Das Mädchen und wie es die Welt sah
Das Mädchen ist zurück: In zehn Geschichten entfaltet Angelika Klüssendorf ein Kinderleben in der DDR in den 60ern und 70ern, geprägt von Ungeborgenheit und Sehnsucht. Nach dem Tod der geliebten Großmutter muss das Mädchen Übergriffen und Teilnahmslosigkeit begegnen. Es ringt darum, seine Eltern auszuhalten und zu verstehen und die Schwester zu beschützen. Lichtblicke liefern Bücher, das Lesen bietet selbst im Kinderheim noch einen Ausweg.
Die Kaschnitz-Preisträgerin erzählt die Vorgeschichten zum Erfolgsroman »Das Mädchen« neu, die vor zwanzig Jahren erschienen und nicht mehr lieferbar sind. Und sie überprüft schonungslos, was nicht erzählt wurde und warum. Ist Wahrhaftigkeit im Erzählen von sich möglich?
Autofiktion, radikal und bewegend!
Das Mädchen ist zurück: In zehn Geschichten entfaltet Angelika Klüssendorf ein Kinderleben in der DDR in den 60ern und 70ern, geprägt von Ungeborgenheit und Sehnsucht. Nach dem Tod der geliebten Großmutter muss das Mädchen Übergriffen und Teilnahmslosigkeit begegnen. Es ringt darum, seine Eltern auszuhalten und zu verstehen und die Schwester zu beschützen. Lichtblicke liefern Bücher, das Lesen bietet selbst im Kinderheim noch einen Ausweg.
Die Kaschnitz-Preisträgerin erzählt die Vorgeschichten zum Erfolgsroman »Das Mädchen« neu, die vor zwanzig Jahren erschienen und nicht mehr lieferbar sind. Und sie überprüft schonungslos, was nicht erzählt wurde und warum. Ist Wahrhaftigkeit im Erzählen von sich möglich?
Autofiktion, radikal und bewegend!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.09.2023Fünfzig Pfennige
Erzählungen vom archaischen Schrecken in einer armen Familie, einfach und groß:
Angelika Klüssendorfs für den Deutschen Buchpreis nominierter Episodenroman „Risse“
VON GUSTAV SEIBT
So beginnt eine der Geschichten, aus denen Angelika Klüssendorfs Roman „Risse“ zusammengesetzt ist: „Es ging auf Ostern zu und mein Vater würde sich verändern. Verwandelt in einen anderen, hätte er nichts anderes im Sinn, als Fachbücher zu lesen, Stricke auf ihre Reißfestigkeit zu überprüfen, wie ein Apotheker würde er Tabletten auf eine kleine Waage häufen oder sich Blumensträuße mit stark duftenden Blüten neben sein Bett stellen. Die Vorbereitungen würden am Karfreitag in den Morgenstunden beginnen, und der Versuch sich aus dem Leben zu schaffen, würde den Ostersonntag mit einigem Durcheinander beenden.“
Liest man diesen Text für sich, braucht man bis zum Ende des Absatzes, um zu begreifen, was da beginnt: ein Versuch, sich umzubringen, und zwar der eines Vaters, von dem sein Kind berichtet. Die Geschichte „Hölle oder Himmel“ hat den Schrecken ausgebrannt wie Schlacke, zurückbleibt die kühle, klare, umweg- und fugenlose Sprache der Erzählerin. Ein paar Seiten später ein Zwischenresümee: „Wir hatten nie über seine Selbstmordversuche gesprochen, die zu unserem Leben gehörten wie für die anderen der alljährliche Osterbraten.“ Dieser Vater, der da eine Sorgfalt und Präzision übt, die ihm sonst abgeht, macht das alle Jahre wieder. Es gehört im Zusammenhang des Buches zu seinem narzisstischen, selbstsüchtigen Charakter.
Kurzgeschichten, die Form der Short Story, verlangen Direktheit, das unvermittelte Einsetzen, selbst da, wo weniger chronikalisch geschrieben wird als hier, wo beispielsweise erst einmal Atmosphäre aufgebaut wird, mit ein paar Tupfern. Der amerikanische Schriftsteller und Literaturprofessor George Saunders hat diese Poetik des ökonomischen Schreibens in seinem wundervollen Buch „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ (deutsch 2022) an Hand russischer Meistererzählungen des 19. Jahrhunderts im Einzelnen erklärt.
Den dort aufgezeigten Gesetzen und Möglichkeiten werden Klüssendorfs Geschichten in einer Weise gerecht, für die es in gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur wenig Parallelen gibt. Man kann, wenn man eine begonnen hat, nicht aufhören zu lesen, was durchaus auch mit ihren Stoffen zu tun hat, aber eben doch vor allem mit einer kunstvoll einfachen, zwingenden Schreibweise. Die Welt der Storys besteht aus einer Kleinfamilie (Vater, Mutter, zwei Töchter), die „toxisch“ zu nennen fast zu therapeutisch-technisch wäre. Der Vater ist nicht nur ein narzisstischer Selbstmordspieler und -poser, sondern auch Frauenheld, Triebtäter, Trinker, sogar ein Vergewaltiger, der nicht davor zurückschreckt, sich an kaum halbwüchsigen Mädchen zu vergreifen.
Die Mutter, auch sie Trinkerin, wenig bemüht um ihre Kinder, macht sich einmal die Mühe, sich als gewalttätiges Gespenst zu verkleiden, um einer ihrer Töchter das Geständnis zu entreißen, fünfzig Pfennige gestohlen zu haben. Die grausige Prozedur mit weißem Laken und blutigen Nadelstichen führt zum Erfolg. Allein, das Geständnis kommt vom falschen Kind, der schwächeren jüngeren Schwester. Die fünfzig Pfennige hatte die etwas ältere Erzählerin bei einem Einkauf im Strumpf versteckt. Die Geschichte spielt übrigens an Weihnachten. Fünfzig Pfennig. Das soziale Milieu der Geschichten ist bestimmt von Armut, instabilen Arbeitsverhältnissen, dazu durch eine Verwahrlosung, die nicht äußerlich bleibt, sondern die Figuren in ihrem Inneren zeichnet. Da gibt es Sex, Sentimentalität, Schamlosigkeit, erotische Untreue, aber, so scheint es, kaum einen Funken Liebe. Wie sehr sie fehlt, wird wie in einer Gegenprobe erkennbar in einer anderen Geschichte, deren Erzählerin nicht im Höllenkreis der Kleinfamilie lebt. Sie ist Praktikantin in dem Heim, in dem das ältere Kind, die eigentliche Heldin von „Risse“, als schwer erziehbar untergebracht wurde. Von dort läuft das Mädchen regelmäßig weg, um seine verlassene Schwester aufzusuchen. Wärme auf einmal, auch bei der jungen Erzieherin, die zu einer Art Komplizin wird. Diese Geschichte heißt „Eine Krankheit“ (als solche wird die Sehnsucht in der Welt des Heims verstanden) und ist auf eine stille Art rührend. Die in „Risse“ gesammelten Episoden werden von Zwischentexten eher lose zusammengebunden, die der immer wieder einbekannten Fiktionalisierung so etwas wie chronikalisch-autobiographischen Klartext entgegensetzen, wohl auch dem Anspruch geschuldet, aus dem Erzählungszyklus einen „Roman“ zu formen. Denn die zehn Erzählungen des Bandes gab es schon 2004 in etwas anderer Anordnung und ohne die autobiographische Rahmung in einem bei S.Fischer erschienenen Band („Aus allen Himmeln“). Der neue Rahmen ist aber mehr als ein bloßer Zwischentext. Er etabliert eine zweite Ebene, auf der die Unmittelbarkeit des Kindheitsschreckens gebrochen wird. Da heißt es einmal: „Die Scham über die Armut war meine eigentliche Kleidung.“ Aber es ist nicht Armut so im Allgemeinen, sondern konkret Schmutz, schlechter Geruch, fremdes Mitleid, Hunger, das Empfinden eigener Verschlagenheit, Scham. Das Mädchen weiß von möglichen anderen Welten, „in denen auch aus mir etwas werden konnte“. Es hat früh angefangen zu lesen, und schon eine innere Welt aufgebaut, und nicht nur, um den Familienarmutsschrecken abzuspalten.
„Risse“ hat also ein soziales Thema. Der „Roman“, auch darum braucht er die neue Struktur, verweist als Vorgeschichte auf die drei autobiografischen Romane („Das Mädchen“, „April“, „Jahre später“), mit denen Klüssendorf seit 2011 verdienten Ruhm und etliche Preise errang. Dieses zusammenhängende Projekt erhält nun, erst jetzt erkennbar, seinen Ausgangspunkt. Diese Art anzubauen, durchgehende Motive zu variieren, erinnert ein wenig an Annie Ernaux’ immer neu ansetzendes Umkreisen ihrer Lebensgeschichte oder an Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, gleichfalls eine weiblichen Emanzipations- und Fluchtgeschichte aus prekärer Armut. Man muss bei solchen Parallelen aber festhalten, dass Klüssendorfs Schreiben ohne diese Vorbilder begann; es sind wirklich nur Parallelen, keine literarischen Abhängigkeiten. Der Vergleich zeigt vielmehr die eigenständige Radikalität von Angelika Klüssendorfs Erzählen. In einer Formel: Bei ihr wird soziale Kälte zu menschlicher Kälte überhaupt gesteigert, der Schrecken der dargestellten Familienwelt hat etwas von archaischer Märchenwelt wie „Hänsel und Gretel“, wo kaum verhüllt von Kannibalismus die Rede ist. Kinder in solchen Märchen müssen sich dem Schrecken gewachsen zeigen. So entwickelt Klüssendorfs Hauptfigur mindestens retrospektiv eine Beobachterkälte, die unmittelbar zu ihrer kunstvoll schlichten Sprache gehört. Man wird im Elend kein besserer Mensch, auch das gehört zu seinen Folgen. Das Kind lernt Klauen und Lügen, es lernt die bedrohlichen Erwachsenen listig zu durchschauen, es lernt Verschlagenheit, es entwickelt auch einen Sinn für die objektive Komik mancher Situationen, etwa beim von der Mutter angeordneten Klauen im Kaufhaus. Doch dabei fehlt das Moment von allgemeiner sozialer Anklage, das bei Ernaux und Ditlevsen eine so große Rolle spielt. Hängt es damit zusammen, dass die Welt dieser Geschichten die DDR der Sechzigerjahre ist? Wir sehen das Bild des Staatsratsvorsitzenden in Amtstuben und Polizeistationen. Polizisten, etwa ein Glatzkopf, erscheinen in einzelnen Fällen als Retter. „Auf eine diffuse Weise hatte ich sogar an den Sozialismus geglaubt“, sagt das Mädchen an einer Stelle, „denn er schien alles auszumachen, was ich war. Die Straßen, Gehwege, Wälder, die Schule, die Sachen, die ich trug, der Geruch einer Zwiebel, alles war irgendwie sozialistisch. Insofern war natürlich auch meine Mutter sozialistisch, und ihre Schläge und Schweinereien, aber es gab eben auch Glatzköpfe, die mir halfen, halfen im Namen des Gesetzes.“ Es fehlt hier an der empörenden Gegenwelt einer privilegierten besseren Gesellschaft, die dem heutigen französischen Sozialrealismus seine anklägerische Schärfe, aber auch seine moralische Harmlosigkeit gibt. Angelika Klüssendorfs Welt ist viel trostloser. Und damit auch viel poetischer. Denn wo es kaum soziale Kontraste gibt - außer der Normalität glücklicherer Familien -, müssen abgerissene Schönheiten der Natur oder einzelner Dinge an ihre Stelle treten. Bäume, Blüten, Wolken, Wetter überhaupt, einzelne Momente, das Licht, die Dinge.
Man wird im Elend
kein besserer Mensch, auch das
gehört zu seinen Folgen
Angelika Klüssendorf: Risse.
Roman. Piper Verlag,
München 2023.
176 Seiten, 22 Euro.
Ihre autobiografischen Romane bescherten ihr sehr verdient Ruhm und etliche Preise: die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf.
Foto: Sarah Wolff
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Erzählungen vom archaischen Schrecken in einer armen Familie, einfach und groß:
Angelika Klüssendorfs für den Deutschen Buchpreis nominierter Episodenroman „Risse“
VON GUSTAV SEIBT
So beginnt eine der Geschichten, aus denen Angelika Klüssendorfs Roman „Risse“ zusammengesetzt ist: „Es ging auf Ostern zu und mein Vater würde sich verändern. Verwandelt in einen anderen, hätte er nichts anderes im Sinn, als Fachbücher zu lesen, Stricke auf ihre Reißfestigkeit zu überprüfen, wie ein Apotheker würde er Tabletten auf eine kleine Waage häufen oder sich Blumensträuße mit stark duftenden Blüten neben sein Bett stellen. Die Vorbereitungen würden am Karfreitag in den Morgenstunden beginnen, und der Versuch sich aus dem Leben zu schaffen, würde den Ostersonntag mit einigem Durcheinander beenden.“
Liest man diesen Text für sich, braucht man bis zum Ende des Absatzes, um zu begreifen, was da beginnt: ein Versuch, sich umzubringen, und zwar der eines Vaters, von dem sein Kind berichtet. Die Geschichte „Hölle oder Himmel“ hat den Schrecken ausgebrannt wie Schlacke, zurückbleibt die kühle, klare, umweg- und fugenlose Sprache der Erzählerin. Ein paar Seiten später ein Zwischenresümee: „Wir hatten nie über seine Selbstmordversuche gesprochen, die zu unserem Leben gehörten wie für die anderen der alljährliche Osterbraten.“ Dieser Vater, der da eine Sorgfalt und Präzision übt, die ihm sonst abgeht, macht das alle Jahre wieder. Es gehört im Zusammenhang des Buches zu seinem narzisstischen, selbstsüchtigen Charakter.
Kurzgeschichten, die Form der Short Story, verlangen Direktheit, das unvermittelte Einsetzen, selbst da, wo weniger chronikalisch geschrieben wird als hier, wo beispielsweise erst einmal Atmosphäre aufgebaut wird, mit ein paar Tupfern. Der amerikanische Schriftsteller und Literaturprofessor George Saunders hat diese Poetik des ökonomischen Schreibens in seinem wundervollen Buch „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ (deutsch 2022) an Hand russischer Meistererzählungen des 19. Jahrhunderts im Einzelnen erklärt.
Den dort aufgezeigten Gesetzen und Möglichkeiten werden Klüssendorfs Geschichten in einer Weise gerecht, für die es in gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur wenig Parallelen gibt. Man kann, wenn man eine begonnen hat, nicht aufhören zu lesen, was durchaus auch mit ihren Stoffen zu tun hat, aber eben doch vor allem mit einer kunstvoll einfachen, zwingenden Schreibweise. Die Welt der Storys besteht aus einer Kleinfamilie (Vater, Mutter, zwei Töchter), die „toxisch“ zu nennen fast zu therapeutisch-technisch wäre. Der Vater ist nicht nur ein narzisstischer Selbstmordspieler und -poser, sondern auch Frauenheld, Triebtäter, Trinker, sogar ein Vergewaltiger, der nicht davor zurückschreckt, sich an kaum halbwüchsigen Mädchen zu vergreifen.
Die Mutter, auch sie Trinkerin, wenig bemüht um ihre Kinder, macht sich einmal die Mühe, sich als gewalttätiges Gespenst zu verkleiden, um einer ihrer Töchter das Geständnis zu entreißen, fünfzig Pfennige gestohlen zu haben. Die grausige Prozedur mit weißem Laken und blutigen Nadelstichen führt zum Erfolg. Allein, das Geständnis kommt vom falschen Kind, der schwächeren jüngeren Schwester. Die fünfzig Pfennige hatte die etwas ältere Erzählerin bei einem Einkauf im Strumpf versteckt. Die Geschichte spielt übrigens an Weihnachten. Fünfzig Pfennig. Das soziale Milieu der Geschichten ist bestimmt von Armut, instabilen Arbeitsverhältnissen, dazu durch eine Verwahrlosung, die nicht äußerlich bleibt, sondern die Figuren in ihrem Inneren zeichnet. Da gibt es Sex, Sentimentalität, Schamlosigkeit, erotische Untreue, aber, so scheint es, kaum einen Funken Liebe. Wie sehr sie fehlt, wird wie in einer Gegenprobe erkennbar in einer anderen Geschichte, deren Erzählerin nicht im Höllenkreis der Kleinfamilie lebt. Sie ist Praktikantin in dem Heim, in dem das ältere Kind, die eigentliche Heldin von „Risse“, als schwer erziehbar untergebracht wurde. Von dort läuft das Mädchen regelmäßig weg, um seine verlassene Schwester aufzusuchen. Wärme auf einmal, auch bei der jungen Erzieherin, die zu einer Art Komplizin wird. Diese Geschichte heißt „Eine Krankheit“ (als solche wird die Sehnsucht in der Welt des Heims verstanden) und ist auf eine stille Art rührend. Die in „Risse“ gesammelten Episoden werden von Zwischentexten eher lose zusammengebunden, die der immer wieder einbekannten Fiktionalisierung so etwas wie chronikalisch-autobiographischen Klartext entgegensetzen, wohl auch dem Anspruch geschuldet, aus dem Erzählungszyklus einen „Roman“ zu formen. Denn die zehn Erzählungen des Bandes gab es schon 2004 in etwas anderer Anordnung und ohne die autobiographische Rahmung in einem bei S.Fischer erschienenen Band („Aus allen Himmeln“). Der neue Rahmen ist aber mehr als ein bloßer Zwischentext. Er etabliert eine zweite Ebene, auf der die Unmittelbarkeit des Kindheitsschreckens gebrochen wird. Da heißt es einmal: „Die Scham über die Armut war meine eigentliche Kleidung.“ Aber es ist nicht Armut so im Allgemeinen, sondern konkret Schmutz, schlechter Geruch, fremdes Mitleid, Hunger, das Empfinden eigener Verschlagenheit, Scham. Das Mädchen weiß von möglichen anderen Welten, „in denen auch aus mir etwas werden konnte“. Es hat früh angefangen zu lesen, und schon eine innere Welt aufgebaut, und nicht nur, um den Familienarmutsschrecken abzuspalten.
„Risse“ hat also ein soziales Thema. Der „Roman“, auch darum braucht er die neue Struktur, verweist als Vorgeschichte auf die drei autobiografischen Romane („Das Mädchen“, „April“, „Jahre später“), mit denen Klüssendorf seit 2011 verdienten Ruhm und etliche Preise errang. Dieses zusammenhängende Projekt erhält nun, erst jetzt erkennbar, seinen Ausgangspunkt. Diese Art anzubauen, durchgehende Motive zu variieren, erinnert ein wenig an Annie Ernaux’ immer neu ansetzendes Umkreisen ihrer Lebensgeschichte oder an Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, gleichfalls eine weiblichen Emanzipations- und Fluchtgeschichte aus prekärer Armut. Man muss bei solchen Parallelen aber festhalten, dass Klüssendorfs Schreiben ohne diese Vorbilder begann; es sind wirklich nur Parallelen, keine literarischen Abhängigkeiten. Der Vergleich zeigt vielmehr die eigenständige Radikalität von Angelika Klüssendorfs Erzählen. In einer Formel: Bei ihr wird soziale Kälte zu menschlicher Kälte überhaupt gesteigert, der Schrecken der dargestellten Familienwelt hat etwas von archaischer Märchenwelt wie „Hänsel und Gretel“, wo kaum verhüllt von Kannibalismus die Rede ist. Kinder in solchen Märchen müssen sich dem Schrecken gewachsen zeigen. So entwickelt Klüssendorfs Hauptfigur mindestens retrospektiv eine Beobachterkälte, die unmittelbar zu ihrer kunstvoll schlichten Sprache gehört. Man wird im Elend kein besserer Mensch, auch das gehört zu seinen Folgen. Das Kind lernt Klauen und Lügen, es lernt die bedrohlichen Erwachsenen listig zu durchschauen, es lernt Verschlagenheit, es entwickelt auch einen Sinn für die objektive Komik mancher Situationen, etwa beim von der Mutter angeordneten Klauen im Kaufhaus. Doch dabei fehlt das Moment von allgemeiner sozialer Anklage, das bei Ernaux und Ditlevsen eine so große Rolle spielt. Hängt es damit zusammen, dass die Welt dieser Geschichten die DDR der Sechzigerjahre ist? Wir sehen das Bild des Staatsratsvorsitzenden in Amtstuben und Polizeistationen. Polizisten, etwa ein Glatzkopf, erscheinen in einzelnen Fällen als Retter. „Auf eine diffuse Weise hatte ich sogar an den Sozialismus geglaubt“, sagt das Mädchen an einer Stelle, „denn er schien alles auszumachen, was ich war. Die Straßen, Gehwege, Wälder, die Schule, die Sachen, die ich trug, der Geruch einer Zwiebel, alles war irgendwie sozialistisch. Insofern war natürlich auch meine Mutter sozialistisch, und ihre Schläge und Schweinereien, aber es gab eben auch Glatzköpfe, die mir halfen, halfen im Namen des Gesetzes.“ Es fehlt hier an der empörenden Gegenwelt einer privilegierten besseren Gesellschaft, die dem heutigen französischen Sozialrealismus seine anklägerische Schärfe, aber auch seine moralische Harmlosigkeit gibt. Angelika Klüssendorfs Welt ist viel trostloser. Und damit auch viel poetischer. Denn wo es kaum soziale Kontraste gibt - außer der Normalität glücklicherer Familien -, müssen abgerissene Schönheiten der Natur oder einzelner Dinge an ihre Stelle treten. Bäume, Blüten, Wolken, Wetter überhaupt, einzelne Momente, das Licht, die Dinge.
Man wird im Elend
kein besserer Mensch, auch das
gehört zu seinen Folgen
Angelika Klüssendorf: Risse.
Roman. Piper Verlag,
München 2023.
176 Seiten, 22 Euro.
Ihre autobiografischen Romane bescherten ihr sehr verdient Ruhm und etliche Preise: die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf.
Foto: Sarah Wolff
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2023Was sie nicht zu betreten wagt
Die poetische Wahrheit der Angelika Klüssendorf reicht tief: In ihren nun wiederaufgelegten und dafür umgearbeiteten frühen Erzählungen zeigt sich schon das ganze spätere Werk. "Risse" soll nun Roman sein.
Wie lässt sich der traumatisierende Schrecken einer Kindheit und Jugend mitteilen, gezeichnet von schauerlichen Sadismen aller Art, emotionaler Verwahrlosung und schwer erträglicher Brutalität, ohne uns, die Leser, zu verlieren? Vielleicht in dem man von den nicht abzuschüttelnden Dämonen erzählt - so lakonisch, präzise und unerschrocken wie nur möglich. "Kurz bevor ich die Schmerzen nicht mehr aushielt, versuchte ich, in ihnen zu leben", heißt es gegen Ende der Erzählung "Gespenster" - ein Satz, der in nuce enthält, was Angelika Klüssendorf treibt.
Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Die zehn kurzen Geschichten, die das erzählerische Rückgrat des Romans "Risse" bilden, gehören zweifellos zum Besten, was die Autorin geschrieben hat. Die Hauptprotagonistin dieser Familienaufstellung des Grauens wird selten beim Namen genannt, sie ist einfach "das Mädchen" oder "sie"; ein paar Mal wird aus der Ich-Perspektive erzählt, einmal spricht eine junge Heimerzieherin, nur wenig älter als ihre minderjährige Schutzbefohlene, ein anderes Mal ein junger Polizist, der in der ihm gegenübersitzenden Frau ein Mädchen aus dem Dorf der Kindheit zu erkennen glaubt. Es ist ein bedrückender Reigen, in dem nicht geurteilt oder gar analysiert wird - nur erzählt, kühl, klar und ohne Schnörkel. Von den Schrecken eines Kindergefängnisses, eines Heims. Von einem Vater, der sich jedes Jahr zu Ostern das Leben zu nehmen versucht, unter tätiger Mithilfe der um seine Liebe bettelnden Tochter. Von der Mutter, die an einem ebenso pervertierten Weihnachten ihr älteres Mädchen mit dem Einkaufszettel zum Ladendiebstahl schickt, während die jüngere Schwester mit Nadeln gequält wird. Auf dem Plattenteller dreht sich zu dieser Folterszene in Endlosschleife Elvis' "Love Me Tender" - man kann kaum anders, als in einer Art Echoraum Bobby Vintons "Blue Velvet" aus David Lynchs gleichnamigem Film zu hören.
"Risse", auf dem Vorsatzblatt, nicht aber auf dem Umschlag der Gattung Roman zugeschlagen, enthält - mit minimalen textlichen Bearbeitungen und in leicht modifizierter Anordnung - alle zehn Kurzgeschichten des 2004 bei S. Fischer erschienenen Erzählbandes "Aus allen Himmeln". Eigennamen wurden getilgt, aus "Maria" oder "Judith" wurden "das Mädchen" oder "meine Schwester". Die 2004 an zweiter Stelle stehende Erzählung ("Ficken") schließt nun, unter dem weniger expliziten Titel "Sommer", den Band ab. Zeigte das Cover des Fischer-Bandes noch einen menschenleeren Bootssteg, ein gefälliges Stock-Foto in Schwarz-Weiß, ist nun eine verfremdete Jugendfotografie der Autorin zu sehen - was die wesentlichste Abweichung auch visuell unterstreicht: kursiv gesetzte Zwischentexte, die den einzelnen Episoden einen autobiographischen Rahmen geben.
In einem Vorstück erklärt Klüssendorf die Begleitumstände ihres Neuansatzes: "Du hast schon immer gelogen" - so, mit Abscheu in der Stimme, hatte ihre Mutter vor fast zwanzig Jahren nach der Lektüre von "Aus allen Himmeln" am Telefon gefaucht. Tatsächlich hat Klüssendorf den Tod ihrer Mutter, in einem Anflug von tiefschwarzem Ätsch-Bätsch, jahrzehntelang als Blanko-Ausrede für alle Gelegenheiten benutzt, vom nicht wahrgenommenen Arzttermin bis zur Lesungsabsage: "Ich habe meine Mutter wieder und wieder sterben lassen." Als die Frau mit 84 Jahren dann wirklich ablebte, unterzog sich die Autorin einem schmerzhaften Selbstbefragungsprozess: Könnte der mütterliche Anwurf einen wahren Kern haben? Was wurde in der makellosen Prosa von einst ausgelassen, "falsch" beschrieben? "Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte."
Die Schuldgefühle der Mutter kommen erst kurz vor ihrem Tod. Wie viele Angehörige der Nachkriegskinder-Generation ist sie nicht in der Lage, Unglück zu verbalisieren. "Sie musste es weitergeben." Gefragt, warum sie "so böse" war, reagiert die greise Mutter mit einem wütenden Weinkrampf: "Ich weiß es doch nicht, ich weiß es nicht."
Das Verfahren, die Short Storys mit autobiographischem Text zu klammern, ist interessanterweise schon in einer der alten Klüssendorf'schen Erzählungen angelegt: "Auch meine Geschichte war in Wirklichkeit eine ganz andere", heißt es da in "Alles hat seine Zeit" aus dem Jahr 2004. Kein Polizist, nirgends. Tatsächlich kann das Mädchen damals den Ring, den ihr der Vater mitgibt, im Konsumladen gegen zwei Flaschen Schnaps und Zigaretten eintauschen. Die kommentierenden Zwischentexte bilden die Scharniere zwischen den Erzählungen - etablieren aber auch so etwas wie die Vorgeschichte der drei seit 2011 erschienenen autobiographischen Romane "Das Mädchen", "April" und "Jahre später".
Diese Art autofiktionales Schreiben lediglich auf seinen therapeutischen Effekt für die Autorin zu reduzieren ist zu kurz gesprungen. Man sieht, im Gegenteil, wie bestimmte Motive im Werk variiert und weitergesponnen werden. Da stirbt auch der Alkoholiker-Vater ein ums andere Mal, zuletzt in der Figur des "Schlucki" im Dorfroman "Vierunddreißigster September" (2021). Im "wirklichen" Leben, so verrät Klüssendorf, sei ihr Vater - der schillernde, gut aussehende Hochstapler und Heiratsschwindler mit musischen Ambitionen, der auf einem Foto dem jungen Pier Paolo Pasolini ähnelt - als vierundsiebzigjähriger Kettenraucher an Lungenkrebs elend und einsam eingegangen. In "Hölle oder Himmel", einer der atemraubendsten "Aus allen Himmeln"-Geschichten, wird der Abgang als bizarres Oster-Ritual inszeniert. Das elfjährige Mädchen erlebt zum wiederholten Mal, wie der Vater mit Akkuratesse und Phantasie seinen Suizid vorbereitet. "Wir hatten nie über seine Selbstmordversuche gesprochen, die zu unserem Leben gehörten, wie für die anderen der alljährliche Osterbraten." Viele im Zwischentext gestellte schmerzhafte Fragen bleiben unbeantwortet - etwa die nach der Korrumpierbarkeit des Kindes für ein wenig Zuneigung. Oder die kaum abzutragende Schuld gegenüber der jüngeren Schwester: "Ich war eine Zeugin. Doch wo war mein Mitgefühl?"
Am Ende ist "Risse" nicht nur eine kommentierte Re-Lektüre, sondern eine große Selbstermächtigungs-Erzählung. Eine zentrale Rolle nehmen darin Bücher ein, so wie später auch das Schreiben. Eine Welt, aus der man nicht vertrieben werden kann. Ein Stück Heimat. Als Kind, so erfahren wir, wollte Klüssendorf Bibliothekarin oder Blumenbinderin werden, später Psychologin oder Kriminalkommissarin. Doch im Grunde gab es nichts mehr zu wählen: "Schreiben ist mir der einzig verlässliche Raum." Bei aller Ausweglosigkeit war da immer eine Sehnsucht: "Es sollten Abenteuergeschichten werden."
In deren Setting wird die DDR zwar vom pop-art-bunten Porträt des Staatsratsvorsitzenden in allen Amtsstuben bis zu Gerüchen und Markennamen ("Yvette Intim" wie "Goldbrand") detailreich ausgebreitet. Doch die poetische Wahrheit der Angelika Klüssendorf reicht tiefer als die exakte Ausstaffierung eines Unrechtsstaats: "Auf eine diffuse Weise hatte ich sogar an den Sozialismus geglaubt", lässt sie das Mädchen, inzwischen eine routinierte Ausreißerin, auf einer Polizeiwache monologisieren, "denn er schien alles auszumachen, was ich war. Die Straßen, Gehwege, Wälder, die Schule, die Sachen, die ich trug, der Geruch einer Zwiebel, alles war irgendwie sozialistisch." Eine Welt, die nicht in Schwarz und Weiß aufgeht. "Insofern war natürlich auch meine Mutter sozialistisch, und ihre Schläge und alle ihre Schweinereien, aber es gab eben auch Glatzköpfe, die mir halfen, halfen im Namen des Gesetzes." NILS KAHLEFENDT
Angelika Klüssendorf: "Risse". Roman.
Piper Verlag,
München 2023.
170 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die poetische Wahrheit der Angelika Klüssendorf reicht tief: In ihren nun wiederaufgelegten und dafür umgearbeiteten frühen Erzählungen zeigt sich schon das ganze spätere Werk. "Risse" soll nun Roman sein.
Wie lässt sich der traumatisierende Schrecken einer Kindheit und Jugend mitteilen, gezeichnet von schauerlichen Sadismen aller Art, emotionaler Verwahrlosung und schwer erträglicher Brutalität, ohne uns, die Leser, zu verlieren? Vielleicht in dem man von den nicht abzuschüttelnden Dämonen erzählt - so lakonisch, präzise und unerschrocken wie nur möglich. "Kurz bevor ich die Schmerzen nicht mehr aushielt, versuchte ich, in ihnen zu leben", heißt es gegen Ende der Erzählung "Gespenster" - ein Satz, der in nuce enthält, was Angelika Klüssendorf treibt.
Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Die zehn kurzen Geschichten, die das erzählerische Rückgrat des Romans "Risse" bilden, gehören zweifellos zum Besten, was die Autorin geschrieben hat. Die Hauptprotagonistin dieser Familienaufstellung des Grauens wird selten beim Namen genannt, sie ist einfach "das Mädchen" oder "sie"; ein paar Mal wird aus der Ich-Perspektive erzählt, einmal spricht eine junge Heimerzieherin, nur wenig älter als ihre minderjährige Schutzbefohlene, ein anderes Mal ein junger Polizist, der in der ihm gegenübersitzenden Frau ein Mädchen aus dem Dorf der Kindheit zu erkennen glaubt. Es ist ein bedrückender Reigen, in dem nicht geurteilt oder gar analysiert wird - nur erzählt, kühl, klar und ohne Schnörkel. Von den Schrecken eines Kindergefängnisses, eines Heims. Von einem Vater, der sich jedes Jahr zu Ostern das Leben zu nehmen versucht, unter tätiger Mithilfe der um seine Liebe bettelnden Tochter. Von der Mutter, die an einem ebenso pervertierten Weihnachten ihr älteres Mädchen mit dem Einkaufszettel zum Ladendiebstahl schickt, während die jüngere Schwester mit Nadeln gequält wird. Auf dem Plattenteller dreht sich zu dieser Folterszene in Endlosschleife Elvis' "Love Me Tender" - man kann kaum anders, als in einer Art Echoraum Bobby Vintons "Blue Velvet" aus David Lynchs gleichnamigem Film zu hören.
"Risse", auf dem Vorsatzblatt, nicht aber auf dem Umschlag der Gattung Roman zugeschlagen, enthält - mit minimalen textlichen Bearbeitungen und in leicht modifizierter Anordnung - alle zehn Kurzgeschichten des 2004 bei S. Fischer erschienenen Erzählbandes "Aus allen Himmeln". Eigennamen wurden getilgt, aus "Maria" oder "Judith" wurden "das Mädchen" oder "meine Schwester". Die 2004 an zweiter Stelle stehende Erzählung ("Ficken") schließt nun, unter dem weniger expliziten Titel "Sommer", den Band ab. Zeigte das Cover des Fischer-Bandes noch einen menschenleeren Bootssteg, ein gefälliges Stock-Foto in Schwarz-Weiß, ist nun eine verfremdete Jugendfotografie der Autorin zu sehen - was die wesentlichste Abweichung auch visuell unterstreicht: kursiv gesetzte Zwischentexte, die den einzelnen Episoden einen autobiographischen Rahmen geben.
In einem Vorstück erklärt Klüssendorf die Begleitumstände ihres Neuansatzes: "Du hast schon immer gelogen" - so, mit Abscheu in der Stimme, hatte ihre Mutter vor fast zwanzig Jahren nach der Lektüre von "Aus allen Himmeln" am Telefon gefaucht. Tatsächlich hat Klüssendorf den Tod ihrer Mutter, in einem Anflug von tiefschwarzem Ätsch-Bätsch, jahrzehntelang als Blanko-Ausrede für alle Gelegenheiten benutzt, vom nicht wahrgenommenen Arzttermin bis zur Lesungsabsage: "Ich habe meine Mutter wieder und wieder sterben lassen." Als die Frau mit 84 Jahren dann wirklich ablebte, unterzog sich die Autorin einem schmerzhaften Selbstbefragungsprozess: Könnte der mütterliche Anwurf einen wahren Kern haben? Was wurde in der makellosen Prosa von einst ausgelassen, "falsch" beschrieben? "Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte."
Die Schuldgefühle der Mutter kommen erst kurz vor ihrem Tod. Wie viele Angehörige der Nachkriegskinder-Generation ist sie nicht in der Lage, Unglück zu verbalisieren. "Sie musste es weitergeben." Gefragt, warum sie "so böse" war, reagiert die greise Mutter mit einem wütenden Weinkrampf: "Ich weiß es doch nicht, ich weiß es nicht."
Das Verfahren, die Short Storys mit autobiographischem Text zu klammern, ist interessanterweise schon in einer der alten Klüssendorf'schen Erzählungen angelegt: "Auch meine Geschichte war in Wirklichkeit eine ganz andere", heißt es da in "Alles hat seine Zeit" aus dem Jahr 2004. Kein Polizist, nirgends. Tatsächlich kann das Mädchen damals den Ring, den ihr der Vater mitgibt, im Konsumladen gegen zwei Flaschen Schnaps und Zigaretten eintauschen. Die kommentierenden Zwischentexte bilden die Scharniere zwischen den Erzählungen - etablieren aber auch so etwas wie die Vorgeschichte der drei seit 2011 erschienenen autobiographischen Romane "Das Mädchen", "April" und "Jahre später".
Diese Art autofiktionales Schreiben lediglich auf seinen therapeutischen Effekt für die Autorin zu reduzieren ist zu kurz gesprungen. Man sieht, im Gegenteil, wie bestimmte Motive im Werk variiert und weitergesponnen werden. Da stirbt auch der Alkoholiker-Vater ein ums andere Mal, zuletzt in der Figur des "Schlucki" im Dorfroman "Vierunddreißigster September" (2021). Im "wirklichen" Leben, so verrät Klüssendorf, sei ihr Vater - der schillernde, gut aussehende Hochstapler und Heiratsschwindler mit musischen Ambitionen, der auf einem Foto dem jungen Pier Paolo Pasolini ähnelt - als vierundsiebzigjähriger Kettenraucher an Lungenkrebs elend und einsam eingegangen. In "Hölle oder Himmel", einer der atemraubendsten "Aus allen Himmeln"-Geschichten, wird der Abgang als bizarres Oster-Ritual inszeniert. Das elfjährige Mädchen erlebt zum wiederholten Mal, wie der Vater mit Akkuratesse und Phantasie seinen Suizid vorbereitet. "Wir hatten nie über seine Selbstmordversuche gesprochen, die zu unserem Leben gehörten, wie für die anderen der alljährliche Osterbraten." Viele im Zwischentext gestellte schmerzhafte Fragen bleiben unbeantwortet - etwa die nach der Korrumpierbarkeit des Kindes für ein wenig Zuneigung. Oder die kaum abzutragende Schuld gegenüber der jüngeren Schwester: "Ich war eine Zeugin. Doch wo war mein Mitgefühl?"
Am Ende ist "Risse" nicht nur eine kommentierte Re-Lektüre, sondern eine große Selbstermächtigungs-Erzählung. Eine zentrale Rolle nehmen darin Bücher ein, so wie später auch das Schreiben. Eine Welt, aus der man nicht vertrieben werden kann. Ein Stück Heimat. Als Kind, so erfahren wir, wollte Klüssendorf Bibliothekarin oder Blumenbinderin werden, später Psychologin oder Kriminalkommissarin. Doch im Grunde gab es nichts mehr zu wählen: "Schreiben ist mir der einzig verlässliche Raum." Bei aller Ausweglosigkeit war da immer eine Sehnsucht: "Es sollten Abenteuergeschichten werden."
In deren Setting wird die DDR zwar vom pop-art-bunten Porträt des Staatsratsvorsitzenden in allen Amtsstuben bis zu Gerüchen und Markennamen ("Yvette Intim" wie "Goldbrand") detailreich ausgebreitet. Doch die poetische Wahrheit der Angelika Klüssendorf reicht tiefer als die exakte Ausstaffierung eines Unrechtsstaats: "Auf eine diffuse Weise hatte ich sogar an den Sozialismus geglaubt", lässt sie das Mädchen, inzwischen eine routinierte Ausreißerin, auf einer Polizeiwache monologisieren, "denn er schien alles auszumachen, was ich war. Die Straßen, Gehwege, Wälder, die Schule, die Sachen, die ich trug, der Geruch einer Zwiebel, alles war irgendwie sozialistisch." Eine Welt, die nicht in Schwarz und Weiß aufgeht. "Insofern war natürlich auch meine Mutter sozialistisch, und ihre Schläge und alle ihre Schweinereien, aber es gab eben auch Glatzköpfe, die mir halfen, halfen im Namen des Gesetzes." NILS KAHLEFENDT
Angelika Klüssendorf: "Risse". Roman.
Piper Verlag,
München 2023.
170 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "bedrückenden Reigen" empfindet Rezensent Nils Kahlefendt die Geschichten, die Angelika Klüssendorf jetzt als Roman herausbringt, nachdem sie 2004 zunächst als Erzählungsband erschienen sind: Von Trauma und Schmerz handeln die Geschichten um ein junges Mädchen, das kaum einmal beim Namen genannt wird, im Heim Schreckliches erlebt und Zuhause dem Vater bei seinen zahlreichen Suizidversuchen assistieren muss. Das ist so schmerzhaft wie autobiografisch fundiert, erfahren wir, und in der Neuausgabe nun leicht modifiziert, um der Roman-Gattung gerecht zu werden. Klüssendorf bekundet in einem Vorwort, sich einem "schmerzhaften Selbstbefragungprozess" unterzogen zu haben, der auch die Änderungen bedingte und es den LeserInnen zudem ermöglicht, noch einmal nachzuschlagen, woher einige Motive ihres weiteren Werks kommen, gibt Kahlefendt wieder, der hier eine "große Selbstermächtigungs-Erzählung" liest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Am Ende ist 'Risse' nicht nur eine kommentierte Re-Lektüre, sondern eine große Selbstermächtigungs-Erzählung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20231118