Felicitas Hoppe erzählt von einer weit gespannten Reise durch Kontinente und Zeiten, mit einem veritablen Ritter auf einem Pferd, einem ihn begleitenden Schreiber und drei Abenteurern auf der Suche nach dem kostbaren Fell der seltenen Berbiolette. Die große Geschichte, die sich aus vielen kleinen zusammensetzt, besticht durch einen phantastischen Realitätssinn und reale Träume. Wie jeder anständige Abenteuerroman ist sie prall gefüllt mit Bewährungsproben in der Wildnis Fehdehandschuhen, wilden Pferden, Hunden und geheimnisvollen Menschen in Hotels, die alle das Eine suchen. Mit diesem Roman ist Felicitas Hoppe ein hinreißendes Kabinettstück gelungen: Verkleidet, maskiert und gerüstet treten wir uns selbst gegenüber. Das Buch erscheint zeitgleich im Rowohlt Verlag.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hans-Josef Ortheil bemerkt, dass es sehr konzentrationsintensiv ist, Felicitas Hoppe bei Vorlesen ihres eigenen Buches zuzuhören: "dem Zuhörer wird viel abverlangt, er soll sich nicht einschwingen". Nur ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit genügt seiner Meinung nach, schon "war alles vergebens". Das liegt seiner Meinung nach daran, dass die Autorin ihre Sätze extrem moduliert, was auch auf die Vorgaben des schriftlichen Textes zurückzuführen ist: "jede Phrase bekommt so eine eigene Gestalt, nichts wiederholt sich, alles strebt nach Unverwechselbarkeit". Es geht der Autorin nach Meinung des Rezensenten darum, "überall Bilder und Zeichen zu setzen". Er vergleicht das Werk der Autorin mit Judith Hermanns Lesung ihres neuen Buches und entdeckt in diesem Vergleich extreme Gegensätze: "Verbleibt die eine (Hermann) im abgedunkelten Zimmer, kennt die andere (Hoppe) nur das helle und weite Terrain draußen, spricht die eine nach unten und zur Seite weg, so reckt sich die andere auf und verteilt den Klang"
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ritterlich: Felicitas Hoppe legt Karten für den Weg ins Paradies
Der Pauschalist ist zornig. In seinen Fieberträumen beschimpft er den Mann, dem er verzweifelt bis nach Indien hinterherjagt, den Naturforscher Stoliczka, als Scharlatan und hinterlistigen Betrüger. So sei etwa das schwere optische Gerät, das der Gesuchte immer um den Hals trage, gar "keine Kamera, auch kein Fernrohr", kein Instrument also zur redlichen Erforschung der Umgebung, sondern ein Blendwerk, ein Kaleidoskop: "Man hebt es ans Auge und sieht nichts als Streifen und Punkte, lauter unklare Muster." Daß man sich im Spiel der Farben und Formen lustvoll verlieren kann, daß ein ganzer Kosmos aus den wechselnd angeordneten Splittern erwachsen kann, wenn man sie nur zu sehen versteht, ist ihm ganz fremd. Sein Bedürfnis nach Eindeutigkeit ist so übermächtig, daß er halbfertige Berichte im Brustton der tiefsten Überzeugung zu Ende führt, auch wenn er völlig ahnungslos über den wirklichen Verlauf ist.
Das freie Spiel mit den beweglichen Splittern aus Welt und Literatur ist das Strukturprinzip von "Paradiese, Übersee", dem neuen Roman von Felicitas Hoppe. Er schildert eine Gruppe von Reisenden, die in Indien oder Luxemburg diffusen Zielen folgen. Doch die Figuren und Schauplätze sind nicht statisch; sie verändern ihr Gesicht, gehen ineinander über oder erscheinen in immer neuen Konstellationen. Wechselnde Erzähler reichen unmerklich den Stab weiter, eingeführte Figuren begegnen dem Leser in ganz neuer Gestalt, und was mit dem Gestus größter Sicherheit verkündet wird, kann im nächsten Moment in Bausch und Bogen verworfen werden. Es ist ein riskantes Spiel, das die Autorin wagt, denn die Gefahr, das Interesse des Lesers durch allzu viele Wendungen und die Preisgabe aller Wahrscheinlichkeit zu verlieren, ist nicht gering. Sie meistert diese Klippe glänzend.
Aus welchen Splittern setzt sich Hoppes Kaleidoskop zusammen? Da sind ein sanftmütiger Ritter und sein Reisegefährte, der "Pauschalist" genannte dubiose Journalist, von dem noch niemand eine Zeile gelesen hat. Beide begleitet ein sprechender Hund. In Lissabon greift ein Zimmermädchen ins Geschehen ein, in Luxemburg ein Reiseleiter, genannt "der kleine Baedeker", auch Doktor Stoliczka läßt sich kurz blicken, und eine dreiköpfige Räuberbande treibt ihr Wesen zwischen Straßburg und Kalkutta. Daneben tauchen Accessoires, Redensarten oder Gesten in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder auf, und noch die beiläufigste Erwähnung von Feuerholz oder Nüssen, von Schmetterlingsnetzen oder Tragekörben webt das Beziehungsnetz zwischen den einzelnen Passagen in beeindruckender Dichte. Eine zentrale Metapher für diese Beschaffenheit der Erzählung ist das Kartenspiel. So heißt es über den verlorenen eisernen Handschuh des Ritters, er sei "nur liegen geblieben auf der Straße zwischen Straßburg und Kalkutta, wie eine Karte, die vorübergehend verschwindet und trotzdem im Spiel bleibt". Von Doktor Stoliczka heißt es, er sei ein passionierter Kartenspieler. Der Pauschalist aber lehnt das Spiel rigoros ab: Für Zufälle ist er nicht zu haben, und an Weissagungen mittels eines Kartenspiels mag er schon gar nicht glauben. Für ihn ist in den Karten nichts enthalten "als die Bosheit derer, die sie uns legen, ihr lächerlicher Wunsch nach Herrschaft, nach Bildern und Macht, nach Bedrohung, Vergleichen und Ordnung, nach Form ohne Sinn."
Und alle Figuren sind auf der Jagd: Der Pauschalist sucht Doktor Stoliczka, um eine Studie über ihn zu verfassen; der Naturforscher jagt wie die Räuber das scheue Pelztier Berbiolette. Der kleine Baedeker sucht im Auftrag des Zimmermädchens nach ihrem Ritter. Auch der ist auf der Suche, sein Ziel ist das unklarste von allen.
Denn wie es sich für einen Roman gehört, der dezent an die Artusepik anknüpft, geht der Impuls zur Aventiure jeweils auf höchst unsichere, meist mündliche Berichte zurück. Den Pauschalisten schickt das Zimmermädchen auf die Suche, weil Stoliczka ein unverbrauchtes Thema für eine Reportage sei - Genaueres aber weiß sie nicht zu sagen, und alle Berichte, die der Pauschalist und sein Reisegefährte unterwegs über den Forscher einholen, sind höchst widersprüchlich. Immerhin gibt es ein Foto, das zwei Männer zeigt - einer von ihnen sei vielleicht der Gesuchte, heißt es. Auch das Fell der Berbiolette hat kaum jemand gesehen, geschweige denn ein lebendes Exemplar. Doch all diese Jäger, die einander hinterherziehen, sich gegenseitig fast zu Tode prügeln oder aus größter Gefahr erlösen, erweisen sich letztlich als Romantiker in einer entzauberten Gegenwart: Sie suchen unbeirrt weiter.
Das Reisen ist das große Thema der zweiundvierzigjährigen Felicitas Hoppe; schon ihr erster Roman "Pigafetta" schildert eine Weltreise an Bord eines Containerschiffs, in den letzten Jahren veröffentlichte die Autorin überdies zahlreiche Reisefeuilletons. "Paradiese, Übersee" entwirft das Leben unterwegs als den Normalfall, schert sich dabei aber nicht um das tatsächliche Gesicht Kalkuttas oder Lissabons. Viel wichtiger als der erreichte Ort ist die Bewegung, zu Schiff, zu Pferd oder zu Fuß, und es sind die Passagen liebevoll geschilderter Reiseanstrengungen, die sich am nachhaltigsten einprägen. Von dieser Hinwendung zur Reise und zur Aventiure geht ein Sog aus, der schließlich auch, nach langer Gegenwehr, den kleinen Baedeker überwältigt. Denn der Bruder des Zimmermädchens und des Pauschalisten verkörperte lange Zeit das Gegenmodell zu seiner unsteten Verwandtschaft: Er blieb auf einen kleinen Bereich seiner luxemburgischen Heimat beschränkt, sein Ehrgeiz richtete sich auf die Regionalgeschichte, seine romantische Sehnsucht auf den Klang einer vergrabenen Glocke.
Vor allem aber bleibt ihm im mittleren Teil des Buches vorbehalten, ein weiteres Gegenmodell zu der ausschweifenden Reiselust der anderen zu etablieren: Es ist das "Paradies", jenes Pensionszimmer in Echternach, in dem die drei Geschwister als Kinder jedes Jahr während der Springprozession untergebracht waren, gehütet von einer freundlichen, alterslosen Wirtin, die den Raum noch immer für die drei freihält. Und als am Ende eine wahre Sintflut über Indien niedergeht, spült das Wasser den Pauschalisten und den kleinen Baedeker über den Ozean direkt in dieses Paradies, wo ihre Schwester schon auf sie wartet.
All dies erzählt Felicitas Hoppe verblüffend stilsicher, ganz ohne geheimnisvolles Raunen und mit jener gediegen selbstverständlichen Diktion, die einem solchen Stoff entschieden angemessen ist, die dehnbar genug ist, komische wie auch tieftraurige Momente abzubilden, eine Sprache, die bisweilen von hoher Schönheit, immer aber sorgfältig ausgefeilt bis ins Letzte ist. Manchmal vertuscht sie behutsam, wer gerade spricht, läßt Bezüge zunächst im unklaren und hält so nicht selten auch sprachlich die Grenze zwischen den Figuren durchlässig. Immer wieder klingen von ferne Märchen an, wenn etwa der Pauschalist sich als Rumpelstilzchen geriert und "so heftig mit dem Fuß" aufstampft, "als wollte er sich mitten entzweireißen". Redensarten entwickeln ein Eigenleben und formen den Inhalt der Erzählung mit; sie werden wörtlich genommen, wenn der Ritter buchstäblich "Kastanien aus dem Feuer" holt, der berittene Pauschalist arrogant "hoch zu Roß" sitzt oder zum stahlbewehrten Ritter nichts vordringen kann, nicht einmal die Liebe seiner Dame, des Zimmermädchens. Der kleine Baedeker (der natürlich zwergenhaft ist) meint resigniert, der Ritter habe "wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung ... von den langen Nächten, die meine Schwester mit dem Brettspiel gegen sich selbst verbringt. Vermutlich weiß er nicht einmal, wie man Kränze flicht, und vertut statt dessen seine Zeit mit irgendeiner Mission."
Am Ende hat der kleine Baedeker nicht nur den Schritt in die Ferne gewagt, er hat auch für die eigene Rückkehr wie für die seines Bruders gesorgt. Als Reiseführer in der Heimat hatte er zuvor unter der Unaufmerksamkeit der Besucher gelitten und "den Stil meiner Rede, die Darstellung der Ereignisse insgesamt" als Ursache ausgemacht, "weil ich hier und da gern etwas hinzufüge, da und dort dagegen etwas weglasse", ganz anders als sein Bruder, der Pauschalist, dessen Wortmacht sogar die Gegenstände, über die er spricht, verändern kann. Jetzt aber, heimgekehrt ins "Paradies", gelingt ihm die bezwingende Erzählung der jüngsten Ereignisse, die Zusammenführung der Fäden. "Paradiese, Übersee" berichtet auch von der allmählichen Entwicklung einer eigenen Sprache. Als einziger, so scheint es, hat der kleine Baedeker etwas von der Reise mitgebracht. Und unser Souvenir ist dieser ungewöhnliche, überaus geglückte Roman.
Felicitas Hoppe: "Paradiese, Übersee". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 224 S., geb., 16,90 [Euro].
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