Die Geschichten in "Raumpatrouille" sind literarische Reisen in einen Kosmos, den jeder kennt: der Kosmos der eigenen Kindheit. In diesem Fall einer Kindheit in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts in einer kleinen Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war. Einer Kindheit, die bevölkert ist von einem mysteriösen Postboten, verschreckten Nonnen, kriegsbeschädigten Religionslehrern, einem netten Herrn Lübke von nebenan, bei dem es Kakao gibt und dem langsam die Worte ausgehen. Es gibt einen kauzigen Arbeitskollegen des Vaters, Herrn Wehner, einen Hausmeister und sogar einen Chauffeur, da der Vater gerade Bundeskanzler ist.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Georg Löwisch ist sehr eingenommen von Matthias Brandt, der in "Raumpatrouille" von seiner Kindheit im Kanzlerbungalow erzählt: Personenschützer erschrecken, Kakao trinken bei Heinrich Lübke, Urlaub in Norwegen. Die Geschichten findet Löwisch so intensiv erzählt, dass er den Vergleich zu J.D. Salingers Meisterwerk "Fänger im Roggen" nicht scheut. Aber eigentlich liest er das Buch als "wunderbare Liebeserklärung" an den Vater Willy Brandt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2016Mein Vater hatte eben einen komischen Beruf
Der Schauspieler Matthias Brandt ist jetzt auch Schriftsteller. Und was für einer. Eine Begegnung
Eigentlich würde man immer vermuten, dass Schreiben und Schauspielen zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. Schreiben ist eher nach innen gerichtet als nach außen, ist mit Isolierung verbunden. Spielen dagegen geht ohne die anderen nicht, allein ist man dabei praktisch nie. Aber wenn der Schauspieler Matthias Brandt schreibt - und das hat er jetzt, er hat sein erstes Buch als Schriftsteller veröffentlicht, "Raumpatrouille" heißt dieses Buch, es sind autobiographische Erzählungen aus Matthias Brandts Kindheit -, dann liegt beides ganz nahe beieinander. Man hat, wenn man diese Erzählungen liest, tatsächlich den Eindruck, in der Art und Weise, wie sie geschrieben sind, den Schauspieler wiederzuerkennen. Den Mann, demzuliebe man den "Polizeiruf" guckt; der im Kunduz-Film von Raymond Ley in der Rolle des Oberst Klein so beeindruckend war oder in dem sonst überhaupt nicht beeindruckenden "Männertreu" von Hermine Huntgeburth.
Was man wiedererkennt, ist die Zurückgenommenheit, die Reduziertheit, die Skepsis dem Pathos gegenüber. Matthias Brandt ist kein Typ, der dazu tendiert, von sich selbst ergriffen zu sein. Und in der Art und Weise, wie er dies nicht ist, wie er gerade nicht auftrumpft, sondern sich zurückzunehmen weiß, ist er besser als alle anderen. Das ist sein schönes Paradox: Man vergisst ihn nicht, weil er sich nicht aufdrängt. Dazu passt, dass, wenn man mit ihm verabredet ist, er einen nicht warten lässt, um mit großer Beeindruckungsgeste schauspielerhaft irgendwann den Raum zu betreten. Er ist schon da.
Wie ähnlich Schreiben und Spielen seien, davon sei er selbst überrascht gewesen, sagt er. Und da er nicht jahrzehntelang im Verborgenen geschrieben, sondern das erst jetzt ausprobiert habe, ohne zu wissen, wohin es ihn führe, habe er es auch jetzt erst feststellen können. Im Grunde sei der Vorgang, in Figuren hineinzugehen, ein ganz ähnlicher Zustand der Versenkung. Das sei ohnehin etwas, das ihn ereilt habe aus irgendeinem Grund und womit er herumlaufe, seitdem er denken könne: "Ich gucke mir Leute an und stelle mir vor, wie es ist, die zu sein. Das ist nichts, was für mich wirklich steuerbar wäre. Das ist halt so. Und aus dem lässt sich natürlich sowohl das Spielen wie auch das Schreiben ableiten. Ich habe gemerkt, dass es zwei Äußerungsformen sind, denen das Erzählen zugrunde liegt."
Wenn Matthias Brandt ein Drehbuch annimmt, hat er die Gewohnheit, das komplette Buch einmal abzuschreiben, um die dritte Person seiner Rolle in die erste zu übersetzen. Statt "er" steht da dann "ich", was ihm hilft, die Distanz zu überwinden, was ihn zur Langsamkeit zwingt und zugleich ein bisschen ist wie Hausaufgaben machen. Angenehm findet er das. Er muss mit so vielen Unsicherheiten und mit Nicht-Greifbarem hantieren, da ist er froh über jedes buchhalterische Ritual.
In "Raumpatrouille", dem Buch, ist das "Ich" nicht das eines anderen. Brandt erzählt von sich als Kind zwischen sieben und zwölf Jahren. Nicht irgendein Kind, denkt man gleich. Das Kind des Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Frau Rut in einer Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war. Und das stimmt auch, aber eben nicht nur. Schon mit dem ersten Satz ist man mittendrin im widersprüchlichen Geflecht von "Raumpatrouille": "Keiner da", steht da. Dann kommt erst mal ein Absatz. "Das Haus hatte ich bereits von oben bis unten und von links nach rechts durchwandert und saß jetzt doch wieder stuhlkippelnd in meinem Zimmer. Ich schmiss mich aufs Bett, um gleich im nächsten Moment wieder aufzuspringen und im Schrank nach meiner Jaguarmatic-Spielzeugpistole zu suchen, die ich seit Tagen vermisste, weil hier schon wieder aufgeräumt worden war. Träge, triefende Langeweile." Ein Kind wie alle anderen - aber allein.
Matthias Brandt hat die Situation, in der er als jüngster Sohn von Willy Brandt aufgewachsen ist, umgeben von Personenschützern, Fahrern und Hausangestellten, die auch in den Erzählungen als Menschen, die dem Kind in dieser Zeit am nächsten stehen, zum Personal gehören, einmal eine "höfische Situation" genannt. Allerdings nicht (das ist wohl typisch für ihn), ohne diese Besonderheit gleich wieder zu relativeren. "Natürlich war das eine sehr spezielle Situation, aber weniger speziell, als man so meint", sagt er auch jetzt. "Mein Vater hatte eben einen komischen Beruf. Aber darauf reduziert es sich auch, mehr ist das dann auch nicht. Ich glaube ja, dass, wenn ich in anderen Umständen aufgewachsen wäre, ich heute derselbe wäre."
In den Geschichten ist das aber nicht so sicher. Denn einerseits erzählt "Raumpatrouille" tatsächlich von einer möglicherweise normalen Kindheit in West-Deutschland Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Den ganzen Kosmos dieser eigentümlichen BRD-Welt bringt Brandt dabei zum Vorschein, indem er sie über Details skizziert: die Bärenmarkendose, das Astronautenkostüm, die zeitgemäßen Adidas- und Puma-Schuhmodelle, der orangefarbene Frotteeanzug der Mutter seines Freundes, der Frottee-Toilettenbezug. Überhaupt Frottee!
Andererseits ist das Kind, um das es hier geht, sich nicht nur selbst überlassen, es muss auch sonst feststellen, anderen Umständen ausgesetzt zu sein als die anderen. Es kann nicht einfach das Grundstück verlassen, sondern muss den Wunsch anmelden oder die Wachhabenden austricksen. Es ist nicht katholisch getauft und beobachtet deshalb umso genauer, wie seine Freunde am Aschermittwoch mit einem Kreuz über der Nasenwurzel im Unterricht erscheinen, das sie nicht wegwischen, sondern "augenscheinlich nur wegschwitzen" dürfen.
"Nirgendwo sonst" heißt eine Geschichte, die von der ersten (und wohl letzten) Übernachtung bei seinem Freund Holger erzählt. Das Kind kommt im Bett kaum zur Ruhe, weil der Abend in der wunderbaren Holger-Welt ihm gezeigt hat, wo und wie es eigentlich leben will, nämlich wie hier: Zusammen mit Holgers Eltern hatten sie die Sendung "Drei mal Neun" mit Wim Thoelke angeschaut und dabei die von Holgers Mutter auf einer Platte angerichteten Champignonstreichkäse- und Salamibrote mit fächerartig aufgeschnittener Gewürzgurke gegessen. Sie hatten Fürst-Pückler-Eis mit Keks-Waffel bekommen, Fischlis und Weingummi. "Die behagliche Geschlossenheit dieser Gedankenwelt hatte mich sofort eingelullt", heißt es. "Aber ich sah jetzt doch auch, dass dies hier in jeglicher Hinsicht das Gegenteil meines Zuhauses war." Dann ereilt ihn das Heimweh.
Wie Matthias Brandt die geschlossene Welt der Gastfamilie mit dem freien Blick des Kindes einfängt, ist vor allem deshalb so eindruckvoll, weil es, wie alles in diesem Buch, so präzise geschildert ist. Es gibt hier keine überflüssigen Wörter, keine stilistischen Selbstgefälligkeiten, keine Manierismen. Brandt bringt, was er erzählt, tatsächlich auf den Punkt. Es steht auf diese Weise einfach so da, als hätte er nie etwas anderes gemacht als schreiben.
"Das Hermetische in dieser Übernachtungsfamilie hat tatsächlich erst mal einen großen Reiz gehabt, den Reiz der geordneten Welt", erzählt er. "Mich interessierte der Kontrast. Die Freiheit, in der ich mich bewegte, die gab es ja nicht umsonst. Es stellten sich mir viele Fragen, und ich musste mir dauernd selber Antworten geben, weil oft keiner da war, der mir eine Antwort hätte geben können oder wollen. Das war in der anderen Umgebung nicht so." Weil in der anderen Umgebung die Antwort schon vor der Frage da war? "Ja, aber manchmal erscheint mir das dann auch so, dass diese hermetische Welt, die dort geschildert wird, unserer heutigen mehr entspricht als die andere. Und die Sehnsucht nach dieser Zeit, die da sicher auch drin ist, ist weniger eine nostalgische als eine Sehnsucht nach einer Zeit mit mehr Leerstellen oder Leerflächen, in der ich die Freiheit hatte, sie auszufüllen oder sie leer zu lassen. Ich glaube, dass seitdem ein solcher Selbstoptimierungs- und Effizienzwahnsinn stattgefunden hat, diese Leerflächen mehr und mehr verschwunden sind und alles permanent ausgefüllt ist. Das sind die beiden Welten, die sich in der Geschichte gegenüberstehen."
Es gibt in Brandts Buch zwei Geschichten, in denen auch von den Machtverhältnissen in der Politik die Rede ist. Die eine erzählt, sehr lustig übrigens, von einem Fahrradausflug mit dem Vater und einem seiner "Arbeitskollegen" namens Herbert Wehner. Der Vater, das kriegt das Kind mit, hat offenbar Streit mit diesem Kollegen. Das Kind hat ihn niemals zuvor auf einem Fahrrad gesehen und wundert sich schon. Es wird extra ein Fahrrad angeschafft für diese Tour, die im Fiasko endet, mit einem unschönen Sturz. Die Personenschützer sind dabei, die beiden Männer und der Junge, der mit genauem Gespür die Gefühllosigkeit und erniedrigende Absicht des Arbeitskollegen registriert.
Die andere Geschichte dreht sich um ein Gefühl der Freundschaft, das das Kind für Heinrich Lübke entwickelt, einen Mann, über den die anderen lachen, weil ihm meist die richtigen Worte fehlen. "Ich wusste, wie das war", stellt das Kind fest. Dass es sich um Staatsmänner handelt, spielt dabei keine Rolle, und trotzdem ist über die Machtgefälle, die hier analysiert werden, alles gesagt. Es ist am Ende auch nicht der Bundeskanzler, es ist der Vater, der seinen linken Arm um den Sohn legt und ihm ein Buch vorliest, während der Junge dem Vater-Gesicht ganz nahe ist und beinahe versucht, dessen graue Bartstoppeln zu berühren, den Moment der Nähe dann aber nicht zerstören will und, den Blick auf Millionen kleiner Fältchen um die Vater-Augen gerichtet, ganz still hält.
Matthias Brandt hat oft gesagt, wie viel wichtiger seine Mutter für sein Leben war als der immer abwesende Vater. Auch in "Raumpatrouille" widmet er ihr die Geschichte "Du und ich", die von einer gemeinsamen Reise nach Norwegen erzählt. Das Ende aber gewährt dem Vater Nähe. "Wenn ich an meinen Vater denke, dann ist diese Form der Nähe schon etwas, was einen großen Raum einnimmt", erzählt er. "Und wenn ich das nicht so geschrieben hätte, hätte es auch als eine Form der Distanzierung verstanden werden können, die ich nicht beabsichtige. Das war schon wichtig. Und es ist für mich auch wichtig, dass dieses Buch damit aufhört, weil es dann in eine andere Welt geht."
Und? Wie fühlt es sich jetzt an, als Schriftsteller? Er lacht und überlegt eine ganze Weile. "Was ich am Schreiben wirklich toll finde", sagt er, "ist das Schreiben. Den Rest muss ich mir erst mal angucken, wie ich das finde. Ich habe dreißig Jahre in diesem irrsinnigen Schauspieler-Theater-Film-Metier überlebt. Ob ich jetzt Lust habe, mich in ein noch infameres Milieu, nämlich den Literaturbetrieb, hineinzubegeben, da bin ich mir nicht so sicher. Aber es gibt sicher verschiedene Formen, das zu tun. Und im Moment macht mir das große Freude. Ich mache das ja einfach so, wie ich es für richtig halte. Wenn ich mir diesen Zustand erhalten kann, dann ist das gut."
JULIA ENCKE.
Matthias Brandt: "Raumpatrouille". Geschichten. Kiepenheuer & Witsch, 175 Seiten, 18 Euro. Zeitgleich zum Buch erscheint bei Roof Music das Album "Memory Boy" des Musikers Jens Thomas, mit dem Matthias Brandt ab Ende September zusammen auftreten wird.
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Der Schauspieler Matthias Brandt ist jetzt auch Schriftsteller. Und was für einer. Eine Begegnung
Eigentlich würde man immer vermuten, dass Schreiben und Schauspielen zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. Schreiben ist eher nach innen gerichtet als nach außen, ist mit Isolierung verbunden. Spielen dagegen geht ohne die anderen nicht, allein ist man dabei praktisch nie. Aber wenn der Schauspieler Matthias Brandt schreibt - und das hat er jetzt, er hat sein erstes Buch als Schriftsteller veröffentlicht, "Raumpatrouille" heißt dieses Buch, es sind autobiographische Erzählungen aus Matthias Brandts Kindheit -, dann liegt beides ganz nahe beieinander. Man hat, wenn man diese Erzählungen liest, tatsächlich den Eindruck, in der Art und Weise, wie sie geschrieben sind, den Schauspieler wiederzuerkennen. Den Mann, demzuliebe man den "Polizeiruf" guckt; der im Kunduz-Film von Raymond Ley in der Rolle des Oberst Klein so beeindruckend war oder in dem sonst überhaupt nicht beeindruckenden "Männertreu" von Hermine Huntgeburth.
Was man wiedererkennt, ist die Zurückgenommenheit, die Reduziertheit, die Skepsis dem Pathos gegenüber. Matthias Brandt ist kein Typ, der dazu tendiert, von sich selbst ergriffen zu sein. Und in der Art und Weise, wie er dies nicht ist, wie er gerade nicht auftrumpft, sondern sich zurückzunehmen weiß, ist er besser als alle anderen. Das ist sein schönes Paradox: Man vergisst ihn nicht, weil er sich nicht aufdrängt. Dazu passt, dass, wenn man mit ihm verabredet ist, er einen nicht warten lässt, um mit großer Beeindruckungsgeste schauspielerhaft irgendwann den Raum zu betreten. Er ist schon da.
Wie ähnlich Schreiben und Spielen seien, davon sei er selbst überrascht gewesen, sagt er. Und da er nicht jahrzehntelang im Verborgenen geschrieben, sondern das erst jetzt ausprobiert habe, ohne zu wissen, wohin es ihn führe, habe er es auch jetzt erst feststellen können. Im Grunde sei der Vorgang, in Figuren hineinzugehen, ein ganz ähnlicher Zustand der Versenkung. Das sei ohnehin etwas, das ihn ereilt habe aus irgendeinem Grund und womit er herumlaufe, seitdem er denken könne: "Ich gucke mir Leute an und stelle mir vor, wie es ist, die zu sein. Das ist nichts, was für mich wirklich steuerbar wäre. Das ist halt so. Und aus dem lässt sich natürlich sowohl das Spielen wie auch das Schreiben ableiten. Ich habe gemerkt, dass es zwei Äußerungsformen sind, denen das Erzählen zugrunde liegt."
Wenn Matthias Brandt ein Drehbuch annimmt, hat er die Gewohnheit, das komplette Buch einmal abzuschreiben, um die dritte Person seiner Rolle in die erste zu übersetzen. Statt "er" steht da dann "ich", was ihm hilft, die Distanz zu überwinden, was ihn zur Langsamkeit zwingt und zugleich ein bisschen ist wie Hausaufgaben machen. Angenehm findet er das. Er muss mit so vielen Unsicherheiten und mit Nicht-Greifbarem hantieren, da ist er froh über jedes buchhalterische Ritual.
In "Raumpatrouille", dem Buch, ist das "Ich" nicht das eines anderen. Brandt erzählt von sich als Kind zwischen sieben und zwölf Jahren. Nicht irgendein Kind, denkt man gleich. Das Kind des Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Frau Rut in einer Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war. Und das stimmt auch, aber eben nicht nur. Schon mit dem ersten Satz ist man mittendrin im widersprüchlichen Geflecht von "Raumpatrouille": "Keiner da", steht da. Dann kommt erst mal ein Absatz. "Das Haus hatte ich bereits von oben bis unten und von links nach rechts durchwandert und saß jetzt doch wieder stuhlkippelnd in meinem Zimmer. Ich schmiss mich aufs Bett, um gleich im nächsten Moment wieder aufzuspringen und im Schrank nach meiner Jaguarmatic-Spielzeugpistole zu suchen, die ich seit Tagen vermisste, weil hier schon wieder aufgeräumt worden war. Träge, triefende Langeweile." Ein Kind wie alle anderen - aber allein.
Matthias Brandt hat die Situation, in der er als jüngster Sohn von Willy Brandt aufgewachsen ist, umgeben von Personenschützern, Fahrern und Hausangestellten, die auch in den Erzählungen als Menschen, die dem Kind in dieser Zeit am nächsten stehen, zum Personal gehören, einmal eine "höfische Situation" genannt. Allerdings nicht (das ist wohl typisch für ihn), ohne diese Besonderheit gleich wieder zu relativeren. "Natürlich war das eine sehr spezielle Situation, aber weniger speziell, als man so meint", sagt er auch jetzt. "Mein Vater hatte eben einen komischen Beruf. Aber darauf reduziert es sich auch, mehr ist das dann auch nicht. Ich glaube ja, dass, wenn ich in anderen Umständen aufgewachsen wäre, ich heute derselbe wäre."
In den Geschichten ist das aber nicht so sicher. Denn einerseits erzählt "Raumpatrouille" tatsächlich von einer möglicherweise normalen Kindheit in West-Deutschland Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Den ganzen Kosmos dieser eigentümlichen BRD-Welt bringt Brandt dabei zum Vorschein, indem er sie über Details skizziert: die Bärenmarkendose, das Astronautenkostüm, die zeitgemäßen Adidas- und Puma-Schuhmodelle, der orangefarbene Frotteeanzug der Mutter seines Freundes, der Frottee-Toilettenbezug. Überhaupt Frottee!
Andererseits ist das Kind, um das es hier geht, sich nicht nur selbst überlassen, es muss auch sonst feststellen, anderen Umständen ausgesetzt zu sein als die anderen. Es kann nicht einfach das Grundstück verlassen, sondern muss den Wunsch anmelden oder die Wachhabenden austricksen. Es ist nicht katholisch getauft und beobachtet deshalb umso genauer, wie seine Freunde am Aschermittwoch mit einem Kreuz über der Nasenwurzel im Unterricht erscheinen, das sie nicht wegwischen, sondern "augenscheinlich nur wegschwitzen" dürfen.
"Nirgendwo sonst" heißt eine Geschichte, die von der ersten (und wohl letzten) Übernachtung bei seinem Freund Holger erzählt. Das Kind kommt im Bett kaum zur Ruhe, weil der Abend in der wunderbaren Holger-Welt ihm gezeigt hat, wo und wie es eigentlich leben will, nämlich wie hier: Zusammen mit Holgers Eltern hatten sie die Sendung "Drei mal Neun" mit Wim Thoelke angeschaut und dabei die von Holgers Mutter auf einer Platte angerichteten Champignonstreichkäse- und Salamibrote mit fächerartig aufgeschnittener Gewürzgurke gegessen. Sie hatten Fürst-Pückler-Eis mit Keks-Waffel bekommen, Fischlis und Weingummi. "Die behagliche Geschlossenheit dieser Gedankenwelt hatte mich sofort eingelullt", heißt es. "Aber ich sah jetzt doch auch, dass dies hier in jeglicher Hinsicht das Gegenteil meines Zuhauses war." Dann ereilt ihn das Heimweh.
Wie Matthias Brandt die geschlossene Welt der Gastfamilie mit dem freien Blick des Kindes einfängt, ist vor allem deshalb so eindruckvoll, weil es, wie alles in diesem Buch, so präzise geschildert ist. Es gibt hier keine überflüssigen Wörter, keine stilistischen Selbstgefälligkeiten, keine Manierismen. Brandt bringt, was er erzählt, tatsächlich auf den Punkt. Es steht auf diese Weise einfach so da, als hätte er nie etwas anderes gemacht als schreiben.
"Das Hermetische in dieser Übernachtungsfamilie hat tatsächlich erst mal einen großen Reiz gehabt, den Reiz der geordneten Welt", erzählt er. "Mich interessierte der Kontrast. Die Freiheit, in der ich mich bewegte, die gab es ja nicht umsonst. Es stellten sich mir viele Fragen, und ich musste mir dauernd selber Antworten geben, weil oft keiner da war, der mir eine Antwort hätte geben können oder wollen. Das war in der anderen Umgebung nicht so." Weil in der anderen Umgebung die Antwort schon vor der Frage da war? "Ja, aber manchmal erscheint mir das dann auch so, dass diese hermetische Welt, die dort geschildert wird, unserer heutigen mehr entspricht als die andere. Und die Sehnsucht nach dieser Zeit, die da sicher auch drin ist, ist weniger eine nostalgische als eine Sehnsucht nach einer Zeit mit mehr Leerstellen oder Leerflächen, in der ich die Freiheit hatte, sie auszufüllen oder sie leer zu lassen. Ich glaube, dass seitdem ein solcher Selbstoptimierungs- und Effizienzwahnsinn stattgefunden hat, diese Leerflächen mehr und mehr verschwunden sind und alles permanent ausgefüllt ist. Das sind die beiden Welten, die sich in der Geschichte gegenüberstehen."
Es gibt in Brandts Buch zwei Geschichten, in denen auch von den Machtverhältnissen in der Politik die Rede ist. Die eine erzählt, sehr lustig übrigens, von einem Fahrradausflug mit dem Vater und einem seiner "Arbeitskollegen" namens Herbert Wehner. Der Vater, das kriegt das Kind mit, hat offenbar Streit mit diesem Kollegen. Das Kind hat ihn niemals zuvor auf einem Fahrrad gesehen und wundert sich schon. Es wird extra ein Fahrrad angeschafft für diese Tour, die im Fiasko endet, mit einem unschönen Sturz. Die Personenschützer sind dabei, die beiden Männer und der Junge, der mit genauem Gespür die Gefühllosigkeit und erniedrigende Absicht des Arbeitskollegen registriert.
Die andere Geschichte dreht sich um ein Gefühl der Freundschaft, das das Kind für Heinrich Lübke entwickelt, einen Mann, über den die anderen lachen, weil ihm meist die richtigen Worte fehlen. "Ich wusste, wie das war", stellt das Kind fest. Dass es sich um Staatsmänner handelt, spielt dabei keine Rolle, und trotzdem ist über die Machtgefälle, die hier analysiert werden, alles gesagt. Es ist am Ende auch nicht der Bundeskanzler, es ist der Vater, der seinen linken Arm um den Sohn legt und ihm ein Buch vorliest, während der Junge dem Vater-Gesicht ganz nahe ist und beinahe versucht, dessen graue Bartstoppeln zu berühren, den Moment der Nähe dann aber nicht zerstören will und, den Blick auf Millionen kleiner Fältchen um die Vater-Augen gerichtet, ganz still hält.
Matthias Brandt hat oft gesagt, wie viel wichtiger seine Mutter für sein Leben war als der immer abwesende Vater. Auch in "Raumpatrouille" widmet er ihr die Geschichte "Du und ich", die von einer gemeinsamen Reise nach Norwegen erzählt. Das Ende aber gewährt dem Vater Nähe. "Wenn ich an meinen Vater denke, dann ist diese Form der Nähe schon etwas, was einen großen Raum einnimmt", erzählt er. "Und wenn ich das nicht so geschrieben hätte, hätte es auch als eine Form der Distanzierung verstanden werden können, die ich nicht beabsichtige. Das war schon wichtig. Und es ist für mich auch wichtig, dass dieses Buch damit aufhört, weil es dann in eine andere Welt geht."
Und? Wie fühlt es sich jetzt an, als Schriftsteller? Er lacht und überlegt eine ganze Weile. "Was ich am Schreiben wirklich toll finde", sagt er, "ist das Schreiben. Den Rest muss ich mir erst mal angucken, wie ich das finde. Ich habe dreißig Jahre in diesem irrsinnigen Schauspieler-Theater-Film-Metier überlebt. Ob ich jetzt Lust habe, mich in ein noch infameres Milieu, nämlich den Literaturbetrieb, hineinzubegeben, da bin ich mir nicht so sicher. Aber es gibt sicher verschiedene Formen, das zu tun. Und im Moment macht mir das große Freude. Ich mache das ja einfach so, wie ich es für richtig halte. Wenn ich mir diesen Zustand erhalten kann, dann ist das gut."
JULIA ENCKE.
Matthias Brandt: "Raumpatrouille". Geschichten. Kiepenheuer & Witsch, 175 Seiten, 18 Euro. Zeitgleich zum Buch erscheint bei Roof Music das Album "Memory Boy" des Musikers Jens Thomas, mit dem Matthias Brandt ab Ende September zusammen auftreten wird.
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»[...] ein kleines, lesenswertes Stück literarisch bearbeitete Zeitgeschichte.« Die Rheinpfalz