn ein Satz richtig herauskommt, eignet ihm eine moralische Kraft." So hat es Don DeLillo vor genau einem Vierteljahrhundert formuliert, in seinem Roman "Mao II", und auch wenn diese Erkenntnis einem fiktiven Schriftsteller, dem zurückgezogen lebenden Bill Gray, in den Mund gelegt ist, steckt darin eine Selbstauskunft. DeLillo ist in der Tat ein Moralist, der die Rechtfertigung seiner Überzeugungen in der ästhetischen Vollendung seines Schreibens bestätigt sieht.
Das hat ihn, der in einem Monat achtzig Jahre alt wird, nicht nur zu einem Konstruktionskünstler auf den Plot- und Satzbaustellen der eigenen Romane gemacht, sondern auch zur Zentralfigur der amerikanischen Literatur. In seiner Generation ist ihm nur noch Thomas Pynchon vergleichbar, während die Bücher von Philip Roth und John Updike eine sachlichere Schreibweise insofern bieten, als sie die Welt nicht spekulativ beschreiben. DeLillo und Pynchon füllen die Lücken in unserer historischen oder psychologischen Wahrnehmung - wenn's sein muss auch durch Übergriffe ins Phantasmagorische -, bei Roth und Updike werden die Lücken vertieft, gerade auch durchs Höchstpersönliche. Das sind gegensätzliche Strategien bei der Analyse des gleichen Phänomens. Bei allen vier Autoren liegt die amerikanische Gesellschaft auf der Couch.
Der Literaturnobelpreis ging bislang an allen Mitgliedern dieses Analytikerquartetts vorbei, obwohl die ganze Welt ihre Werke seit Jahrzehnten gelesen und bewundert hat - Updike ist bereits gestorben, und bei den anderen drei konnte eine Verleihung nur noch den Charakter einer Entschuldigung fürs Zuspätkommen haben, zumal Roth ja längst seinen Abschied vom Schreiben verkündet hatte. Das werden allerdings weder Pynchon noch DeLillo je tun, denn ihnen ist ihr Beruf zwar viel weniger Selbstanalyse als für Roth, aber sie sehen auch keine wirkliche Aussicht auf Heilung der von ihnen diagnostizierten gesellschaftlichen Verstörung, weshalb deren literarische Linderung eine Dauerherausforderung ist. Die Dichte ihrer Publikationen hat im höheren Alter zugenommen. Die jüngste Publikation von DeLillo ist nun der Roman "Null K".
Darin wendet er sich erstmals der unmittelbaren Gegenwart zu, einem Zeitpunkt, der genau bezeichnet ist durch die Existenz des Kriegs in der Ostukraine und durch permanente klimatische Ausnahmezustände rund um den Erdball. Die Welt liegt im Argen, und dem Individuum bleibt nur die Behauptung des Selbst. Gleich der erste Satz lautet in der Übersetzung von Frank Heibert: "Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben." Im amerikanischen Original "Zero K", erst vor wenigen Monaten erschienen, heißt er: "Everybody wants to own the end of the world." Mit dem Übergang vom materialistischen own (als Eigentum besitzen) zum machtpolitisch konnotierten "in der Hand haben" verschiebt sich das politische Moment des Romans.
Gesprochen wird der Satz vom Multimillionär Ross Lockhart, einem aus eigener Kraft zu Reichtum gelangten Amerikaner, der angesichts seiner todkranken Frau Artis nun die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt bekommt und sich zumindest sein Ende der Welt aneignen, es dem Schicksal aus der Hand nehmen will. Ein privater Akt, kein aggressiver, ein selbstbestimmter, nicht fremdbestimmender. Und abermals ein eigenfinanzierter, denn Lockhart hat in ein Unternehmen investiert, das selbst am sprichwörtlichen Ende der Welt angesiedelt ist, in den Weiten der zentralasiatischen Steppen. Dort werden Menschen eingefroren - in der Hoffnung, dass die Zukunft Mittel bereitstellen wird, um ihre heute noch tödlichen Gebrechen zu heilen. Dann sollen die Körper wieder aufgetaut und neu belebt werden. Am besten ewig.
Das ist eine seit Jahrzehnten vertraute Idee. Für diese Kryonik benötigt man Temperaturen möglichst nahe am absoluten Nullpunkt: "Zero K" bezeichnet null Grad Kelvin, was minus 273,15 Grad Celsius entspricht. Es ist das Erlöschen allen Lichts und Lebens. Vor dieser Kälte schaudert es Jeffrey, Ross Lockharts Sohn aus erster Ehe, den vierunddreißigjährigen Ich-Erzähler des Romans, der über ein halbes Dutzend geheimnisvolle Umwege von New York nach Usbekistan geflogen wird, um seine Stiefmutter noch einmal zu sehen, ehe sie eingefroren wird, und bei dieser Gelegenheit erfährt, dass auch der Vater ihr bald folgen will, obwohl er noch bei bester Gesundheit ist. Treu bis ins ewige Leben - das ist eine Eheverpflichtung, die Jeffrey bewundert, aber auch irritiert, denn seine bereits gestorbene Mutter Madeline hat nicht davon profitieren können. Und als künftiger Erbe des Großvermögens hat Jeffrey nie dasselbe Ideal eines vollständig selbstbestimmten Lebens entwickelt wie sein Vater. Wie DeLillo hier zwei Figuren aus einem Fleisch, aber mit gegensätzlichem Charakter gestaltet und die ethischen Fragen um sie herum webt, das ist meisterlich.
Das gilt auch für die Kontinuität seines ästhetischen Programms. In DeLillos Büchern hat es immer wieder Schlüsselszenen der medialen und damit unserer kollektiven Wahrnehmung gegeben, die das jeweilige Geschehen befeuern. Du sollst dir ein Bild machen, lautet das erste Gebot des Schriftstellers Don DeLillo, und in seinen Romanen schreibt er die bekannten Bilder fort oder auf sie zu. So im Falle der Ermordung John F. Kennedys in "Libra" (1988), beim Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in "Mao II" (1991) und vor allem in "Falling Man" (2008) beim Einsturz des World Trade Centers, eines Gebäudes, das DeLillo wie kein anderer Autor schon zuvor als Signatur einer Epoche erkannt und beschrieben hatte: in seinem Opus magnum "Unterwelt" von 1997, aber auch bereits in "Spieler" von 1977. Im letzteren Roman durchschaut eine Frau, die bei einem Unternehmen arbeitet, das sich dem Verständnis und der Verarbeitung von Kummer verschrieben hat, den Illusionscharakter des erst 1973 errichteten World Trade Centers: "Für Pammy hatten die Türme nichts Dauerhaftes. Sie blieben bloße Konzepte, trotz ihrer Masse nicht weniger flüchtig als irgendeine herkömmliche Lichtverzerrung."
Auch in "Null K" flimmern nun wieder Bilder. Auf den wandhohen Monitoren des zentralasiatischen Kryonik-Instituts laufen stumme Nachrichtenbilder der Katastrophen, die anderswo die Welt heimsuchen: Wirbelstürme, Überschwemmungen, Großfeuer. Zugleich aber werden diesen unkommentierten Naturexzessen die abstrakten Gemälde entgegengesetzt, mit denen Ross Lockhart sich umgibt, Ruhepunkte in dessen umtriebiger Existenz, Weltverweigerungen durch Rückzug ins gegenstandslos Schöne. Der letzte verständliche Satz, den Jeffrey vor dem Einfrieren von seinem Vater hören wird, lautet "Gesso auf Leinwand", im Original gesso on linen.
"Gesso" bezeichnet eine Kreidegrundierung von Gemälden als notwendige Vorarbeit fürs eigentliche Malen. Mit diesem finalen Rückgriff auf den künstlerischen Prozess wird die Summa von Lockharts Leben gezogen: als Kunstwerk eigenen Rechts, dessen Vollendung aber noch aussteht, zu dem im uns normal erscheinenden Leben gerade einmal die Grundierung geleistet wurde. Das Ausmalen bleibt fürs nächste Leben übrig. Doch die Aussprache des italienischen Fachbegriffs ist weitgehend homonym zur englischen Floskel "just so", und linen ist nicht nur "Leinwand", sondern auch "Laken", und somit mag Jeffrey gar kein in ästhetische Metaphorik gekleidetes Fazit der Existenz seines Vaters vernommen haben, sondern einen fatalistischen Abschied: Da liege ich, auf meinem Sterbebett, just so on linen. Ecce homo.
Solche Doppeldeutigkeiten lässt DeLillo unausgesprochen für sich bestehen, und jede Übersetzung muss an ihnen scheitern. Ansonsten ist Frank Heibert, der seit "Unterwelt" alle Romane des amerikanischen Schriftstellers ins Deutsche gebracht hat, nur zu loben für den lapidaren Ton dieses Romans, den er souverän übertragen hat. Dessen entschlackte Prosa passt ungeachtet seines jungen Alters genau zum Ich-Erzähler, weil Jeffrey keine reflektierte, sondern eine reflektierende Figur ist. In ihm spiegelt sich DeLillos Blick auf den Tod, ein abgeklärtes Sich-Abfinden, auch wenn er einem Mitarbeiter des Kryonik-Instituts den zentralen Satz in den Mund legt: "Irgendwann in der Zukunft nehmen wir den Tod nicht mehr hin."
Aber auch dieser Satz fällt nicht eifernd, er resümiert ganz selbstverständlich ein Grundstreben menschlicher Existenz. Und dadurch, dass DeLillo auch noch den Tod in jungen Jahren (in Gestalt eines aus der Ukraine adoptierten Kindes, das als junger Mann in den dortigen Krieg zieht und stirbt) zum Thema macht, enthält er sich jeder Skandalisierung der übrigen Handlung, die angesichts eines reichen alten Mannes, der sich im rechtlichen Graubereich das ewige Leben erkaufen will, nahegelegen hätte. Der Skandal bleibt der Tod.
Ein Hinweis auf die Haltung des Schriftstellers dazu aber ist in einem Zwischenkapitel zu finden, bei dem nicht Jeffrey der Erzähler ist, sondern die inzwischen eingefrorene Artis spricht - oder das, was von ihr übrig ist. Es handelt sich eine Sequenz von kurzen abgehackten Impressionen, aus der sich kein Erzählfluss formt, auch kein literarischer stream of consciousness, sondern eine endlose elementare Ratlosigkeit. Die Überwindung des Todes schafft auch die Kategorien ab, in denen wir uns zu begreifen gelernt haben. Für einen Romancier ein Albtraum. "Man nähert sich dem Tod mit klarem Geist", hatte De Lillo 1978 in seinem Roman "Bluthunde" als Ideal verkündet. Da war er Anfang vierzig. Jetzt ist er fast doppelt so alt, aber an dieser Ansicht hat sich nichts geändert. Das beweist moralische Kraft. Und intellektuelle, denn mit den Figuren aus "Null K", die sich vom Tod entfernen wollen, lässt er Alternativen aufscheinen, die nicht die seinen sind.
Don DeLillo: "Null K". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 280 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was bleibt angesichts der Unvermeidlichkeit des Sterbens? Die Hoffnung auf dessen Überwindung - wann auch immer. Der amerikanische Altmeister Don DeLillo erzählt in "Null K" von letzten Dingen, die zu vorletzten werden sollen.
Von Andreas Platthaus
Am Ende eines jeden Satzes wartet eine Wahrheit, und der Schriftsteller lernt, wie er diese erkennen kann, wenn er endlich dort angekommen ist. Auf einer Ebene liegt diese Wahrheit im Schwung des Satzes, in seinem Rhythmus, in seiner Balance, doch auf einer tieferen Ebene liegt sie in der Integrität des Schriftstellers, wie er mit der Sprache harmoniert. Wenn ein Satz richtig herauskommt, eignet ihm eine moralische Kraft." So hat es Don DeLillo vor genau einem Vierteljahrhundert formuliert, in seinem Roman "Mao II", und auch wenn diese Erkenntnis einem fiktiven Schriftsteller, dem zurückgezogen lebenden Bill Gray, in den Mund gelegt ist, steckt darin eine Selbstauskunft. DeLillo ist in der Tat ein Moralist, der die Rechtfertigung seiner Überzeugungen in der ästhetischen Vollendung seines Schreibens bestätigt sieht.
Das hat ihn, der in einem Monat achtzig Jahre alt wird, nicht nur zu einem Konstruktionskünstler auf den Plot- und Satzbaustellen der eigenen Romane gemacht, sondern auch zur Zentralfigur der amerikanischen Literatur. In seiner Generation ist ihm nur noch Thomas Pynchon vergleichbar, während die Bücher von Philip Roth und John Updike eine sachlichere Schreibweise insofern bieten, als sie die Welt nicht spekulativ beschreiben. DeLillo und Pynchon füllen die Lücken in unserer historischen oder psychologischen Wahrnehmung - wenn's sein muss auch durch Übergriffe ins Phantasmagorische -, bei Roth und Updike werden die Lücken vertieft, gerade auch durchs Höchstpersönliche. Das sind gegensätzliche Strategien bei der Analyse des gleichen Phänomens. Bei allen vier Autoren liegt die amerikanische Gesellschaft auf der Couch.
Der Literaturnobelpreis ging bislang an allen Mitgliedern dieses Analytikerquartetts vorbei, obwohl die ganze Welt ihre Werke seit Jahrzehnten gelesen und bewundert hat - Updike ist bereits gestorben, und bei den anderen drei konnte eine Verleihung nur noch den Charakter einer Entschuldigung fürs Zuspätkommen haben, zumal Roth ja längst seinen Abschied vom Schreiben verkündet hatte. Das werden allerdings weder Pynchon noch DeLillo je tun, denn ihnen ist ihr Beruf zwar viel weniger Selbstanalyse als für Roth, aber sie sehen auch keine wirkliche Aussicht auf Heilung der von ihnen diagnostizierten gesellschaftlichen Verstörung, weshalb deren literarische Linderung eine Dauerherausforderung ist. Die Dichte ihrer Publikationen hat im höheren Alter zugenommen. Die jüngste Publikation von DeLillo ist nun der Roman "Null K".
Darin wendet er sich erstmals der unmittelbaren Gegenwart zu, einem Zeitpunkt, der genau bezeichnet ist durch die Existenz des Kriegs in der Ostukraine und durch permanente klimatische Ausnahmezustände rund um den Erdball. Die Welt liegt im Argen, und dem Individuum bleibt nur die Behauptung des Selbst. Gleich der erste Satz lautet in der Übersetzung von Frank Heibert: "Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben." Im amerikanischen Original "Zero K", erst vor wenigen Monaten erschienen, heißt er: "Everybody wants to own the end of the world." Mit dem Übergang vom materialistischen own (als Eigentum besitzen) zum machtpolitisch konnotierten "in der Hand haben" verschiebt sich das politische Moment des Romans.
Gesprochen wird der Satz vom Multimillionär Ross Lockhart, einem aus eigener Kraft zu Reichtum gelangten Amerikaner, der angesichts seiner todkranken Frau Artis nun die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt bekommt und sich zumindest sein Ende der Welt aneignen, es dem Schicksal aus der Hand nehmen will. Ein privater Akt, kein aggressiver, ein selbstbestimmter, nicht fremdbestimmender. Und abermals ein eigenfinanzierter, denn Lockhart hat in ein Unternehmen investiert, das selbst am sprichwörtlichen Ende der Welt angesiedelt ist, in den Weiten der zentralasiatischen Steppen. Dort werden Menschen eingefroren - in der Hoffnung, dass die Zukunft Mittel bereitstellen wird, um ihre heute noch tödlichen Gebrechen zu heilen. Dann sollen die Körper wieder aufgetaut und neu belebt werden. Am besten ewig.
Das ist eine seit Jahrzehnten vertraute Idee. Für diese Kryonik benötigt man Temperaturen möglichst nahe am absoluten Nullpunkt: "Zero K" bezeichnet null Grad Kelvin, was minus 273,15 Grad Celsius entspricht. Es ist das Erlöschen allen Lichts und Lebens. Vor dieser Kälte schaudert es Jeffrey, Ross Lockharts Sohn aus erster Ehe, den vierunddreißigjährigen Ich-Erzähler des Romans, der über ein halbes Dutzend geheimnisvolle Umwege von New York nach Usbekistan geflogen wird, um seine Stiefmutter noch einmal zu sehen, ehe sie eingefroren wird, und bei dieser Gelegenheit erfährt, dass auch der Vater ihr bald folgen will, obwohl er noch bei bester Gesundheit ist. Treu bis ins ewige Leben - das ist eine Eheverpflichtung, die Jeffrey bewundert, aber auch irritiert, denn seine bereits gestorbene Mutter Madeline hat nicht davon profitieren können. Und als künftiger Erbe des Großvermögens hat Jeffrey nie dasselbe Ideal eines vollständig selbstbestimmten Lebens entwickelt wie sein Vater. Wie DeLillo hier zwei Figuren aus einem Fleisch, aber mit gegensätzlichem Charakter gestaltet und die ethischen Fragen um sie herum webt, das ist meisterlich.
Das gilt auch für die Kontinuität seines ästhetischen Programms. In DeLillos Büchern hat es immer wieder Schlüsselszenen der medialen und damit unserer kollektiven Wahrnehmung gegeben, die das jeweilige Geschehen befeuern. Du sollst dir ein Bild machen, lautet das erste Gebot des Schriftstellers Don DeLillo, und in seinen Romanen schreibt er die bekannten Bilder fort oder auf sie zu. So im Falle der Ermordung John F. Kennedys in "Libra" (1988), beim Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in "Mao II" (1991) und vor allem in "Falling Man" (2008) beim Einsturz des World Trade Centers, eines Gebäudes, das DeLillo wie kein anderer Autor schon zuvor als Signatur einer Epoche erkannt und beschrieben hatte: in seinem Opus magnum "Unterwelt" von 1997, aber auch bereits in "Spieler" von 1977. Im letzteren Roman durchschaut eine Frau, die bei einem Unternehmen arbeitet, das sich dem Verständnis und der Verarbeitung von Kummer verschrieben hat, den Illusionscharakter des erst 1973 errichteten World Trade Centers: "Für Pammy hatten die Türme nichts Dauerhaftes. Sie blieben bloße Konzepte, trotz ihrer Masse nicht weniger flüchtig als irgendeine herkömmliche Lichtverzerrung."
Auch in "Null K" flimmern nun wieder Bilder. Auf den wandhohen Monitoren des zentralasiatischen Kryonik-Instituts laufen stumme Nachrichtenbilder der Katastrophen, die anderswo die Welt heimsuchen: Wirbelstürme, Überschwemmungen, Großfeuer. Zugleich aber werden diesen unkommentierten Naturexzessen die abstrakten Gemälde entgegengesetzt, mit denen Ross Lockhart sich umgibt, Ruhepunkte in dessen umtriebiger Existenz, Weltverweigerungen durch Rückzug ins gegenstandslos Schöne. Der letzte verständliche Satz, den Jeffrey vor dem Einfrieren von seinem Vater hören wird, lautet "Gesso auf Leinwand", im Original gesso on linen.
"Gesso" bezeichnet eine Kreidegrundierung von Gemälden als notwendige Vorarbeit fürs eigentliche Malen. Mit diesem finalen Rückgriff auf den künstlerischen Prozess wird die Summa von Lockharts Leben gezogen: als Kunstwerk eigenen Rechts, dessen Vollendung aber noch aussteht, zu dem im uns normal erscheinenden Leben gerade einmal die Grundierung geleistet wurde. Das Ausmalen bleibt fürs nächste Leben übrig. Doch die Aussprache des italienischen Fachbegriffs ist weitgehend homonym zur englischen Floskel "just so", und linen ist nicht nur "Leinwand", sondern auch "Laken", und somit mag Jeffrey gar kein in ästhetische Metaphorik gekleidetes Fazit der Existenz seines Vaters vernommen haben, sondern einen fatalistischen Abschied: Da liege ich, auf meinem Sterbebett, just so on linen. Ecce homo.
Solche Doppeldeutigkeiten lässt DeLillo unausgesprochen für sich bestehen, und jede Übersetzung muss an ihnen scheitern. Ansonsten ist Frank Heibert, der seit "Unterwelt" alle Romane des amerikanischen Schriftstellers ins Deutsche gebracht hat, nur zu loben für den lapidaren Ton dieses Romans, den er souverän übertragen hat. Dessen entschlackte Prosa passt ungeachtet seines jungen Alters genau zum Ich-Erzähler, weil Jeffrey keine reflektierte, sondern eine reflektierende Figur ist. In ihm spiegelt sich DeLillos Blick auf den Tod, ein abgeklärtes Sich-Abfinden, auch wenn er einem Mitarbeiter des Kryonik-Instituts den zentralen Satz in den Mund legt: "Irgendwann in der Zukunft nehmen wir den Tod nicht mehr hin."
Aber auch dieser Satz fällt nicht eifernd, er resümiert ganz selbstverständlich ein Grundstreben menschlicher Existenz. Und dadurch, dass DeLillo auch noch den Tod in jungen Jahren (in Gestalt eines aus der Ukraine adoptierten Kindes, das als junger Mann in den dortigen Krieg zieht und stirbt) zum Thema macht, enthält er sich jeder Skandalisierung der übrigen Handlung, die angesichts eines reichen alten Mannes, der sich im rechtlichen Graubereich das ewige Leben erkaufen will, nahegelegen hätte. Der Skandal bleibt der Tod.
Ein Hinweis auf die Haltung des Schriftstellers dazu aber ist in einem Zwischenkapitel zu finden, bei dem nicht Jeffrey der Erzähler ist, sondern die inzwischen eingefrorene Artis spricht - oder das, was von ihr übrig ist. Es handelt sich eine Sequenz von kurzen abgehackten Impressionen, aus der sich kein Erzählfluss formt, auch kein literarischer stream of consciousness, sondern eine endlose elementare Ratlosigkeit. Die Überwindung des Todes schafft auch die Kategorien ab, in denen wir uns zu begreifen gelernt haben. Für einen Romancier ein Albtraum. "Man nähert sich dem Tod mit klarem Geist", hatte De Lillo 1978 in seinem Roman "Bluthunde" als Ideal verkündet. Da war er Anfang vierzig. Jetzt ist er fast doppelt so alt, aber an dieser Ansicht hat sich nichts geändert. Das beweist moralische Kraft. Und intellektuelle, denn mit den Figuren aus "Null K", die sich vom Tod entfernen wollen, lässt er Alternativen aufscheinen, die nicht die seinen sind.
Don DeLillo: "Null K". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 280 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Schluss dieses Romans gehört zum Besten und Schönsten, was Don DeLillo je geschrieben hat.« Die Welt 20160510