Eine Geschichte über List und Leidenschaft, Verrat und Mord. Eine klassische Konstellation: der Vater, die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, haben Sie diese elementare Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch - eine literarische Tour de force von einem der größten Erzähler englischer Sprache.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2016Pränatale Prosa
Ian McEwans Roman "Nussschale" ist ein seltsames Buch. Es hat nicht nur einen ungeborenen Erzähler; alles, was man ihm vorwerfen kann, kann man ihm auch zugutehalten
Ein Roman? Auch ein Roman. Aber nur insofern, als praktisch jede Geschichte, die zwischen zwei Buchdeckel geklemmt und mehr als hundert Seiten lang ist - in diesem Fall sind es mehr als zweihundertsiebzig -, heutzutage als Roman verkauft wird. Ansonsten fehlt diesem Buch so gut wie alles, was einen Roman üblicherweise ausmacht: die Vielzahl der Schauplätze, der Wechsel der Perspektiven, der Reichtum der Beschreibungen, die lange zeitliche Dauer. Und, vor allem, die gründliche Zeichnung der Figuren: der Prosa-Zauber, der sie zum Leben erweckt.
Und das ist kein Wunder. Denn "Nussschale", dieser erste McEwan-Roman mit drei S im Titel (einer von vielen Folgeschäden der Rechtschreibreform) ist vom ersten bis zum letzten Satz aus der Sicht eines noch ungeborenen, dann, auf den Schlussseiten (noch ein Sss-Wort!), hastig und unverhofft - wenn auch keineswegs unschuldig - ins Leben geworfenen Kindes erzählt. Es ist der Bericht eines Fötus: sein Monolog, sein Weltgesang, seine Anklageschrift. Und daraus folgt alles, was man diesem Buch vorwerfen oder zugutehalten kann: seine flachen, fernsehmäßigen Charaktere, seine Guckkasten-Optik, sein planspielhafter Ablauf. Und, andererseits, seine erzählerische Konsequenz und Konzentration, seine Eleganz, seine Unausweichlichkeit.
Denn natürlich kann der Fötus-Junge (denn um einen solchen handelt es sich, wie wir mit gehöriger Verzögerung erfahren) im Bauch seiner Mutter nichts anderes berichten als das, was er von seinem biologischen Panikraum aus zu hören und sich über die Welt da draußen zusammenzureimen vermag. Insofern enthält der erste Satz des von Bernhard Robben makellos ins Deutsche übertragenen Buches zugleich das Konzept, den Ton und das unvermeidliche Ende der Geschichte: "So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." Aber innerhalb dieser narrativen Zwangsjacke erlaubt sich McEwan die größtmögliche fiktionale Freiheit. Er erhebt seinen pränatalen Erzähler zum König im Reich der Ungeborenen. Er verleiht ihm das Wissen eines altklugen Schulkinds und die Weisheit eines Greises. Er schenkt ihm die reife Selbstironie eines Intellektuellen. Er macht ihn zum Weinkenner und Gourmet. Und er stattet ihn mit solcher Hellhörigkeit aus, dass ihm kaum ein Wort entgeht, das in seiner näheren Umgebung gesprochen wird, auch das entscheidende nicht, um das sich die Geschichte dreht und das nach gut sechzig Seiten fällt: "Gift."
Ein Thriller? Auch das. Es geht um Mord, um ein Familienverbrechen: Die Mutter des Erzählers und ihr Liebhaber, der zugleich ihr Schwager ist, wollen gemeinsam den Vater des Babys umbringen. Der Bruder den Bruder. Die Ehefrau den Ehemann. Wo haben wir das schon einmal gehört? Richtig, in "Hamlet", der größten aller Shakespeare-Tragödien, dem größten Theaterstück überhaupt. Dort ist die Tat schon begangen, als die Handlung beginnt. Hier wird sie gerade erst ausgeheckt, was der Geschichte eine ganz andere Richtung gibt. Im Mittelpunkt steht nicht mehr, wie in "Hamlet", die Frage, ob die Verbrecher davonkommen oder bestraft werden, sondern ob und wie sie ihr Verbrechen überhaupt begehen. Erst im letzten Drittel rastet dann der Mechanismus ein, von dem die große Masse der Fernsehkrimis und die schwächere Hälfte der Kinothriller lebt, und erst jetzt greift der kleine Hamlet-Avatar endlich ins Geschehen ein, indem er die Fruchtblase zerreißt, die ihn umhüllt. Vom Davonkommen ist da längst keine Rede mehr, auch nicht von Rache oder Strafe, eher von jenen fragilen Abwägungen, die ein Fötus, wenn er den Verstand eines Erwachsenen hätte, im Angesicht einer Zukunft hinter Gittern oder in der Obhut einer Adoptivfamilie treffen würde.
Bis dahin aber handhabt McEwan die Maschinerie eines klassischen Crime Plots mit einer Lässigkeit, die an Vernachlässigung grenzt. Man spürt, dass ihn das Kernpersonal seiner Story, die blonde, hübsche und launische Trudy und der zum Steinerweichen mediokre Claude (bei Shakespeare heißen sie Gertrude und Claudius) im Grunde nicht besonders interessiert, und auch für den ungeborenen Erzähler, der sich mal mit Hassphantasien, mal mit Selbstmordgedanken trägt oder darüber schwadroniert, "wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt", hat er kaum mehr als ein paar grobe Pinselstriche von Persönlichkeit übrig.
Um so liebevoller malt er das durch den plappernden Babymund gefilterte Porträt von Trudys Ehemann. Dieser John, ein erfolgloser Poet und Kleinverleger, erotischer Langweiler und Inhaber jener millionenschweren verlotterten Villa in bester Londoner Wohnlage, die Claude und Trudy nach seinem Ableben zu Geld machen wollen und in der die Geschichte spielt, ist der einzige wirkliche Mensch in diesem Buch. Um seine untreue Frau zurückzugewinnen, versucht er ihre Eifersucht anzustacheln, indem er ihr eine eigene Liebesaffäre mit einer Nachwuchslyrikerin vorspielt, Elodie, die sich auf Verse über Eulen spezialisiert hat - ein Plan, der beinahe so erfolgreich ist wie die Mordintrige der Gegenseite.
Vor allem aber zitiert John, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, die Crème der englischen Poesie, angeblich kann er tausend Gedichte auswendig, und obwohl Trudy schon beim bloßen Gedanken daran in Gähnkrämpfe verfällt, hört man sie immer wieder gern: Marvells "An seine scheue Geliebte", Owens "Hymne für verlorene Jugend", Draytons Liebessonett, Audens Herbstgesang. In dieser Figur, scheint es, hat McEwan, der überaus Erfolgreiche, eine Angstvorstellung seiner Jugend begraben, den Albtraum des privaten wie beruflichen Scheiterns. "Kill your darlings", lautet eine Maxime aus der Börsenmaklerwelt. Ian McEwan macht daraus Literatur.
Ein Kunstwerk also, ein Geniestreich wie "Abbitte"? Eher ein Kunststück wie "Honig" oder "Am Strand", eine virtuose Fingerübung, ein Divertimento. McEwan weiß, dass er, wenn er sein Sprachgefühl von der Leine lässt, kein wirklich schlechtes Buch schreiben kann, aber er weiß auch, dass eine große Idee noch keinen großen Roman ergibt, auch dann nicht, wenn man sie mit Mord, Sex und Shakespeare anpfeffert. Deshalb gibt er sich alle Mühe, seinen intrauterinen Ich-Erzähler über den Status eines cleveren Autoreneinfalls hinaus zu einer Orakelfigur aufzubauen, einem Weisen vom Venusberg, der unserer Welt aus den Tiefen des Fruchtwassers die Leviten liest. Er lässt ihn Vorträge und Podcasts aus dem Nachtprogramm der BBC referieren, Sendungen über die Finanzkrise, die Klimakatastrophe, den Islamismus, das Pulverfass des Nahen Ostens, die kränkelnde Großmacht Amerika, die zerfallende Europäische Union, die unruhigen Mittelmächte Russland und China und "einen gewissen Monsieur Barthes", der die Langeweile als Gipfel der Seligkeit bezeichnet haben soll. Aber es hilft nichts: Der Leitartikelaufstrich haftet nicht. Die Hamletmaske erwacht nicht zum Leben. Der Junge kommt zur Welt, aber seine Geschichte sprengt nicht den Kokon des Konzepts, in den ihr Autor sie eingesponnen hat.
Man legt das Buch ohne Reue aus der Hand. Es schadet nie, sich drei, vier Stunden mit einem ausgebufften Erzähler zu unterhalten. Nur hat man diesmal das Gefühl, dass Ian McEwan nichts wirklich Wichtiges erzählen wollte. Er wollte nur etwas ausprobieren. Und siehe, es hat geklappt.
ANDREAS KILB
Ian McEwan: "Nussschale". Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 288 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ian McEwans Roman "Nussschale" ist ein seltsames Buch. Es hat nicht nur einen ungeborenen Erzähler; alles, was man ihm vorwerfen kann, kann man ihm auch zugutehalten
Ein Roman? Auch ein Roman. Aber nur insofern, als praktisch jede Geschichte, die zwischen zwei Buchdeckel geklemmt und mehr als hundert Seiten lang ist - in diesem Fall sind es mehr als zweihundertsiebzig -, heutzutage als Roman verkauft wird. Ansonsten fehlt diesem Buch so gut wie alles, was einen Roman üblicherweise ausmacht: die Vielzahl der Schauplätze, der Wechsel der Perspektiven, der Reichtum der Beschreibungen, die lange zeitliche Dauer. Und, vor allem, die gründliche Zeichnung der Figuren: der Prosa-Zauber, der sie zum Leben erweckt.
Und das ist kein Wunder. Denn "Nussschale", dieser erste McEwan-Roman mit drei S im Titel (einer von vielen Folgeschäden der Rechtschreibreform) ist vom ersten bis zum letzten Satz aus der Sicht eines noch ungeborenen, dann, auf den Schlussseiten (noch ein Sss-Wort!), hastig und unverhofft - wenn auch keineswegs unschuldig - ins Leben geworfenen Kindes erzählt. Es ist der Bericht eines Fötus: sein Monolog, sein Weltgesang, seine Anklageschrift. Und daraus folgt alles, was man diesem Buch vorwerfen oder zugutehalten kann: seine flachen, fernsehmäßigen Charaktere, seine Guckkasten-Optik, sein planspielhafter Ablauf. Und, andererseits, seine erzählerische Konsequenz und Konzentration, seine Eleganz, seine Unausweichlichkeit.
Denn natürlich kann der Fötus-Junge (denn um einen solchen handelt es sich, wie wir mit gehöriger Verzögerung erfahren) im Bauch seiner Mutter nichts anderes berichten als das, was er von seinem biologischen Panikraum aus zu hören und sich über die Welt da draußen zusammenzureimen vermag. Insofern enthält der erste Satz des von Bernhard Robben makellos ins Deutsche übertragenen Buches zugleich das Konzept, den Ton und das unvermeidliche Ende der Geschichte: "So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." Aber innerhalb dieser narrativen Zwangsjacke erlaubt sich McEwan die größtmögliche fiktionale Freiheit. Er erhebt seinen pränatalen Erzähler zum König im Reich der Ungeborenen. Er verleiht ihm das Wissen eines altklugen Schulkinds und die Weisheit eines Greises. Er schenkt ihm die reife Selbstironie eines Intellektuellen. Er macht ihn zum Weinkenner und Gourmet. Und er stattet ihn mit solcher Hellhörigkeit aus, dass ihm kaum ein Wort entgeht, das in seiner näheren Umgebung gesprochen wird, auch das entscheidende nicht, um das sich die Geschichte dreht und das nach gut sechzig Seiten fällt: "Gift."
Ein Thriller? Auch das. Es geht um Mord, um ein Familienverbrechen: Die Mutter des Erzählers und ihr Liebhaber, der zugleich ihr Schwager ist, wollen gemeinsam den Vater des Babys umbringen. Der Bruder den Bruder. Die Ehefrau den Ehemann. Wo haben wir das schon einmal gehört? Richtig, in "Hamlet", der größten aller Shakespeare-Tragödien, dem größten Theaterstück überhaupt. Dort ist die Tat schon begangen, als die Handlung beginnt. Hier wird sie gerade erst ausgeheckt, was der Geschichte eine ganz andere Richtung gibt. Im Mittelpunkt steht nicht mehr, wie in "Hamlet", die Frage, ob die Verbrecher davonkommen oder bestraft werden, sondern ob und wie sie ihr Verbrechen überhaupt begehen. Erst im letzten Drittel rastet dann der Mechanismus ein, von dem die große Masse der Fernsehkrimis und die schwächere Hälfte der Kinothriller lebt, und erst jetzt greift der kleine Hamlet-Avatar endlich ins Geschehen ein, indem er die Fruchtblase zerreißt, die ihn umhüllt. Vom Davonkommen ist da längst keine Rede mehr, auch nicht von Rache oder Strafe, eher von jenen fragilen Abwägungen, die ein Fötus, wenn er den Verstand eines Erwachsenen hätte, im Angesicht einer Zukunft hinter Gittern oder in der Obhut einer Adoptivfamilie treffen würde.
Bis dahin aber handhabt McEwan die Maschinerie eines klassischen Crime Plots mit einer Lässigkeit, die an Vernachlässigung grenzt. Man spürt, dass ihn das Kernpersonal seiner Story, die blonde, hübsche und launische Trudy und der zum Steinerweichen mediokre Claude (bei Shakespeare heißen sie Gertrude und Claudius) im Grunde nicht besonders interessiert, und auch für den ungeborenen Erzähler, der sich mal mit Hassphantasien, mal mit Selbstmordgedanken trägt oder darüber schwadroniert, "wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt", hat er kaum mehr als ein paar grobe Pinselstriche von Persönlichkeit übrig.
Um so liebevoller malt er das durch den plappernden Babymund gefilterte Porträt von Trudys Ehemann. Dieser John, ein erfolgloser Poet und Kleinverleger, erotischer Langweiler und Inhaber jener millionenschweren verlotterten Villa in bester Londoner Wohnlage, die Claude und Trudy nach seinem Ableben zu Geld machen wollen und in der die Geschichte spielt, ist der einzige wirkliche Mensch in diesem Buch. Um seine untreue Frau zurückzugewinnen, versucht er ihre Eifersucht anzustacheln, indem er ihr eine eigene Liebesaffäre mit einer Nachwuchslyrikerin vorspielt, Elodie, die sich auf Verse über Eulen spezialisiert hat - ein Plan, der beinahe so erfolgreich ist wie die Mordintrige der Gegenseite.
Vor allem aber zitiert John, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, die Crème der englischen Poesie, angeblich kann er tausend Gedichte auswendig, und obwohl Trudy schon beim bloßen Gedanken daran in Gähnkrämpfe verfällt, hört man sie immer wieder gern: Marvells "An seine scheue Geliebte", Owens "Hymne für verlorene Jugend", Draytons Liebessonett, Audens Herbstgesang. In dieser Figur, scheint es, hat McEwan, der überaus Erfolgreiche, eine Angstvorstellung seiner Jugend begraben, den Albtraum des privaten wie beruflichen Scheiterns. "Kill your darlings", lautet eine Maxime aus der Börsenmaklerwelt. Ian McEwan macht daraus Literatur.
Ein Kunstwerk also, ein Geniestreich wie "Abbitte"? Eher ein Kunststück wie "Honig" oder "Am Strand", eine virtuose Fingerübung, ein Divertimento. McEwan weiß, dass er, wenn er sein Sprachgefühl von der Leine lässt, kein wirklich schlechtes Buch schreiben kann, aber er weiß auch, dass eine große Idee noch keinen großen Roman ergibt, auch dann nicht, wenn man sie mit Mord, Sex und Shakespeare anpfeffert. Deshalb gibt er sich alle Mühe, seinen intrauterinen Ich-Erzähler über den Status eines cleveren Autoreneinfalls hinaus zu einer Orakelfigur aufzubauen, einem Weisen vom Venusberg, der unserer Welt aus den Tiefen des Fruchtwassers die Leviten liest. Er lässt ihn Vorträge und Podcasts aus dem Nachtprogramm der BBC referieren, Sendungen über die Finanzkrise, die Klimakatastrophe, den Islamismus, das Pulverfass des Nahen Ostens, die kränkelnde Großmacht Amerika, die zerfallende Europäische Union, die unruhigen Mittelmächte Russland und China und "einen gewissen Monsieur Barthes", der die Langeweile als Gipfel der Seligkeit bezeichnet haben soll. Aber es hilft nichts: Der Leitartikelaufstrich haftet nicht. Die Hamletmaske erwacht nicht zum Leben. Der Junge kommt zur Welt, aber seine Geschichte sprengt nicht den Kokon des Konzepts, in den ihr Autor sie eingesponnen hat.
Man legt das Buch ohne Reue aus der Hand. Es schadet nie, sich drei, vier Stunden mit einem ausgebufften Erzähler zu unterhalten. Nur hat man diesmal das Gefühl, dass Ian McEwan nichts wirklich Wichtiges erzählen wollte. Er wollte nur etwas ausprobieren. Und siehe, es hat geklappt.
ANDREAS KILB
Ian McEwan: "Nussschale". Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 288 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2016Der kleine Lauschangriff
Zum Ausklang des Shakespeare-Jahres erzählt Ian McEwan die Hamlet-Geschichte neu, und zwar aus der Sicht des noch ungeborenen Kindes.
Dem britischen Autor gelingt mit seinem Roman „Nussschale“ die eleganteste Hommage zum 400. Geburtstag des Allergrößten unter den Dichtern
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das ausklingende Shakespeare-Jahr wird passenderweise in die Geschichte eingehen als jenes, in dem ein Schurke im Narrenkostüm (oder umgekehrt) die politische Weltbühne kaperte. Der literarische Ertrag des Jubiläums dürfte hingegen überschaubar bleiben. Eigentlich lässt sich schon jetzt voraussagen, dass dem Briten Ian McEwan und seinem Roman „Nussschale“ kaum mehr ernsthafte Konkurrenz erwachsen wird, wenn es um die eleganteste belletristische Hommage zum 400. Todestag des Allergrößten unter den Dichtern geht.
„O Gott“, sagt Prinz Hamlet in der zweiten Szene des zweiten Aktes, „ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“ McEwans Held, ein Hamlet in mörderischer Familienkonstellation nach dem Vorbild des Dramas, hat zwar etwas mehr Raum zur Verfügung, aber das fällt nicht ins Gewicht, weil er unaufhaltsam an Umfang zulegt und alsbald an die Wände seines Gefängnisses stößt: Dieser kleine König ist nämlich ein Fötus, und seine Mutter Trudy, eine schöne junge Mittelschicht-Inkarnation von Shakespeares Gertrude, befindet sich im finalen Stadium ihrer ersten Schwangerschaft.
Ganz neu ist der Einfall nicht, den der lässig mit seiner Bildung glänzende Autor hier durchspielt. In Laurence Sternes „Tristram Shandy“ liegt ein großer Teil der erzählten Zeit vor der Geburt des Erzählers, und vor dreißig Jahren veröffentlichte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes den Roman „Cristóbal Nonato“ (deutsch: „Christoph, Ungeborn“), in dem ein Columbus-Wiedergänger als Embryo im Bauch der Mutter eine apokalyptisch-satirische Suada über seine Zeugung, seine Familiengeschichte und die desolate Lage Mexikos ablässt. Für das Kino schuf die US-Regisseurin Amy Heckerling kurz darauf „Look Who’s Talking“, verdeutscht als „Kuck mal, wer da spricht“, mit Bruce Willis in der Baby-Rolle, bei uns synchronisiert durch Thomas Gottschalk.
Auch „Nussschale“ ließe sich gewiss trefflich verfilmen, aber hier wäre eine andere Stimme vonnöten. Und es ist gar nicht leicht, sich diese Stimme vorzustellen. Denn McEwan lässt seinen pränatalen Protagonisten buchstäblich auf „unermeßlichem Gebiete“ räsonieren, reflektieren und lamentieren; er macht sich einen Spaß daraus, ihm seinen eigenen, selbstironisch gefärbten Weltekel in den Mund zu legen und ihn mit höchst unkindlichen Kompetenzen wie Weinkennerschaft, literarischem Urteilsvermögen und psychologischer Hellhörigkeit auszustatten. Zugleich entfaltet er ein hübsches Maß an poetischer Fantasie, um sich in den vorgeburtlichen Zustand eines Menschenbewusstseins hineinzudenken: „Vor langer Zeit, vor mehreren Wochen, wölbten sich die Neuralwülste auf, um mein Rückgrat zu bilden, und viele Millionen junger Neuronen, wuselig wie Seidenwürmer, spannen und webten mit Hilfe ihrer Axonschweife das herrliche goldene Gewebe meiner ersten Idee – ein so simpler Begriff, dass er sich mir heute wieder entzieht.“
Klein-Hamlets erste Idee hat unvermeidlich mit „Sein oder Nichtsein“ zu tun. Von den Problemen des Handelns, des entschlossenen Eingreifens bleibt er in seinem abgeschirmten kleinen Kosmos verschont – vorläufig. Was in Shakespeares Drama vollendete Tatsache ist, wird hier erst ausgeheckt, zum ohnmächtigen Entsetzen des Lauschers im Mutterleib: Der ebenso böse wie dümmliche Onkel Claude (in Helsingör hieß er Claudius), dem Mama Trudy aus schwer nachvollziehbaren Gründen verfallen ist, will mit ihr den Kindesvater umbringen, um sich dessen Erbe unter den Nagel zu reißen, ein heruntergekommenes, gleichwohl millionenschweres Londoner Einfamilienhaus in Bestlage.
Vater John wiederum, Claudes Bruder, als Lyriker und Kleinverleger gescheitert, verschuldet, übergewichtig und mit Schuppenflechte geschlagen, smoothiesüchtig, ahnungslos und „bestrebt, es jedem recht zu machen“, lässt das mordlüsterne Paar in der georgianischen Villa wohnen und vegetiert in einem schäbigen Apartment in Shoreditch. Er liebt die treulose Trudy noch immer, umwirbt sie mit eigenen und fremden Gedichten und versucht, sie eifersüchtig zu machen, indem er ihr eine Affäre mit einer Nachwuchslyrikerin vorspielt – alles vergeblich, alles sehr komisch im Kontext des Plots, der zu gleichen Teilen Krimi, Family-Soap und Intellektuellensatire ist, fröhlich mit Klischees jongliert und doch immer wieder zu bitterbösen Wahrheiten vorstößt.
Zu den groteskesten Passagen gehören die Sexszenen zwischen Claude und Trudy, angewidert und genervt beschrieben aus der Perspektive des Ungeborenen, den der Penis des Brudermörders bei diesen Gelegenheiten qualvoll bedrängt. In einer dieser Szenen versucht er sogar, sich mit der eigenen Nabelschnur zu strangulieren, um auf diese Weise Sand in das schreckliche Getriebe zu streuen: „Ein Kindstod, letztlich Mord, infolge der unverantwortlichen Zudringlichkeit meines Onkels gegen meine hochschwangere Mutter. Festnahme, Prozess, Urteil, Haft. Der Tod meines Vaters halb gerächt.“ Aber das Vorhaben misslingt, und schon ist der Kleine, beständig hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Abscheu, wieder Philosoph genug, um sich seinen Lebensanspruch zu vergegenwärtigen: „Ich habe ein Anrecht auf eine Handvoll Dekaden, darauf, mein Glück auf diesem entfesselt kreisenden Planeten zu versuchen.“
Der Autor benutzt solche Momente als Auslöser ebenso düsterer wie realitätsnaher Gegenwartsanalysen und Zukunftsvisionen, die er offenbar nur in der Rolle des embryonalen Beobachters derart unbefangen formulieren kann: Da werden alle Aspekte der prekären Weltlage aufgezählt, und ob der neue Erdenbürger in spe seine detaillierten Informationen nun aus mitgehörten Radiosendungen oder aus angeborenem Weit- und Durchblick bezieht, bleibt offen. Manche mögen das als Leitartikelprosa verachten, aber in einer Zeit, in der so viele böse Träume wahr werden, müssen Genre- und Gattungsmischungen dieser Art gestattet sein, zumal einem Sprachvirtuosen wie McEwan, der die Gabe besitzt, das Schwere leicht zu machen und das Leichte gewichtig.
Der Krimiplot samt vorgetäuschtem Suizid mit Glykol im Smoothie und misstrauischen Ermittlern wird genüsslich ausgespielt, nachdem das Opfer, das uns leider nie so recht sympathisch geworden ist, noch einen ergreifenden Monolog über die Liebe halten durfte. Dann, in allerletzter Minute, greift der Erzähler doch noch aktiv ein, um zumindest die feige Flucht der Täter zu vereiteln. Er tut es mit dem einzigen ihm zu Gebot stehenden Mittel: Er kommt zur Welt, früher als gedacht. Die Schilderung einer Geburt aus der Sicht des Betroffenen ist wiederum ein kleines Meisterstück, ebenso wie die Erscheinung des Vater-Geistes, vom Fötus imaginiert als „kindische Halloween-Phantasie“.
Zwei Rätsel bleiben ungelöst: Was hat es mit den Tier-Todesfälle, von denen berichtet wird, auf sich? Und wie konnte sich in die ziemlich brillante Übersetzung von Bernhard Robben ein Fauxpas einschleichen wie „auf dieses Adverb bestehe ich“? Doch wenn die Zeit aus den Fugen ist, verlieren solche Fragen ihre Dringlichkeit.
McEwan jongliert fröhlich
mit Klischees und stößt doch
zu bitteren Wahrheiten vor
Die Erscheinung des Vaters
als Geist imaginiert der Fötus
als Halloween-Fantasie
Pränataler Protagonist und schon ein Philosoph: „Ich habe ein Anrecht darauf, mein Glück auf diesem entfesselt kreisenden Planeten zu versuchen.“
Abb.: SZ-Grafik
Ian McEwan:
Nussschale. Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Diogenes Verlag, Zürich 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zum Ausklang des Shakespeare-Jahres erzählt Ian McEwan die Hamlet-Geschichte neu, und zwar aus der Sicht des noch ungeborenen Kindes.
Dem britischen Autor gelingt mit seinem Roman „Nussschale“ die eleganteste Hommage zum 400. Geburtstag des Allergrößten unter den Dichtern
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das ausklingende Shakespeare-Jahr wird passenderweise in die Geschichte eingehen als jenes, in dem ein Schurke im Narrenkostüm (oder umgekehrt) die politische Weltbühne kaperte. Der literarische Ertrag des Jubiläums dürfte hingegen überschaubar bleiben. Eigentlich lässt sich schon jetzt voraussagen, dass dem Briten Ian McEwan und seinem Roman „Nussschale“ kaum mehr ernsthafte Konkurrenz erwachsen wird, wenn es um die eleganteste belletristische Hommage zum 400. Todestag des Allergrößten unter den Dichtern geht.
„O Gott“, sagt Prinz Hamlet in der zweiten Szene des zweiten Aktes, „ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“ McEwans Held, ein Hamlet in mörderischer Familienkonstellation nach dem Vorbild des Dramas, hat zwar etwas mehr Raum zur Verfügung, aber das fällt nicht ins Gewicht, weil er unaufhaltsam an Umfang zulegt und alsbald an die Wände seines Gefängnisses stößt: Dieser kleine König ist nämlich ein Fötus, und seine Mutter Trudy, eine schöne junge Mittelschicht-Inkarnation von Shakespeares Gertrude, befindet sich im finalen Stadium ihrer ersten Schwangerschaft.
Ganz neu ist der Einfall nicht, den der lässig mit seiner Bildung glänzende Autor hier durchspielt. In Laurence Sternes „Tristram Shandy“ liegt ein großer Teil der erzählten Zeit vor der Geburt des Erzählers, und vor dreißig Jahren veröffentlichte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes den Roman „Cristóbal Nonato“ (deutsch: „Christoph, Ungeborn“), in dem ein Columbus-Wiedergänger als Embryo im Bauch der Mutter eine apokalyptisch-satirische Suada über seine Zeugung, seine Familiengeschichte und die desolate Lage Mexikos ablässt. Für das Kino schuf die US-Regisseurin Amy Heckerling kurz darauf „Look Who’s Talking“, verdeutscht als „Kuck mal, wer da spricht“, mit Bruce Willis in der Baby-Rolle, bei uns synchronisiert durch Thomas Gottschalk.
Auch „Nussschale“ ließe sich gewiss trefflich verfilmen, aber hier wäre eine andere Stimme vonnöten. Und es ist gar nicht leicht, sich diese Stimme vorzustellen. Denn McEwan lässt seinen pränatalen Protagonisten buchstäblich auf „unermeßlichem Gebiete“ räsonieren, reflektieren und lamentieren; er macht sich einen Spaß daraus, ihm seinen eigenen, selbstironisch gefärbten Weltekel in den Mund zu legen und ihn mit höchst unkindlichen Kompetenzen wie Weinkennerschaft, literarischem Urteilsvermögen und psychologischer Hellhörigkeit auszustatten. Zugleich entfaltet er ein hübsches Maß an poetischer Fantasie, um sich in den vorgeburtlichen Zustand eines Menschenbewusstseins hineinzudenken: „Vor langer Zeit, vor mehreren Wochen, wölbten sich die Neuralwülste auf, um mein Rückgrat zu bilden, und viele Millionen junger Neuronen, wuselig wie Seidenwürmer, spannen und webten mit Hilfe ihrer Axonschweife das herrliche goldene Gewebe meiner ersten Idee – ein so simpler Begriff, dass er sich mir heute wieder entzieht.“
Klein-Hamlets erste Idee hat unvermeidlich mit „Sein oder Nichtsein“ zu tun. Von den Problemen des Handelns, des entschlossenen Eingreifens bleibt er in seinem abgeschirmten kleinen Kosmos verschont – vorläufig. Was in Shakespeares Drama vollendete Tatsache ist, wird hier erst ausgeheckt, zum ohnmächtigen Entsetzen des Lauschers im Mutterleib: Der ebenso böse wie dümmliche Onkel Claude (in Helsingör hieß er Claudius), dem Mama Trudy aus schwer nachvollziehbaren Gründen verfallen ist, will mit ihr den Kindesvater umbringen, um sich dessen Erbe unter den Nagel zu reißen, ein heruntergekommenes, gleichwohl millionenschweres Londoner Einfamilienhaus in Bestlage.
Vater John wiederum, Claudes Bruder, als Lyriker und Kleinverleger gescheitert, verschuldet, übergewichtig und mit Schuppenflechte geschlagen, smoothiesüchtig, ahnungslos und „bestrebt, es jedem recht zu machen“, lässt das mordlüsterne Paar in der georgianischen Villa wohnen und vegetiert in einem schäbigen Apartment in Shoreditch. Er liebt die treulose Trudy noch immer, umwirbt sie mit eigenen und fremden Gedichten und versucht, sie eifersüchtig zu machen, indem er ihr eine Affäre mit einer Nachwuchslyrikerin vorspielt – alles vergeblich, alles sehr komisch im Kontext des Plots, der zu gleichen Teilen Krimi, Family-Soap und Intellektuellensatire ist, fröhlich mit Klischees jongliert und doch immer wieder zu bitterbösen Wahrheiten vorstößt.
Zu den groteskesten Passagen gehören die Sexszenen zwischen Claude und Trudy, angewidert und genervt beschrieben aus der Perspektive des Ungeborenen, den der Penis des Brudermörders bei diesen Gelegenheiten qualvoll bedrängt. In einer dieser Szenen versucht er sogar, sich mit der eigenen Nabelschnur zu strangulieren, um auf diese Weise Sand in das schreckliche Getriebe zu streuen: „Ein Kindstod, letztlich Mord, infolge der unverantwortlichen Zudringlichkeit meines Onkels gegen meine hochschwangere Mutter. Festnahme, Prozess, Urteil, Haft. Der Tod meines Vaters halb gerächt.“ Aber das Vorhaben misslingt, und schon ist der Kleine, beständig hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Abscheu, wieder Philosoph genug, um sich seinen Lebensanspruch zu vergegenwärtigen: „Ich habe ein Anrecht auf eine Handvoll Dekaden, darauf, mein Glück auf diesem entfesselt kreisenden Planeten zu versuchen.“
Der Autor benutzt solche Momente als Auslöser ebenso düsterer wie realitätsnaher Gegenwartsanalysen und Zukunftsvisionen, die er offenbar nur in der Rolle des embryonalen Beobachters derart unbefangen formulieren kann: Da werden alle Aspekte der prekären Weltlage aufgezählt, und ob der neue Erdenbürger in spe seine detaillierten Informationen nun aus mitgehörten Radiosendungen oder aus angeborenem Weit- und Durchblick bezieht, bleibt offen. Manche mögen das als Leitartikelprosa verachten, aber in einer Zeit, in der so viele böse Träume wahr werden, müssen Genre- und Gattungsmischungen dieser Art gestattet sein, zumal einem Sprachvirtuosen wie McEwan, der die Gabe besitzt, das Schwere leicht zu machen und das Leichte gewichtig.
Der Krimiplot samt vorgetäuschtem Suizid mit Glykol im Smoothie und misstrauischen Ermittlern wird genüsslich ausgespielt, nachdem das Opfer, das uns leider nie so recht sympathisch geworden ist, noch einen ergreifenden Monolog über die Liebe halten durfte. Dann, in allerletzter Minute, greift der Erzähler doch noch aktiv ein, um zumindest die feige Flucht der Täter zu vereiteln. Er tut es mit dem einzigen ihm zu Gebot stehenden Mittel: Er kommt zur Welt, früher als gedacht. Die Schilderung einer Geburt aus der Sicht des Betroffenen ist wiederum ein kleines Meisterstück, ebenso wie die Erscheinung des Vater-Geistes, vom Fötus imaginiert als „kindische Halloween-Phantasie“.
Zwei Rätsel bleiben ungelöst: Was hat es mit den Tier-Todesfälle, von denen berichtet wird, auf sich? Und wie konnte sich in die ziemlich brillante Übersetzung von Bernhard Robben ein Fauxpas einschleichen wie „auf dieses Adverb bestehe ich“? Doch wenn die Zeit aus den Fugen ist, verlieren solche Fragen ihre Dringlichkeit.
McEwan jongliert fröhlich
mit Klischees und stößt doch
zu bitteren Wahrheiten vor
Die Erscheinung des Vaters
als Geist imaginiert der Fötus
als Halloween-Fantasie
Pränataler Protagonist und schon ein Philosoph: „Ich habe ein Anrecht darauf, mein Glück auf diesem entfesselt kreisenden Planeten zu versuchen.“
Abb.: SZ-Grafik
Ian McEwan:
Nussschale. Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Diogenes Verlag, Zürich 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern