Der Prozess gegen Oscar Wilde als großes Hörspiel
Am 18. Februar 1895 hinterließ der Marquis von Queensberry in Wildes Club eine Karte. "Für Oscar Wilde, den posierenden Homosexuellen". Gegen den Rat seiner Freunde entschloss sich Wilde, den Marquis wegen Verleumdung zu verklagen - und setzte damit einen Prozess in Gang, der wie eine Komödie begann und sich vor den Augen der Öffentlichkeit unaufhaltsam in eine Tragödie verwandelte. Wilde befand sich auf dem Zenit seines Ruhms, als er so sein Schicksal herausforderte und damit den größten Skandal seiner Zeit auslöste. Entsprechend tief war sein Fall - er verlor und wurde anschließend zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt.
Am 18. Februar 1895 hinterließ der Marquis von Queensberry in Wildes Club eine Karte. "Für Oscar Wilde, den posierenden Homosexuellen". Gegen den Rat seiner Freunde entschloss sich Wilde, den Marquis wegen Verleumdung zu verklagen - und setzte damit einen Prozess in Gang, der wie eine Komödie begann und sich vor den Augen der Öffentlichkeit unaufhaltsam in eine Tragödie verwandelte. Wilde befand sich auf dem Zenit seines Ruhms, als er so sein Schicksal herausforderte und damit den größten Skandal seiner Zeit auslöste. Entsprechend tief war sein Fall - er verlor und wurde anschließend zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein "glanzvolles Theaterstück" sei dieses Hörstück auf der Grundlage von Protokollen des Oscar-Wilde-Prozesses. Wie hier der Schauspieler Marcus Kiepe den affektierten und mit raffinierten Sentenzen um sich werfenden Wilde darstelle, das "sollte man hören!", schreibt ein rundum begeisterter Rezensent. Auch Wildes Kontrahent, der Verteidiger des Marquis, werde "knochentrocken" und sehr plausibel von Ulrich Noethen gespielt, und nicht zuletzt hebt Martin Z. Schröder die Leistung des Regisseurs Norbert Schaeffer besonders hervor. Welchen dramatischen Verlauf der Umschlag von Künstlerhybris zur Ahnung des Untergangs nähme, sei schon eine "Ovation" wert. Neben aller nützlichen Anschauung darüber, wie relevant und historisch relativ doch Moral in der Rechtsprechung sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2003Ein provozierter Provokateur im Kreuzverhör
Oscar Wilde im Zeugenstand: In der ersten vollständigen Niederschrift des Queensberry-Prozesses zeigt sich, daß das Leben manchmal doch die besten Geschichten selbst schreibt
Das bisweilen recht komplizierte Verhältnis zwischen Leben und Literatur spielt im Kreuzverhör, in das der Kronanwalt Edward Carson, in Vertretung der Verteidigung, den Kläger Oscar Wilde genommen hat, eine mitentscheidende Rolle.
"Ich meine, ich könnte ein Buch nicht kritisieren, als wäre es ein Stück tatsächlichen Lebens", sagt Oscar Wilde da einmal. Und daraus ergibt sich für den Kritiker die Frage, was am vorliegenden Buch "Oscar Wilde im Kreuzverhör" zu kritisieren wäre: das Vorwort, in dem der Herausgeber, Wildes Enkel Merlin Holland, vielleicht etwas zuviel vom Verlauf dieses Prozesses vorwegnimmt? Die Anmerkungen, die ihren Zweck vorbildlich erfüllen und das Protokoll, das gut drei Viertel der 450 Seiten füllt, in fast allen Einzelheiten nachvollziehbar machen? Oder ist hier ausnahmsweise der Versuch erlaubt, dies Stück Leben, wie es im Protokoll festgehalten ist, auf seine literarischen Qualitäten hin zu überprüfen?
Daß das Leben generell die besten Geschichten schreibe, ist ein weitverbreiteter Irrtum, und Autoren, die ihn noch weiter verbreiten, müssen schon eine besonders geringe Meinung von ihrem Talent haben, wenn auch häufig zu Recht. Doch wenn man die Aufzeichnungen dieses Falles gelesen hat, möchte man schon zweifeln an der Unsinnigkeit des populären Vorurteils. Denn hier hat das Leben einen seiner dichteren Momente.
Die Krone (Oscar Wilde) vs. John Douglas (Marquis von Queensberry) - die beiden Kontrahenten sind fast zu konträr, um wahr zu sein. Auf der einen Seite Queensberry, der leibliche Vater von Lord Alfred Douglas, Wildes geliebtem Bosie, und der geistige Turnvater des modernen Faustkampfs - nach seinen Regeln wird immer noch geboxt -, privat offenbar ein despotischer Rohling, zu Zornesausbrüchen neigend, deren Vehemenz jene körperlichen Züchtigungen, wie sie in Briefen an seinen Sohn regelmäßig enthalten sind, nicht als bloße Papiertigereien erscheinen lassen. Auf der Gegenseite Oscar Wilde, bekennender Ästhet, Londoner Salonlöwe und als Dramatiker zum Zeitpunkt des Prozesses mit der Uraufführung von "The Importance of Being Earnest" auf der Höhe seiner Möglichkeiten und seines Erfolgs.
Als wär's ein Stück von ihm, ist schon das Corpus delicti in diesem Fall mehrdeutig: Eine Visitenkarte, die Queensberry in Wildes Club hinterläßt, enthält nicht bloß einen dummen Schreibfehler ("somdomite" statt "sodomite"), sondern sie ist noch dazu so unleserlich, daß zunächst drei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten auftauchen: "To Oscar Wilde ponce and somdomite" (Zuhälter und Homosexueller), ". . . posing somdomite" (posierender Homosexueller) und ". . . posing as somdomite" (. . ., der als Homosexueller posiert), jene Formulierung, die letztlich vom Verfasser autorisiert wurde und wohl auch gemeint war.
Es sind Details wie diese, die das Protokoll spannend machen und dessen Lektüre, selbst in dieser gnadenlos dokumentierten Vollständigkeit, lohnend. Denn keine der vielen Zusammenfassungen, wie sie sich in Wilde-Biographien finden, kann das Fluidum vermitteln, in dem das Unheil zwischen dem 3. und 5. April 1895 im Central Criminal Court (Old Bailey) seinen Lauf nahm.
Natürlich war es Wildes eigener Hochmut, der vor seinem Fall kam. Hätte er nicht selbst diesen Verleumdungsprozeß angestrengt - womöglich wäre ihm alles erspart geblieben, was letztlich zu seinem Ruin geführt hat. Das ist bekannt. Auch die brillantesten seiner Bonmots, mit denen er die Zuschauer immer wieder zu protokolliertem "lautem Gelächter" hinriß, werden gern zitiert, wie: "Ich habe noch nie jemanden verehrt - außer mir selbst." Die Einschätzung der Kräfteverhältnisse wurde bisher erheblich von Wildes eigenen Formulierungen - etwa: "Der Abschaum überfällt den Elfenbeinturm" - geprägt. "Als Riese unter Pygmäen" erschien Oscar Wilde zumindest anfangs noch wohlmeinenden Berichterstattern.
Dieser Eindruck eines souverän an der eigenen Größe und dem Unverständnis seiner Umwelt gescheiterten Helden ist unhaltbar. Denn dagegen hält das Leben eine Überraschungs-Besetzung bereit, die sich als dramaturgischer Glücksgriff entpuppt: Sein eigentlicher Widersacher in diesem Prozeß, Queensberrys Anwalt Edward Carson, ist Wilde nicht nur ebenbürtig, sondern er macht das, was ihm jener an Eloquenz voraushaben mag, mehr als wett durch eine unverschämte Penetranz, die sich in bohrenden Fragen, quälenden Nachfragen, nagenden Zweifeln und nimmermüden Wiederholungen ausdrückt. Gefällt sich Wilde in der Rolle des über jede Moral erhabenen, reinen Snobs, posiert Carson als gesundes Volksempfinden, dem jedes moralische Vorurteil billig ist.
Natürlich heucheln beide. Wilde ist homosexuell, und Carson eignet sich schon rein äußerlich so gar nicht zum Volksvertreter: Auf zeitgenössischen Karikaturen wirkt er sogar eleganter und blasierter noch als Wilde, der damals für einen Dandy bereits unziemlich in die Breite gegangen war. Eine interessante optische Konstellation, und um das "Courtroom Drama" perfekt zu machen, hält das Leben sogar noch eine politisch pikante Verschwörungstheorie im Hintergrund sowie eine gemeinsame Vergangenheit der beiden Widersacher parat: Carson und Wilde haben zur selben Zeit das Trinity College in Dublin besucht. Und Wilde soll recht behalten mit seiner Voraussage, der ehemalige Mitschüler werde "seine Aufgabe mit der ganzen Bitterkeit eines alten Freundes erfüllen".
Bereits im Verlauf des ersten Verhandlungstages hat Carson Wilde aus der Rolle des Klägers in die des Angeklagten gedrängt, der sich nicht nur für seine eigene Literatur verantworten muß, sondern auch für die Produkte weniger begabter Nachahmer, was Wilde zunehmend schwerfällt, da Carson es ihm durch mutwilliges Mißverstehen unmöglich macht, sich von ironiefreiem Schwulenkitsch elegant zu distanzieren.
Spätestens am zweiten Tag, an dem Carson die literarische Hochebene verläßt und Wilde in die Niederungen des Liebhaberlebens eines alternden Homosexuellen hinabzieht, hat er den Schriftsteller so weit, daß der provozierte Provokateur vollends die Nerven verliert und die Kontrolle fortan Carson überlassen muß, der sie mit tödlicher Konsequenz für sich ausnutzt. Wildes Anwalt Sir Edward Clarke tut derweil so gut wie nichts, um den Kollegen in seinen Machenschaften zu behindern und seinen Mandanten davor zu bewahren, sich um Kopf und Kragen zu reden.
Eine Verteidigung des Klägers findet nicht statt, im Gegenteil: Da Clarke unter anderen den Fehler gemacht hat, die inkriminierte Anrede "Für Oscar Wilde, der als Sodomit posiert" mit dem Vorwurf, Oscar Wilde sei praktizierender Sodomit, einfach gleichzusetzen, und damit "das abscheuliche Verbrechen, Analverkehr mit Menschen begangen" zu haben, in das Verfahren einführt, gibt er Carson erst den Anlaß, nach entsprechenden Zeugen zu suchen, und das Recht, eine Reihe von Strichjungen vor Gericht auftreten zu lassen.
Dazu wird es in diesem Verfahren jedoch nicht mehr kommen: Es endet mit einer Einstellung, die für Wilde einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Er verläßt das Gericht als anerkannter Homosexueller, wird dafür im Eilverfahren zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und stirbt bald darauf in Paris.
In Kenntnis dieser grausamen Folgen fällt es schwer, Edward Carson nicht zu tadeln. Bei der Lektüre wird er dennoch zum Helden dieses Protokolls, und es wäre wohl auch im Sinne Oscar Wildes, Carson für seine meisterhafte Kreuzverhörführung zu bewundern, mit der er am Ende triumphierend sogar die Lacher auf seine Seite ziehen kann.
Oscar Wilde gerecht zu werden bleibt dagegen schwierig, und vielleicht sollte man ein Stück des tatsächlichen Lebens nicht kritisieren, als wäre es Literatur.
Merlin Holland: "Oscar Wilde im Kreuzverhör". Die erste vollständige Niederschrift des Queensberry-Prozesses. Aus dem Englischen übersetzt von Henning Thies. Blessing Verlag, München 2003. 464 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
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Oscar Wilde im Zeugenstand: In der ersten vollständigen Niederschrift des Queensberry-Prozesses zeigt sich, daß das Leben manchmal doch die besten Geschichten selbst schreibt
Das bisweilen recht komplizierte Verhältnis zwischen Leben und Literatur spielt im Kreuzverhör, in das der Kronanwalt Edward Carson, in Vertretung der Verteidigung, den Kläger Oscar Wilde genommen hat, eine mitentscheidende Rolle.
"Ich meine, ich könnte ein Buch nicht kritisieren, als wäre es ein Stück tatsächlichen Lebens", sagt Oscar Wilde da einmal. Und daraus ergibt sich für den Kritiker die Frage, was am vorliegenden Buch "Oscar Wilde im Kreuzverhör" zu kritisieren wäre: das Vorwort, in dem der Herausgeber, Wildes Enkel Merlin Holland, vielleicht etwas zuviel vom Verlauf dieses Prozesses vorwegnimmt? Die Anmerkungen, die ihren Zweck vorbildlich erfüllen und das Protokoll, das gut drei Viertel der 450 Seiten füllt, in fast allen Einzelheiten nachvollziehbar machen? Oder ist hier ausnahmsweise der Versuch erlaubt, dies Stück Leben, wie es im Protokoll festgehalten ist, auf seine literarischen Qualitäten hin zu überprüfen?
Daß das Leben generell die besten Geschichten schreibe, ist ein weitverbreiteter Irrtum, und Autoren, die ihn noch weiter verbreiten, müssen schon eine besonders geringe Meinung von ihrem Talent haben, wenn auch häufig zu Recht. Doch wenn man die Aufzeichnungen dieses Falles gelesen hat, möchte man schon zweifeln an der Unsinnigkeit des populären Vorurteils. Denn hier hat das Leben einen seiner dichteren Momente.
Die Krone (Oscar Wilde) vs. John Douglas (Marquis von Queensberry) - die beiden Kontrahenten sind fast zu konträr, um wahr zu sein. Auf der einen Seite Queensberry, der leibliche Vater von Lord Alfred Douglas, Wildes geliebtem Bosie, und der geistige Turnvater des modernen Faustkampfs - nach seinen Regeln wird immer noch geboxt -, privat offenbar ein despotischer Rohling, zu Zornesausbrüchen neigend, deren Vehemenz jene körperlichen Züchtigungen, wie sie in Briefen an seinen Sohn regelmäßig enthalten sind, nicht als bloße Papiertigereien erscheinen lassen. Auf der Gegenseite Oscar Wilde, bekennender Ästhet, Londoner Salonlöwe und als Dramatiker zum Zeitpunkt des Prozesses mit der Uraufführung von "The Importance of Being Earnest" auf der Höhe seiner Möglichkeiten und seines Erfolgs.
Als wär's ein Stück von ihm, ist schon das Corpus delicti in diesem Fall mehrdeutig: Eine Visitenkarte, die Queensberry in Wildes Club hinterläßt, enthält nicht bloß einen dummen Schreibfehler ("somdomite" statt "sodomite"), sondern sie ist noch dazu so unleserlich, daß zunächst drei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten auftauchen: "To Oscar Wilde ponce and somdomite" (Zuhälter und Homosexueller), ". . . posing somdomite" (posierender Homosexueller) und ". . . posing as somdomite" (. . ., der als Homosexueller posiert), jene Formulierung, die letztlich vom Verfasser autorisiert wurde und wohl auch gemeint war.
Es sind Details wie diese, die das Protokoll spannend machen und dessen Lektüre, selbst in dieser gnadenlos dokumentierten Vollständigkeit, lohnend. Denn keine der vielen Zusammenfassungen, wie sie sich in Wilde-Biographien finden, kann das Fluidum vermitteln, in dem das Unheil zwischen dem 3. und 5. April 1895 im Central Criminal Court (Old Bailey) seinen Lauf nahm.
Natürlich war es Wildes eigener Hochmut, der vor seinem Fall kam. Hätte er nicht selbst diesen Verleumdungsprozeß angestrengt - womöglich wäre ihm alles erspart geblieben, was letztlich zu seinem Ruin geführt hat. Das ist bekannt. Auch die brillantesten seiner Bonmots, mit denen er die Zuschauer immer wieder zu protokolliertem "lautem Gelächter" hinriß, werden gern zitiert, wie: "Ich habe noch nie jemanden verehrt - außer mir selbst." Die Einschätzung der Kräfteverhältnisse wurde bisher erheblich von Wildes eigenen Formulierungen - etwa: "Der Abschaum überfällt den Elfenbeinturm" - geprägt. "Als Riese unter Pygmäen" erschien Oscar Wilde zumindest anfangs noch wohlmeinenden Berichterstattern.
Dieser Eindruck eines souverän an der eigenen Größe und dem Unverständnis seiner Umwelt gescheiterten Helden ist unhaltbar. Denn dagegen hält das Leben eine Überraschungs-Besetzung bereit, die sich als dramaturgischer Glücksgriff entpuppt: Sein eigentlicher Widersacher in diesem Prozeß, Queensberrys Anwalt Edward Carson, ist Wilde nicht nur ebenbürtig, sondern er macht das, was ihm jener an Eloquenz voraushaben mag, mehr als wett durch eine unverschämte Penetranz, die sich in bohrenden Fragen, quälenden Nachfragen, nagenden Zweifeln und nimmermüden Wiederholungen ausdrückt. Gefällt sich Wilde in der Rolle des über jede Moral erhabenen, reinen Snobs, posiert Carson als gesundes Volksempfinden, dem jedes moralische Vorurteil billig ist.
Natürlich heucheln beide. Wilde ist homosexuell, und Carson eignet sich schon rein äußerlich so gar nicht zum Volksvertreter: Auf zeitgenössischen Karikaturen wirkt er sogar eleganter und blasierter noch als Wilde, der damals für einen Dandy bereits unziemlich in die Breite gegangen war. Eine interessante optische Konstellation, und um das "Courtroom Drama" perfekt zu machen, hält das Leben sogar noch eine politisch pikante Verschwörungstheorie im Hintergrund sowie eine gemeinsame Vergangenheit der beiden Widersacher parat: Carson und Wilde haben zur selben Zeit das Trinity College in Dublin besucht. Und Wilde soll recht behalten mit seiner Voraussage, der ehemalige Mitschüler werde "seine Aufgabe mit der ganzen Bitterkeit eines alten Freundes erfüllen".
Bereits im Verlauf des ersten Verhandlungstages hat Carson Wilde aus der Rolle des Klägers in die des Angeklagten gedrängt, der sich nicht nur für seine eigene Literatur verantworten muß, sondern auch für die Produkte weniger begabter Nachahmer, was Wilde zunehmend schwerfällt, da Carson es ihm durch mutwilliges Mißverstehen unmöglich macht, sich von ironiefreiem Schwulenkitsch elegant zu distanzieren.
Spätestens am zweiten Tag, an dem Carson die literarische Hochebene verläßt und Wilde in die Niederungen des Liebhaberlebens eines alternden Homosexuellen hinabzieht, hat er den Schriftsteller so weit, daß der provozierte Provokateur vollends die Nerven verliert und die Kontrolle fortan Carson überlassen muß, der sie mit tödlicher Konsequenz für sich ausnutzt. Wildes Anwalt Sir Edward Clarke tut derweil so gut wie nichts, um den Kollegen in seinen Machenschaften zu behindern und seinen Mandanten davor zu bewahren, sich um Kopf und Kragen zu reden.
Eine Verteidigung des Klägers findet nicht statt, im Gegenteil: Da Clarke unter anderen den Fehler gemacht hat, die inkriminierte Anrede "Für Oscar Wilde, der als Sodomit posiert" mit dem Vorwurf, Oscar Wilde sei praktizierender Sodomit, einfach gleichzusetzen, und damit "das abscheuliche Verbrechen, Analverkehr mit Menschen begangen" zu haben, in das Verfahren einführt, gibt er Carson erst den Anlaß, nach entsprechenden Zeugen zu suchen, und das Recht, eine Reihe von Strichjungen vor Gericht auftreten zu lassen.
Dazu wird es in diesem Verfahren jedoch nicht mehr kommen: Es endet mit einer Einstellung, die für Wilde einer bedingungslosen Kapitulation gleichkommt. Er verläßt das Gericht als anerkannter Homosexueller, wird dafür im Eilverfahren zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und stirbt bald darauf in Paris.
In Kenntnis dieser grausamen Folgen fällt es schwer, Edward Carson nicht zu tadeln. Bei der Lektüre wird er dennoch zum Helden dieses Protokolls, und es wäre wohl auch im Sinne Oscar Wildes, Carson für seine meisterhafte Kreuzverhörführung zu bewundern, mit der er am Ende triumphierend sogar die Lacher auf seine Seite ziehen kann.
Oscar Wilde gerecht zu werden bleibt dagegen schwierig, und vielleicht sollte man ein Stück des tatsächlichen Lebens nicht kritisieren, als wäre es Literatur.
Merlin Holland: "Oscar Wilde im Kreuzverhör". Die erste vollständige Niederschrift des Queensberry-Prozesses. Aus dem Englischen übersetzt von Henning Thies. Blessing Verlag, München 2003. 464 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main