In einem verschlossenen, abgedunkelten Zimmer sitzt ein alter Mann: vergesslich, gebrechlich, inkontinent. Er weiß weder genau, wer, noch wo er ist. Je mehr und je vergeblicher er sich besinnt, desto tiefer gerät er in ein Labyrinth erdachter Welten, bis er sich schließlich selbst in den Zeilen eines Manuskripts begegnet
"Reisen im Skriptorium" ist ein raffiniertes Vexierspiel, finten- und voltenreich, brillant und kunstvoll. Begeben Sie sich mit Paul Auster auf die Reise in einen Teufelskreis der Phantasie.
"Reisen im Skriptorium" ist ein raffiniertes Vexierspiel, finten- und voltenreich, brillant und kunstvoll. Begeben Sie sich mit Paul Auster auf die Reise in einen Teufelskreis der Phantasie.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2007Entschuldigung, sind Sie der Autor?
Reifeprüfung für Fans: Paul Austers neuer Roman „Reisen im Skriptorium”
Die Verehrer werden es begrüßen, die anderen bedauern: Nach dem konventionell erzählten Roman „Die Brooklyn Revue” kehrt Paul Auster zur verschlungenen Erzählweise seiner früheren Bücher zurück. Sein neuer Roman „Reisen im Skriptorium” erhebt kaum Anspruch, sich mit der Wirklichkeit zu befassen, und bewegt sich weitgehend im Reich der von Auster bis dato geschriebenen Romane. Auster spart konkrete Details, die Realitätseffekte erzeugen könnten, aus, und greift zurück auf eine Grundsituation von metaphysischer Kargheit, zu der ihn zweifellos sein Vorbild Samuel Beckett inspiriert hat. Ein alter Mann sitzt in einem kahlen Zimmer, auf dem Schreibtisch vor ihm liegen Stapel mit Manuskripten und Fotos, und dann gibt es ein Telefon.
Wie Becketts Figuren leidet Austers Hauptfigur – der Erzähler nennt sie Mr. Blank – unter verschiedenen Formen des körperlichen Verfalls, erzähltechnisch relevant ist vor allem der Gedächtnisschwund. An die Frau, die ihn in seiner Zelle besucht und ihn zu waschen beginnt, erinnert Mr. Blank sich erst nach einer Weile, es handelt sich um Anna Blume. Mit dem Expolizisten James P Flood führt er ein elliptisches Gespräch am Telefon, ohne ihn einordnen zu können, ähnlich geht es ihm mit Samuel Farr, seinem Arzt. Alle sind sie Figuren aus früheren Romanen Austers, und besonders aufschlussreich ist das erneute Auftauchen des Schriftstellers Trause – ein Anagramm von Auster – aus dem vorletzten Roman „Nacht des Orakels”. Alle sprechen von gefährlichen Missionen, auf die Mr. Blank sie geschickt haben soll. Angeblich hat Blank Berichte über diese Missionen geschrieben.
Mühsam versucht Austers Held, sich an die Menschen und Ereignisse seines Lebens zu erinnern. Manchmal hilft ihm sein Körper auf die Sprünge: Rutscht Mr. Blank auf den Socken über den Boden, erinnert er sich daran, wie er in besseren Zeiten Schlittschuh lief. Andere Hinweise kommen von den Besuchern, die eine artifiziell wirkende Verschwiegenheit an den Tag legen. So wird für Mr. Blank ein auf dem Schreibtisch liegendes Manuskript wichtig. Er findet darin die Geschichte Sigmund Grafs, der im neunzehnten Jahrhundert in einem Staat, der von fern an die USA erinnert und sich „die Konföderation” nennt, auf eine Mission geschickt wird.
Mr. Blank erhofft sich von dem Bericht Aufschluss darüber, warum er eingesperrt ist und einer Behandlung mit Pillen unterzogen wird, die offenbar sein Gedächtnis schwächen. Was ist die Ursache des Schuldgefühls, das Tag und Nacht Chimären von Anklägern vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lässt? Soll er sich mit Graf identifizieren, der auf seiner Mission gezwungen ist, Untaten zu begehen, oder mit dessen Auftraggeber? Oder mit dem Autor des Manuskripts, der er womöglich sowieso selber ist?
Die Konföderation greift an
Dass wie fast immer bei Paul Auster die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion brüchig ist, zeigt sich in der Binnenerzählung schon daran, dass sie nicht durch Anführungszeichen vom übrigen Text geschieden ist. Lädt der Text einmal dazu ein, Figuren der Zeitgeschichte im Text wiederzuerkennen, so handelt es sich fast immer um Auster selbst. Möglich ist es, Grafs Erzählung auf die politische Wirklichkeit zu beziehen.
Immerhin inszeniert die Konföderation einen Angriff der sogenannten Primitiven, um von der eigenen Bevölkerung Unterstützung für einen Krieg zu erhalten. Die Anschlussmöglichkeiten ans Reale bleiben aber rar, und es scheint auch nach „Die Brooklyn Revue” sicher, dass in Zukunft bei Auster das selbstreferenzielle Spiel über die Politik die Oberhand behalten wird. Der Autor trifft seine Figuren allerdings nicht zu einer Selbstfeier, sondern vor Gericht, und zwar nicht vor, sondern nach dem Schuldspruch über ihn selbst. Fiktionale Charaktere, so legt „Reisen im Skriptorium” nahe, sind missbrauchte Charaktere – oder sind es nur diejenigen von Paul Auster? In Becketts „Endspiel” beklagt sich Hamm bei seinem Vater Nagg darüber, dass er ihn gezeugt hat. Auch in „Reisen im Skriptorium” verurteilen die Figuren ihren Erzeuger, nur ist dieser der Autor.
Die Anspielungen auf Beckett fordern einen Vergleich heraus, bei dem deutlich wird, woran es „Reisen im Skriptorium” mangelt: Zwar ist dieser Roman dünn, aber er beschränkt sich nicht auf das Wesentliche. Die Geschichte über Sigmund Graf, deren Plot Mr. Blank irgendwann weiterzuspinnen beginnt, bleibt eine virtuose Fingerübung, an der sich Mr. Blank ergötzt, ohne dass sie den Leser interessiert. Dazu müssten ihn die Figuren angehen, aber wie überall im Roman setzt Auster einfach voraus, dass der Leser sich ihrer annehmen möchte, weil er sie schon kennt. Das trifft auf die neuen Figuren mit Sicherheit nicht zu, und bei den alten ist es ungewiss.
Darüber hinaus stellt „Reisen im Skriptorium” die Grenze zwischen Fakt und Fiktion zwar in Frage, setzt aber zugleich Austers Autorschaft als absolutes Zentrum der erzählten Welt. Denn wenn in diesem Buch ein Gedächtnisverlust inszeniert wird, dann wohl auch, um dem Leser Gelegenheit zu geben, die Anspielungen schneller zu begreifen als Mr. Blank. So kann er sich beweisen, dass er seinen Auster wirklich drauf hat. Der ideale Leser dieses Romans muss ein Fan des Autors sein. KAI WIEGANDT
PAUL AUSTER: Reisen im Skriptorium. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. 174 Seiten, 16,90 Euro.
Hier wird jede Nacht zum Orakel: Der Autor Paul Auster an seinem – fiktiven? – Arbeitsplatz. Foto: Joyce George/Corbis
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Reifeprüfung für Fans: Paul Austers neuer Roman „Reisen im Skriptorium”
Die Verehrer werden es begrüßen, die anderen bedauern: Nach dem konventionell erzählten Roman „Die Brooklyn Revue” kehrt Paul Auster zur verschlungenen Erzählweise seiner früheren Bücher zurück. Sein neuer Roman „Reisen im Skriptorium” erhebt kaum Anspruch, sich mit der Wirklichkeit zu befassen, und bewegt sich weitgehend im Reich der von Auster bis dato geschriebenen Romane. Auster spart konkrete Details, die Realitätseffekte erzeugen könnten, aus, und greift zurück auf eine Grundsituation von metaphysischer Kargheit, zu der ihn zweifellos sein Vorbild Samuel Beckett inspiriert hat. Ein alter Mann sitzt in einem kahlen Zimmer, auf dem Schreibtisch vor ihm liegen Stapel mit Manuskripten und Fotos, und dann gibt es ein Telefon.
Wie Becketts Figuren leidet Austers Hauptfigur – der Erzähler nennt sie Mr. Blank – unter verschiedenen Formen des körperlichen Verfalls, erzähltechnisch relevant ist vor allem der Gedächtnisschwund. An die Frau, die ihn in seiner Zelle besucht und ihn zu waschen beginnt, erinnert Mr. Blank sich erst nach einer Weile, es handelt sich um Anna Blume. Mit dem Expolizisten James P Flood führt er ein elliptisches Gespräch am Telefon, ohne ihn einordnen zu können, ähnlich geht es ihm mit Samuel Farr, seinem Arzt. Alle sind sie Figuren aus früheren Romanen Austers, und besonders aufschlussreich ist das erneute Auftauchen des Schriftstellers Trause – ein Anagramm von Auster – aus dem vorletzten Roman „Nacht des Orakels”. Alle sprechen von gefährlichen Missionen, auf die Mr. Blank sie geschickt haben soll. Angeblich hat Blank Berichte über diese Missionen geschrieben.
Mühsam versucht Austers Held, sich an die Menschen und Ereignisse seines Lebens zu erinnern. Manchmal hilft ihm sein Körper auf die Sprünge: Rutscht Mr. Blank auf den Socken über den Boden, erinnert er sich daran, wie er in besseren Zeiten Schlittschuh lief. Andere Hinweise kommen von den Besuchern, die eine artifiziell wirkende Verschwiegenheit an den Tag legen. So wird für Mr. Blank ein auf dem Schreibtisch liegendes Manuskript wichtig. Er findet darin die Geschichte Sigmund Grafs, der im neunzehnten Jahrhundert in einem Staat, der von fern an die USA erinnert und sich „die Konföderation” nennt, auf eine Mission geschickt wird.
Mr. Blank erhofft sich von dem Bericht Aufschluss darüber, warum er eingesperrt ist und einer Behandlung mit Pillen unterzogen wird, die offenbar sein Gedächtnis schwächen. Was ist die Ursache des Schuldgefühls, das Tag und Nacht Chimären von Anklägern vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lässt? Soll er sich mit Graf identifizieren, der auf seiner Mission gezwungen ist, Untaten zu begehen, oder mit dessen Auftraggeber? Oder mit dem Autor des Manuskripts, der er womöglich sowieso selber ist?
Die Konföderation greift an
Dass wie fast immer bei Paul Auster die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion brüchig ist, zeigt sich in der Binnenerzählung schon daran, dass sie nicht durch Anführungszeichen vom übrigen Text geschieden ist. Lädt der Text einmal dazu ein, Figuren der Zeitgeschichte im Text wiederzuerkennen, so handelt es sich fast immer um Auster selbst. Möglich ist es, Grafs Erzählung auf die politische Wirklichkeit zu beziehen.
Immerhin inszeniert die Konföderation einen Angriff der sogenannten Primitiven, um von der eigenen Bevölkerung Unterstützung für einen Krieg zu erhalten. Die Anschlussmöglichkeiten ans Reale bleiben aber rar, und es scheint auch nach „Die Brooklyn Revue” sicher, dass in Zukunft bei Auster das selbstreferenzielle Spiel über die Politik die Oberhand behalten wird. Der Autor trifft seine Figuren allerdings nicht zu einer Selbstfeier, sondern vor Gericht, und zwar nicht vor, sondern nach dem Schuldspruch über ihn selbst. Fiktionale Charaktere, so legt „Reisen im Skriptorium” nahe, sind missbrauchte Charaktere – oder sind es nur diejenigen von Paul Auster? In Becketts „Endspiel” beklagt sich Hamm bei seinem Vater Nagg darüber, dass er ihn gezeugt hat. Auch in „Reisen im Skriptorium” verurteilen die Figuren ihren Erzeuger, nur ist dieser der Autor.
Die Anspielungen auf Beckett fordern einen Vergleich heraus, bei dem deutlich wird, woran es „Reisen im Skriptorium” mangelt: Zwar ist dieser Roman dünn, aber er beschränkt sich nicht auf das Wesentliche. Die Geschichte über Sigmund Graf, deren Plot Mr. Blank irgendwann weiterzuspinnen beginnt, bleibt eine virtuose Fingerübung, an der sich Mr. Blank ergötzt, ohne dass sie den Leser interessiert. Dazu müssten ihn die Figuren angehen, aber wie überall im Roman setzt Auster einfach voraus, dass der Leser sich ihrer annehmen möchte, weil er sie schon kennt. Das trifft auf die neuen Figuren mit Sicherheit nicht zu, und bei den alten ist es ungewiss.
Darüber hinaus stellt „Reisen im Skriptorium” die Grenze zwischen Fakt und Fiktion zwar in Frage, setzt aber zugleich Austers Autorschaft als absolutes Zentrum der erzählten Welt. Denn wenn in diesem Buch ein Gedächtnisverlust inszeniert wird, dann wohl auch, um dem Leser Gelegenheit zu geben, die Anspielungen schneller zu begreifen als Mr. Blank. So kann er sich beweisen, dass er seinen Auster wirklich drauf hat. Der ideale Leser dieses Romans muss ein Fan des Autors sein. KAI WIEGANDT
PAUL AUSTER: Reisen im Skriptorium. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. 174 Seiten, 16,90 Euro.
Hier wird jede Nacht zum Orakel: Der Autor Paul Auster an seinem – fiktiven? – Arbeitsplatz. Foto: Joyce George/Corbis
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