Henry Perowne, 48, ist ein zufriedener Mann: erfolgreich als Neurochirurg, glücklich verheiratet, zwei begabte Kinder. Das einzige, was ihn leicht beunruhigt, ist der Zustand der Welt. Es ist Samstag, und er freut sich auf sein Squashspiel. Doch an diesem speziellen Samstag, dem 15. Februar 2003, ist nicht nur die größte Friedensdemonstration aller Zeiten in London. Perowne hat unversehens eine Begegnung, die ihm jeden Frieden raubt ...
CD 1 | |||
1 | Saturday | 00:00:06 | |
2 | Teil Eins | 00:09:44 | |
3 | Teil Eins | 00:08:20 | |
4 | Teil Eins | 00:09:48 | |
5 | Teil Eins | 00:10:03 | |
6 | Teil Eins | 00:08:49 | |
7 | Teil Eins | 00:10:50 | |
8 | Teil Eins | 00:10:07 | |
9 | Teil Eins | 00:11:54 | |
CD 2 | |||
1 | Teil Zwei | 00:10:35 | |
2 | Teil Zwei | 00:10:13 | |
3 | Teil Zwei | 00:10:50 | |
4 | Teil Zwei | 00:09:59 | |
5 | Teil Zwei | 00:11:07 | |
6 | Teil Zwei | 00:13:55 | |
7 | Teil Zwei | 00:11:51 | |
CD 3 | |||
1 | Teil Zwei | 00:12:12 | |
2 | Teil Zwei | 00:09:52 | |
3 | Teil Drei | 00:10:56 | |
4 | Teil Drei | 00:08:14 | |
5 | Teil Drei | 00:05:30 | |
6 | Teil Drei | 00:03:07 | |
7 | Teil Drei | 00:10:10 | |
8 | Teil Drei | 00:07:06 | |
9 | Teil Drei | 00:06:27 | |
CD 4 | |||
1 | Teil Drei | 00:12:28 | |
2 | Teil Drei | 00:07:11 | |
3 | Teil Vier | 00:09:27 | |
4 | Teil Vier | 00:09:43 | |
5 | Teil Vier | 00:10:13 | |
6 | Teil Vier | 00:08:13 | |
7 | Teil Vier | 00:09:29 | |
8 | Teil Vier | 00:07:34 | |
CD 5 | |||
1 | Teil Vier | 00:09:19 | |
2 | Teil Vier | 00:09:20 | |
3 | Teil Vier | 00:08:52 | |
4 | Teil Vier | 00:06:42 | |
5 | Teil Vier | 00:06:21 | |
6 | Teil Fünf | 00:06:34 | |
CD 6 | |||
1 | Teil Fünf | 00:08:26 | |
2 | Teil Fünf | 00:11:19 | |
3 | Teil Fünf | 00:12:21 | |
4 | Teil Fünf | 00:08:25 | |
5 | Teil Fünf | 00:08:52 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2005Einkaufen statt beten
Die Stadt, die Angst und der Trost: Ian McEwans "Saturday"
London, sein kleiner, offen vor ihm liegender, unmöglich zu verteidigender Ausschnitt wartet auf seine Bombe. Die Rush-hour böte eine passende Gelegenheit." Das ist ganz am Ende des Romans, als Henry Perowne nach eines langen Tages Reise in die Nacht am Schlafzimmerfenster steht und auf den Fitzroy Square schaut. An gleicher Stelle hat er schon vor gut vierundzwanzig Stunden gestanden, nachdem er mitten in der Nacht wach geworden ist, für ihn etwas sehr Ungewöhnliches. Da war der Blick aufs nächtliche London noch anders gefärbt, begleitet fast von einem Grandiositätsgefühl: "Wie er dasteht - gegen die Kälte so immun wie eine Marmorstatue - und zur Charlotte Street hinüberschaut, auf den perspektivisch verkürzten Wirrwarr der Fassaden, die Baugerüste und Pultdächer, findet Henry, daß Städte ein Erfolg sind, ein organisches Meisterwerk - wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die angehäuften, vielschichtigen Errungenschaften der Jahrhunderte, schlafen, arbeiten, vergnügen sich, einträchtig zumeist, und wollen fast alle, daß es funktioniert."
Man muß bei dieser Feier der großen Stadt unwillkürlich an eine ähnliche Szene aus einem anderen Roman denken, der exakt achtzig Jahre vor diesem erschienen ist. Da geht Peter Walsh durch London, sieht in der Nähe des Regent's Park ein junges Mädchen in Seidenstrümpfen und mit einem Federhut einem Auto entsteigen und in einem prächtigen Haus verschwinden. Er sieht: "Bewundernswerte Kammerdiener, gelbbraune Chows, eine in schwarz-weißem Rautenmuster ausgelegte Halle, wehende weiße Gardinen. Peter sah es alles durch die geöffnete Haustür und billigte es. Alles in allem doch eine herrliche Leistung in ihrer Art, dieses London; die Season; die Zivilisation." Dem würde übrigens auch seine alte Freundin Mrs. Dalloway zustimmen, bei der er heute abend eingeladen ist.
London im
Belagerungszustand
Die Parallele zu Virginia Woolfs 1925 erschienenem Roman beschränkt sich nicht auf diese stille und zugleich jubelnde Feier der Zivilisation (in die in beiden Fällen der kritische Blick auf sie eingeschlossen ist). Wie in "Mrs. Dalloway" umspannt die erzählte Zeit einen Tag, und wie bei Virginia Woolf gibt es neben den menschlichen Akteuren einen gleichrangigen Protagonisten: die Stadt London.
Die befindet sich an diesem 15. Februar 2003 gleichsam im Belagerungszustand, denn im Lauf des Tages wird die größte Demonstration stattfinden, die es in dieser Stadt je gegeben hat: wider den bevorstehenden Krieg der Amerikaner gegen den Irak und die Unterstützung dieses Krieges durch die britische Regierung. Henry Perowne ist ein erfolgreicher Neurochirurg, glücklich verheiratet mit einer ebenso erfolgreichen Juristin. Er steht mit seinen achtundvierzig Jahren wahrhaft auf der Sonnenseite des Lebens und ist alles in allem der typische aufgeklärte Metropolentyp, ein Liberaler eben. Es sollte ihm eigentlich leichtfallen, den Protest gegen den geplanten Krieg wenigstens innerlich zu unterstützen, auch wenn er an diesem Samstag wie an jedem anderen gegen seinen amerikanischen Kollegen Jay Strauss Squash spielen wird. Aber vor einiger Zeit hatte er einen Patienten aus dem Irak, Professor für Alte Geschichte, der ihm seine Folter- und Leidensgeschichte erzählt hat. Ohne diese Berichte aus dem Innenleben des Terrors hätte er vielleicht eine weniger ambivalente Einstellung zum bevorstehenden Krieg. Und morgens, nach dem ungewohnt frühen Aufwachen, hat Perowne im übrigen im Dunkeln ein brennendes Flugzeug auf Heathrow zufliegen sehen. Der Vorfall klärt sich im Laufe des Tages auf und ist harmloser Natur, doch anderthalb Jahre nach dem September 2001 werden beim Bewohner einer großen westlichen Metropole bei einem solchen Anblick zwangsläufig schlimme Assoziationen geweckt.
Es hätte des unwillkommenen Aktualisierungsschubs durch die Ereignisse des 7. Juli nicht bedurft, um Ian McEwans Roman "Saturday" zu einem der wichtigsten Bücher dieses Jahres zu machen. Im Gegenteil: Die zeitliche Koinzidenz verführt dazu, den Blick auf den Roman zum Tunnelblick zu verengen und ihn zynischerweise als "Buch zum Event" zu lesen. Damit würde man ihm selbstverständlich nicht gerecht. Sosehr McEwan in seinem gesamten Werk von Anfang an Zeitgenosse war, so wenig schrumpft bei ihm diese Zeitgenossenschaft auf vordergründige Aktualität ein. Dazu ist er ein viel zu guter und zu reflektierter Autor. "Saturday" ist bei genauerem Hinsehen vor allem ein Roman über die Liebe und über die Angst.
Henry Perownes Liebe, so könnte man sagen, gilt der Welt, in der er lebt. Sie gilt seiner Frau (Perowne ist absolut monogam); seiner Arbeit, die ihn reich gemacht hat; dem schönen Haus, das er bewohnt, und seinen Kindern. Dieser Neurochirurg wäre ein Paradebeispiel für jede politische Partei, die zeigen möchte, wie ein Bewußtsein auf der Höhe der Zeit und traditionelle Werte Hand in Hand gehen können. "Was er braucht", heißt es am Ende des ersten Teils, "das sind: Besitz, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Wiederholung."
Perownes Liebe erstreckt sich auf die westliche Zivilisation insgesamt, wobei die materiellen Möglichkeiten und technischen Annehmlichkeiten, die sie zur Verfügung stellt, ebenso gemeint sind wie der freiheitliche Diskurs, den sie ermöglicht. Zu den schönsten Passagen dieses Buches gehören eine kleine Hommage an die Weiterentwicklung des elektrischen Wasserkochers und eine Hymne auf die Dusche. Und Perowne unterschreibt auch das Credo, daß es besser sei, die wirkliche Welt zu nehmen, wie sie ist, als die Menschheit in eine bessere morden, bomben und beten zu wollen. Dieses Credo schließt auch das Bekenntnis zum Konsum ein: "Nicht der Rationalismus besiegt die religiösen Fanatiker, sondern der gewöhnliche Einkauf mit allem, was dazugehört - Jobs unter anderem, aber auch Frieden und erfüllbare Wünsche, Verheißungen, die in dieser Welt wahr werden und nicht erst in der nächsten. Lieber Einkaufen als Beten." Im Original klingt der letzte Satz in seiner Lakonie wahrhaft wie ein Glaubensartikel: Rather shop than pray.
In der Auseinandersetzung mit seiner Tochter Daisy, einer aufstrebenden Lyrikerin, die die literarische Erziehung ihres Vaters übernimmt und ihm Hausaufgaben in Form von Leselisten gibt, wird er natürlich auch mit dem Magischen Realismus konfrontiert. Der ist Henry Perowne ein Greuel. Menschen, die mit Flügeln geboren werden oder einen übermenschlichen Geruchssinn haben, interessieren ihn nicht. "Das Wirkliche, nicht das Magische sollte die Herausforderung sein", findet er. Man darf das durchaus als Kern von McEwans Poetik lesen, angesichts solcher hinterlistigen Romane wie "Der Trost von Fremden" oder "Der Zementgarten" wohl wissend, daß es sich dabei nicht um einen kruden Realismus handelt.
Da Perowne aber ein durchaus bewußter Zeitgenosse und kein Fachidiot ist, weiß er zugleich, daß diese Wirklichkeit, die er liebt, permanent und zunehmend bedroht ist. Das trifft nicht nur auf die weltpolitische Ebene zu, sondern auch auf die private, wie er und seine ganze Familie im Laufe dieses Samstags feststellen müssen. Die Gewalt bricht am Nachmittag in sein Haus ein, als Folge eines dummen kleinen Autounfalls, den er am Morgen hatte, und in Gestalt von Baxter, der nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht und unter Chorea-Huntington leidet. Es ist das Wissen um diese Krankheit, das den Neurochirurgen Perowne und seine Familie schließlich vor Schlimmerem rettet: Herrschaftswissen, hätte man vor einigen Jahrzehnten mit erhobenem Zeigefinger gesagt. Das stimmt sogar, denn der ganze vierte Akt dieses Dramas in fünf Akten zeigt auch ein Stück Klassenkampf. Dessen ist Perowne sich durchaus bewußt. Seine neurochirurgische Weltsicht sagt ihm zwar, daß ein Großteil dessen, was aus uns wird, von unseren Genen vorgegeben ist. Zugleich würde er aber nicht bestreiten, daß auch die Verhältnisse uns formen. Und in beiden Fällen hat er mehr Glück gehabt als Baxter.
Ein glühender Verteidiger
des Zufalls
Dieses Glück möchte er naturgemäß schützen und erhalten. In der Auseinandersetzung mit Baxter hilft ihm sein Intellekt, nachdem er erkennen muß, daß seine Gewaltphantasien gegenüber dem Eindringling lächerlich sind: "Noch nie in seinem Leben hat er jemandem ins Gesicht geschlagen, nicht mal als Kind. Und ein Messer hat er bislang immer nur in kontrollierter Bewegung und steriler Umgebung an betäubte Haut angesetzt. Er weiß schlichtweg nicht, wie man sich rücksichtslos benimmt." Auf der allgemeineren Ebene tut Henry Perowne, was wir alle zunehmend tun: "Er ist ein fügsamer Bürger, der zusieht, wie der Leviathan mächtiger wird, während er selbst in seinem Schatten Schutz sucht." Daß dabei Liberalität verlorengeht, ist ihm wohl bewußt. Aber die Angst um die Welt, die er liebt, und der unbedingte Wille, sie zu erhalten, lassen ihm keine andere Wahl.
Der Typus, den Henry Perowne verkörpert, ist von Richard Rorty schon vor mehr als anderthalb Jahrzehnten als "liberaler Ironiker" beschrieben worden, dem es weniger um Wahrheit als um die Vermeidung von Grausamkeit geht. Zum Rortyschen Ansatz paßt auch, daß Perowne ein glühender Verteidiger des Zufalls ist, der für ihn auch Freiheit bedeutet. Henry Perowne, dessen Bewußtseinsstrom in diesem Buch vorgeführt wird, ist dennoch alles andere als die Illustration einer philosophischen These. Daß Ian McEwan dieser, sein zehnter Roman nicht zum Thesenpapier geraten ist - nicht einmal in der langen Auseinandersetzung Perownes mit seiner Tochter Daisy um das Für und Wider eines Angriffs auf den Irak -, liegt daran, daß dieser Autor sich wie immer mehr um die Einzelheiten als ums ganz(e) Große kümmert und mehr um die Leute als um die Menschheit. Dem verdanken wir nicht nur die schon genannten Elogen auf den Wasserkocher und die Dusche, sondern auch ein schönes Bild vom Leviathan: "Ohne hinzusehen, findet er die Taste, um den Wagen zu sichern. In rascher Folge schließen die Türen mit einem kleinen, nachhallenden Klacken, vier Sechzehntelnoten, die ihn sanft einlullen. Ein uraltes Evolutionsdilemma: die Notwendigkeit zu schlafen, die Angst, gefressen zu werden - endlich durch Zentralverriegelung gelöst."
Daß die Zentralverriegelung diejenigen aussperrt, die sich dem Leviathan nicht unterwerfen, verschweigt Ian McEwan nicht. Mehrschichtigkeit ist überhaupt die Essenz dieses Romans, und ambivalent bleibt auch der Schluß, den man nicht als vorschnelle Versöhnung mißverstehen sollte. Nach dem Einbruch der Gewalt ist der Friede keineswegs bruchlos wiederhergestellt, auch wenn der Roman mit einer Geste der Liebe endet, bevor sich Perowne dem Schlaf und dem Vergessen überläßt. Die Erinnerung an alles, was seine Welt bedroht, wird nach dem Erwachen gewiß zurückkehren.
Ian McEwan: "Saturday". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 387 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Stadt, die Angst und der Trost: Ian McEwans "Saturday"
London, sein kleiner, offen vor ihm liegender, unmöglich zu verteidigender Ausschnitt wartet auf seine Bombe. Die Rush-hour böte eine passende Gelegenheit." Das ist ganz am Ende des Romans, als Henry Perowne nach eines langen Tages Reise in die Nacht am Schlafzimmerfenster steht und auf den Fitzroy Square schaut. An gleicher Stelle hat er schon vor gut vierundzwanzig Stunden gestanden, nachdem er mitten in der Nacht wach geworden ist, für ihn etwas sehr Ungewöhnliches. Da war der Blick aufs nächtliche London noch anders gefärbt, begleitet fast von einem Grandiositätsgefühl: "Wie er dasteht - gegen die Kälte so immun wie eine Marmorstatue - und zur Charlotte Street hinüberschaut, auf den perspektivisch verkürzten Wirrwarr der Fassaden, die Baugerüste und Pultdächer, findet Henry, daß Städte ein Erfolg sind, ein organisches Meisterwerk - wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die angehäuften, vielschichtigen Errungenschaften der Jahrhunderte, schlafen, arbeiten, vergnügen sich, einträchtig zumeist, und wollen fast alle, daß es funktioniert."
Man muß bei dieser Feier der großen Stadt unwillkürlich an eine ähnliche Szene aus einem anderen Roman denken, der exakt achtzig Jahre vor diesem erschienen ist. Da geht Peter Walsh durch London, sieht in der Nähe des Regent's Park ein junges Mädchen in Seidenstrümpfen und mit einem Federhut einem Auto entsteigen und in einem prächtigen Haus verschwinden. Er sieht: "Bewundernswerte Kammerdiener, gelbbraune Chows, eine in schwarz-weißem Rautenmuster ausgelegte Halle, wehende weiße Gardinen. Peter sah es alles durch die geöffnete Haustür und billigte es. Alles in allem doch eine herrliche Leistung in ihrer Art, dieses London; die Season; die Zivilisation." Dem würde übrigens auch seine alte Freundin Mrs. Dalloway zustimmen, bei der er heute abend eingeladen ist.
London im
Belagerungszustand
Die Parallele zu Virginia Woolfs 1925 erschienenem Roman beschränkt sich nicht auf diese stille und zugleich jubelnde Feier der Zivilisation (in die in beiden Fällen der kritische Blick auf sie eingeschlossen ist). Wie in "Mrs. Dalloway" umspannt die erzählte Zeit einen Tag, und wie bei Virginia Woolf gibt es neben den menschlichen Akteuren einen gleichrangigen Protagonisten: die Stadt London.
Die befindet sich an diesem 15. Februar 2003 gleichsam im Belagerungszustand, denn im Lauf des Tages wird die größte Demonstration stattfinden, die es in dieser Stadt je gegeben hat: wider den bevorstehenden Krieg der Amerikaner gegen den Irak und die Unterstützung dieses Krieges durch die britische Regierung. Henry Perowne ist ein erfolgreicher Neurochirurg, glücklich verheiratet mit einer ebenso erfolgreichen Juristin. Er steht mit seinen achtundvierzig Jahren wahrhaft auf der Sonnenseite des Lebens und ist alles in allem der typische aufgeklärte Metropolentyp, ein Liberaler eben. Es sollte ihm eigentlich leichtfallen, den Protest gegen den geplanten Krieg wenigstens innerlich zu unterstützen, auch wenn er an diesem Samstag wie an jedem anderen gegen seinen amerikanischen Kollegen Jay Strauss Squash spielen wird. Aber vor einiger Zeit hatte er einen Patienten aus dem Irak, Professor für Alte Geschichte, der ihm seine Folter- und Leidensgeschichte erzählt hat. Ohne diese Berichte aus dem Innenleben des Terrors hätte er vielleicht eine weniger ambivalente Einstellung zum bevorstehenden Krieg. Und morgens, nach dem ungewohnt frühen Aufwachen, hat Perowne im übrigen im Dunkeln ein brennendes Flugzeug auf Heathrow zufliegen sehen. Der Vorfall klärt sich im Laufe des Tages auf und ist harmloser Natur, doch anderthalb Jahre nach dem September 2001 werden beim Bewohner einer großen westlichen Metropole bei einem solchen Anblick zwangsläufig schlimme Assoziationen geweckt.
Es hätte des unwillkommenen Aktualisierungsschubs durch die Ereignisse des 7. Juli nicht bedurft, um Ian McEwans Roman "Saturday" zu einem der wichtigsten Bücher dieses Jahres zu machen. Im Gegenteil: Die zeitliche Koinzidenz verführt dazu, den Blick auf den Roman zum Tunnelblick zu verengen und ihn zynischerweise als "Buch zum Event" zu lesen. Damit würde man ihm selbstverständlich nicht gerecht. Sosehr McEwan in seinem gesamten Werk von Anfang an Zeitgenosse war, so wenig schrumpft bei ihm diese Zeitgenossenschaft auf vordergründige Aktualität ein. Dazu ist er ein viel zu guter und zu reflektierter Autor. "Saturday" ist bei genauerem Hinsehen vor allem ein Roman über die Liebe und über die Angst.
Henry Perownes Liebe, so könnte man sagen, gilt der Welt, in der er lebt. Sie gilt seiner Frau (Perowne ist absolut monogam); seiner Arbeit, die ihn reich gemacht hat; dem schönen Haus, das er bewohnt, und seinen Kindern. Dieser Neurochirurg wäre ein Paradebeispiel für jede politische Partei, die zeigen möchte, wie ein Bewußtsein auf der Höhe der Zeit und traditionelle Werte Hand in Hand gehen können. "Was er braucht", heißt es am Ende des ersten Teils, "das sind: Besitz, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Wiederholung."
Perownes Liebe erstreckt sich auf die westliche Zivilisation insgesamt, wobei die materiellen Möglichkeiten und technischen Annehmlichkeiten, die sie zur Verfügung stellt, ebenso gemeint sind wie der freiheitliche Diskurs, den sie ermöglicht. Zu den schönsten Passagen dieses Buches gehören eine kleine Hommage an die Weiterentwicklung des elektrischen Wasserkochers und eine Hymne auf die Dusche. Und Perowne unterschreibt auch das Credo, daß es besser sei, die wirkliche Welt zu nehmen, wie sie ist, als die Menschheit in eine bessere morden, bomben und beten zu wollen. Dieses Credo schließt auch das Bekenntnis zum Konsum ein: "Nicht der Rationalismus besiegt die religiösen Fanatiker, sondern der gewöhnliche Einkauf mit allem, was dazugehört - Jobs unter anderem, aber auch Frieden und erfüllbare Wünsche, Verheißungen, die in dieser Welt wahr werden und nicht erst in der nächsten. Lieber Einkaufen als Beten." Im Original klingt der letzte Satz in seiner Lakonie wahrhaft wie ein Glaubensartikel: Rather shop than pray.
In der Auseinandersetzung mit seiner Tochter Daisy, einer aufstrebenden Lyrikerin, die die literarische Erziehung ihres Vaters übernimmt und ihm Hausaufgaben in Form von Leselisten gibt, wird er natürlich auch mit dem Magischen Realismus konfrontiert. Der ist Henry Perowne ein Greuel. Menschen, die mit Flügeln geboren werden oder einen übermenschlichen Geruchssinn haben, interessieren ihn nicht. "Das Wirkliche, nicht das Magische sollte die Herausforderung sein", findet er. Man darf das durchaus als Kern von McEwans Poetik lesen, angesichts solcher hinterlistigen Romane wie "Der Trost von Fremden" oder "Der Zementgarten" wohl wissend, daß es sich dabei nicht um einen kruden Realismus handelt.
Da Perowne aber ein durchaus bewußter Zeitgenosse und kein Fachidiot ist, weiß er zugleich, daß diese Wirklichkeit, die er liebt, permanent und zunehmend bedroht ist. Das trifft nicht nur auf die weltpolitische Ebene zu, sondern auch auf die private, wie er und seine ganze Familie im Laufe dieses Samstags feststellen müssen. Die Gewalt bricht am Nachmittag in sein Haus ein, als Folge eines dummen kleinen Autounfalls, den er am Morgen hatte, und in Gestalt von Baxter, der nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht und unter Chorea-Huntington leidet. Es ist das Wissen um diese Krankheit, das den Neurochirurgen Perowne und seine Familie schließlich vor Schlimmerem rettet: Herrschaftswissen, hätte man vor einigen Jahrzehnten mit erhobenem Zeigefinger gesagt. Das stimmt sogar, denn der ganze vierte Akt dieses Dramas in fünf Akten zeigt auch ein Stück Klassenkampf. Dessen ist Perowne sich durchaus bewußt. Seine neurochirurgische Weltsicht sagt ihm zwar, daß ein Großteil dessen, was aus uns wird, von unseren Genen vorgegeben ist. Zugleich würde er aber nicht bestreiten, daß auch die Verhältnisse uns formen. Und in beiden Fällen hat er mehr Glück gehabt als Baxter.
Ein glühender Verteidiger
des Zufalls
Dieses Glück möchte er naturgemäß schützen und erhalten. In der Auseinandersetzung mit Baxter hilft ihm sein Intellekt, nachdem er erkennen muß, daß seine Gewaltphantasien gegenüber dem Eindringling lächerlich sind: "Noch nie in seinem Leben hat er jemandem ins Gesicht geschlagen, nicht mal als Kind. Und ein Messer hat er bislang immer nur in kontrollierter Bewegung und steriler Umgebung an betäubte Haut angesetzt. Er weiß schlichtweg nicht, wie man sich rücksichtslos benimmt." Auf der allgemeineren Ebene tut Henry Perowne, was wir alle zunehmend tun: "Er ist ein fügsamer Bürger, der zusieht, wie der Leviathan mächtiger wird, während er selbst in seinem Schatten Schutz sucht." Daß dabei Liberalität verlorengeht, ist ihm wohl bewußt. Aber die Angst um die Welt, die er liebt, und der unbedingte Wille, sie zu erhalten, lassen ihm keine andere Wahl.
Der Typus, den Henry Perowne verkörpert, ist von Richard Rorty schon vor mehr als anderthalb Jahrzehnten als "liberaler Ironiker" beschrieben worden, dem es weniger um Wahrheit als um die Vermeidung von Grausamkeit geht. Zum Rortyschen Ansatz paßt auch, daß Perowne ein glühender Verteidiger des Zufalls ist, der für ihn auch Freiheit bedeutet. Henry Perowne, dessen Bewußtseinsstrom in diesem Buch vorgeführt wird, ist dennoch alles andere als die Illustration einer philosophischen These. Daß Ian McEwan dieser, sein zehnter Roman nicht zum Thesenpapier geraten ist - nicht einmal in der langen Auseinandersetzung Perownes mit seiner Tochter Daisy um das Für und Wider eines Angriffs auf den Irak -, liegt daran, daß dieser Autor sich wie immer mehr um die Einzelheiten als ums ganz(e) Große kümmert und mehr um die Leute als um die Menschheit. Dem verdanken wir nicht nur die schon genannten Elogen auf den Wasserkocher und die Dusche, sondern auch ein schönes Bild vom Leviathan: "Ohne hinzusehen, findet er die Taste, um den Wagen zu sichern. In rascher Folge schließen die Türen mit einem kleinen, nachhallenden Klacken, vier Sechzehntelnoten, die ihn sanft einlullen. Ein uraltes Evolutionsdilemma: die Notwendigkeit zu schlafen, die Angst, gefressen zu werden - endlich durch Zentralverriegelung gelöst."
Daß die Zentralverriegelung diejenigen aussperrt, die sich dem Leviathan nicht unterwerfen, verschweigt Ian McEwan nicht. Mehrschichtigkeit ist überhaupt die Essenz dieses Romans, und ambivalent bleibt auch der Schluß, den man nicht als vorschnelle Versöhnung mißverstehen sollte. Nach dem Einbruch der Gewalt ist der Friede keineswegs bruchlos wiederhergestellt, auch wenn der Roman mit einer Geste der Liebe endet, bevor sich Perowne dem Schlaf und dem Vergessen überläßt. Die Erinnerung an alles, was seine Welt bedroht, wird nach dem Erwachen gewiß zurückkehren.
Ian McEwan: "Saturday". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 387 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2005Das Samstagsgefühl
Britische Mittelklasseidylle im Angesicht des Terrors: Ian McEwans Roman „Saturday”
Henry Perowne, der Neurochirurg, spielt an diesem Samstag Squash mit seinem Kollegen, dem Anästhesisten Jay Strauss. Perowne ist mit seinen 48 Jahren immer noch sehr sportlich und ein guter Squashspieler. Gegen Jay Strauss kann er normalerweise gut bestehen. Aber an diesem Samstag macht er keinen Punkt. Es fehlt ihm nicht an Kampfmoral, aber es will ihm auch nicht gelingen, sich auf den Sieg zu konzentrieren. Er ist fahrig. Irgendetwas lenkt ihn ab. Heute morgen, als er das erste Mal aufwachte, stand er auf und ging zum Fenster und da sah er am Londoner Nachthimmel ein Flugzeug mit einem brennenden Flügel den Flughafen Heathrow ansteuern. Erst musste er sich versichern, dass er nicht mehr träumte. Dann kam sofort die Reaktion: Flugzeug - Terrorattacke. Später hieß es in den Nachrichten: Entwarnung, nur ein Unfall, das Flugzeug konnte in Heathrow notlanden. Trotzdem hat ihn dieses Erlebnis verunsichert. Vielleicht ist er deshalb ein so schwacher Spieler.
Oder hatten ihn die Anti-Irakkriegsdemonstranten, die er auf dem Weg zum Squash aus seinem Mercedes 500 beobachten konnte, aus dem Tritt gebracht? Deren moralische Selbstgewissheit, das vollkommen Zweifelsfreie und Ungebrochene ihrer Parolen hatte ihn in der Tat verbittert. Millionen Menschen sind an diesem 15. Februar 2003 auf den Straßen Londons, um gegen die Interventionspolitik ihres Premierministers zu demonstrieren. „Nicht in meinem Namen” lautet ihr Slogan. Das schwirrt Perowne alles durch den Kopf, während Strauss ihn auf dem Spielfeld vorführt. Vor dem nächsten Spiel geht Perowne in die Umkleidekabine, spritzt sich Wasser ins Gesicht und sagt sich: Ich darf mich nicht ablenken lassen. Es geht um Sieg und Niederlage. Und, sich in eine Empörung steigernd, die ihn für die nächste Runde scharf macht: Es gehört zu meinen fundamentalen Freiheiten, „ein ganzes Universum öffentlicher Belange vergessen und ausradieren zu dürfen, um sich konzentrieren zu können”. Dann kehrt er in den Court zurück.
Verwundbares London
Der neue Roman „Saturday” des englischen Schriftstellers Ian McEwan (Diogenes Verlag, Zürich 2005, 393 Seiten, 19,90 Euro) ist ein politischer Roman, gerade indem er das Private feiert. Denn dieses Private - so die Prämisse des Romans - spielt sich ab in einer Welt, die seit dem 11. September 2001 eine andere geworden ist. Eine, in der das urbane Leben in den westlichen Hauptstädten ein bedrohtes ist. Und zwar bedroht in doppelter Weise: moralisch, weil die Metropolen in ihrer expansiven Güterproduktion, ihrem kommerziellen Glamour und der grellen Ausstellung ihrer Vergnügungslust für den islamistischen Fundamentalismus Inbegriffe westlicher Dekadenz sind - und damit verächtlich. Aber auch ganz konkret bedroht als Zentren der Macht, die mit ihrer komplexen Dichte besonders verwundbar durch Terroranschläge sind. „London”, sinniert Henry Perowne, an seinem Schlafzimmerfenster stehend, „London, sein kleiner, offen vor ihm liegender, unmöglich zu verteidigender Ausschnitt wartet wie hundert andere Städte auf seine Bombe. Die Rush-hour böte eine passende Gelegenheit.” Und später: „Die Behörden sind einer Meinung, der Anschlag ist unausweichlich.”
In England ist McEwans Roman vor den Anschlägen vom 7. Juli erschienen. Aber es wäre unsinnig, deshalb zu sagen, dass der Roman nun durch diese und die gestrigen Anschläge bestätigt worden sei. McEwan wollte kein Prophet sein. Er wollte nur erzählen, wie sich das Leben unter einer latenten Bedrohung verändert - und dass dieses Leben es wert ist, der Bedrohung die Stirn zu bieten. Denn dieses Leben ist, gerade in seinem Selbstgenuss, nicht dekadent, sondern human. Und zu seiner verteidigenswerten Freiheit gehört auch, dass man sich trotz der Weltpolitik auf ein Squashspiel konzentrieren darf. Dass nicht alles Politik ist. Schon gar nicht an einem Samstag.
Natürlich lohnt es sich auch, an einem Dienstag zu leben oder an einem Mittwoch. Aber der Samstag ist doch etwas Besonderes. Der an entspanntem Glück reichste Tag. Schon wenn man morgens aufwacht in der Großstadt, kann man hören, dass draußen Samstag ist. Und das ist ein gutes Gefühl. Ian McEwans Roman erzählt auf beglückende Art von diesem Samstagsgefühl.
Henry Perowne ist verheiratet: „Was für ein Glück, dass die Frau, die er liebt, auch seine Ehefrau ist.” Noch heute morgen hat er mit ihr geschlafen - und das ist für ihn nicht weniger euphorisierend als vor fünfundzwanzig Jahren. Er ist Neurochirurg: ein schöner, ein würdiger Beruf. Er hat einen Sohn, der Bluesgitarrist ist, und eine Tochter, die in Paris studiert und bald ihren ersten Gedichtband herausbringen wird. An diesem Abend wird sie zu Besuch nach London kommen, Henry ist schon voller Vorfreude. Er, der während seiner Operationen gerne Mozart-Trios laufen lässt, ist ein kluger, ein kultivierter Mann, auch wenn er mit Romanen nichts anfangen kann und sein ungebrochen naturwissenschaftlicher Positivismus vielleicht allzu sehr 19. Jahrhundert ist - das reibt ihm jedenfalls seine intellektuelle Tochter (Paris!) immer unter die Nase, und irgendwie sieht er es auch ein - und wenn auch nur, weil die Kritik von seiner Tochter kommt. Es ist ein urbanes, ein saturiertes, aber keineswegs abgestorbenes Leben, das die Perownes führen. Die Arbeit, die Genüsse, der Luxus, die Treue, die Feinfühligkeit, Nachdenklichkeit, die Weichheit und die Verantwortung - das ist alles in stimmiger Balance.
„Saturday” stellt manches auf den Kopf, was wir, in einer Ästhetik der Negativität sozialisierte Leser, gewöhnt sind: Ja, es gibt ein Mittelklasseglück. Ja, die Ehe kann ungeahnte Glücksmöglichkeiten haben. Ja, die Welt ist gar nicht so schlecht, wenn man nicht immer nur im Großen denkt, sondern den Blick aufs Kleine richtet (und nur im Kleinen vollzieht sich unser Leben). Und: Ja, Konsum ist keineswegs des Teufels, sondern ein Medium der Humanität.
Ian McEwan ist das seltene Kunststück gelungen, einen selbstzufriedenen Roman zu schreiben, der an seinem Wohlgefühl ästhetisch keinen Schaden nimmt. Natürlich weiß McEwan, dass dieses Wohlgefühl problematisch ist, ja geradezu provokant - und deswegen grinst dieses Buch den Leser manchmal auch mit einer geradezu polemischherausfordernden Unschuld an.
Henry Perowne ist ein guter Koch. Heute Abend will er ein Fisch-Stew kochen. Jetzt kauft er die Zutaten ein und brummt geradezu vor Freude über all die köstlichen Produkte, die der Fischhändler anbietet. Dabei denkt er: „Kommerzieller Wohlstand ist robust und wird niemals klein beigeben. Nicht der Rationalismus besiegt die religiösen Fanatiker, sondern der gewöhnliche Einkauf mit allem, was dazugehört - Jobs unter anderem, aber auch Frieden und erfüllbare Wünsche, Verheißungen, die in dieser Welt wahr werden und nicht erst in der nächsten. Lieber einkaufen als beten.”
Darf man so reden? Ist das nicht ein schrecklich simples Weltbild und sträflich naiv? Muss sich, wer den eigenen „way of life” so selbstherrlich verteidigt, noch wundern, wenn er Gegenreaktionen in Form von Bomben provoziert? Nun, „Saturday” ist gewiss kein Buch des kulturellen Dialogs, es ist aber auch kein Wahlkampfprogramm, sondern ein Roman. Und da ist dieser Satz „Lieber einkaufen als beten” ein Satz aus Henry Perownes Gedankenstrom beim Einkaufen, der jenseits jeder politischen Analyse die Konkretheit unseres Lebensgefühls und unserer Werte sehr wahrhaftig trifft. (Im Gespräch mit seiner Tochter würde Perowne so etwas nie sagen!)
Gleichwohl: „Saturday” ist ein ideologischer Roman - und gerade darin ist er herzerfrischend unverstellt. „Es ist wahrlich etwas Erhabenes um diese Auffassung vom Leben”, denkt Perowne, als er am Samstag das zweite Mal aufwacht. Er ist nur halb wach, noch mehr im Traum als wach, und der Satz legt sich über ihn wie eine wohlige Beschreibung seines eigenen Lebens. Dann wiederholt er ihn noch einmal, immer wacher werdend, und jetzt hat der Satz schon die Qualität einer Einsicht in das alltägliche Glück des Lebens, das keine Überhöhungen braucht, um gerechtfertigt zu sein, weder Opfertod noch Auserwählung. Und erst als Perwone den Satz ein drittes Mal wiederholt, jetzt ist er endlich ganz wach, geht ihm auf, dass er ein Zitat aus Charles Darwins „Über den Ursprung der Arten” ist. Da ist die eigene Zufriedenheit und Lebensweise ganz unschuldig zu evolutionstheoretischem Adel gekommen: „Es ist wahrlich etwas Erhabenes um diese Auffassung vom Leben.”
Glück - Monopol des Westens
Das Samstagsgefühl - monumentalisiert zu einer ganzen Weltanschauung. Das ist grandios, und in dieser grandiosen Verklärung der offenen Gesellschaft liegt auch eine ziemliche Provokation. Die Provokation ist dabei gar nicht der ostentative Gestus: Seht her, wie zufrieden wir mit unserem gottlosen way of life sind, sondern dass dieser way of life nicht als politisches System, gesellschaftliche Verfassung oder spezifische Weltanschauung daherkommt, sondern als Lebensvollzug selbst, als die - ontologisch gesprochen - naturgemäße Form, in der das Glück ins Sein tritt.
Der Fundamentalist argumentiert mit Wahrheitsansprüchen. Das ist dem modernen Relativisten nicht möglich. Was hat er dann den letzten Wahrheiten des Fundamentalismus entgegenzustellen? Nur den innerweltlichen Nachweis des größeren Glücks. In gewisser Weise hat Ian McEwan das Glück für die westliche Moderne monopolisiert. Das Samstagsgefühl ist so gesehen eine Kampfansage - das dargestellte Glück selbst ist die Provokation: Der universalistische Anspruch dieses Samstagsgefühls.
Dieses Buch ist kein Gottes-, es ist ein Glücksbeweis. Es ist dabei selbst das Glück, von dem es erzählt. Und zwar so, dass es alles individuelle Unglück und jede Traurigkeit und auch das Leid nicht ignoriert, sondern in sich aufnimmt. Nehmen Sie sich einen Samstag frei und lesen Sie diesen Roman auf einen Rutsch. Auch wenn Sie sich ärgern, Sie werden es genießen.
IJOMA MANGOLD
„Henry findet, dass Städte ein Erfolg sind, eine geniale Erfindung, ein organisches Meisterwerk - wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die Errungenschaften der Jahrhunderte”: Londoner Straßenzug
Foto: Michael Boys/ Corbis
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Britische Mittelklasseidylle im Angesicht des Terrors: Ian McEwans Roman „Saturday”
Henry Perowne, der Neurochirurg, spielt an diesem Samstag Squash mit seinem Kollegen, dem Anästhesisten Jay Strauss. Perowne ist mit seinen 48 Jahren immer noch sehr sportlich und ein guter Squashspieler. Gegen Jay Strauss kann er normalerweise gut bestehen. Aber an diesem Samstag macht er keinen Punkt. Es fehlt ihm nicht an Kampfmoral, aber es will ihm auch nicht gelingen, sich auf den Sieg zu konzentrieren. Er ist fahrig. Irgendetwas lenkt ihn ab. Heute morgen, als er das erste Mal aufwachte, stand er auf und ging zum Fenster und da sah er am Londoner Nachthimmel ein Flugzeug mit einem brennenden Flügel den Flughafen Heathrow ansteuern. Erst musste er sich versichern, dass er nicht mehr träumte. Dann kam sofort die Reaktion: Flugzeug - Terrorattacke. Später hieß es in den Nachrichten: Entwarnung, nur ein Unfall, das Flugzeug konnte in Heathrow notlanden. Trotzdem hat ihn dieses Erlebnis verunsichert. Vielleicht ist er deshalb ein so schwacher Spieler.
Oder hatten ihn die Anti-Irakkriegsdemonstranten, die er auf dem Weg zum Squash aus seinem Mercedes 500 beobachten konnte, aus dem Tritt gebracht? Deren moralische Selbstgewissheit, das vollkommen Zweifelsfreie und Ungebrochene ihrer Parolen hatte ihn in der Tat verbittert. Millionen Menschen sind an diesem 15. Februar 2003 auf den Straßen Londons, um gegen die Interventionspolitik ihres Premierministers zu demonstrieren. „Nicht in meinem Namen” lautet ihr Slogan. Das schwirrt Perowne alles durch den Kopf, während Strauss ihn auf dem Spielfeld vorführt. Vor dem nächsten Spiel geht Perowne in die Umkleidekabine, spritzt sich Wasser ins Gesicht und sagt sich: Ich darf mich nicht ablenken lassen. Es geht um Sieg und Niederlage. Und, sich in eine Empörung steigernd, die ihn für die nächste Runde scharf macht: Es gehört zu meinen fundamentalen Freiheiten, „ein ganzes Universum öffentlicher Belange vergessen und ausradieren zu dürfen, um sich konzentrieren zu können”. Dann kehrt er in den Court zurück.
Verwundbares London
Der neue Roman „Saturday” des englischen Schriftstellers Ian McEwan (Diogenes Verlag, Zürich 2005, 393 Seiten, 19,90 Euro) ist ein politischer Roman, gerade indem er das Private feiert. Denn dieses Private - so die Prämisse des Romans - spielt sich ab in einer Welt, die seit dem 11. September 2001 eine andere geworden ist. Eine, in der das urbane Leben in den westlichen Hauptstädten ein bedrohtes ist. Und zwar bedroht in doppelter Weise: moralisch, weil die Metropolen in ihrer expansiven Güterproduktion, ihrem kommerziellen Glamour und der grellen Ausstellung ihrer Vergnügungslust für den islamistischen Fundamentalismus Inbegriffe westlicher Dekadenz sind - und damit verächtlich. Aber auch ganz konkret bedroht als Zentren der Macht, die mit ihrer komplexen Dichte besonders verwundbar durch Terroranschläge sind. „London”, sinniert Henry Perowne, an seinem Schlafzimmerfenster stehend, „London, sein kleiner, offen vor ihm liegender, unmöglich zu verteidigender Ausschnitt wartet wie hundert andere Städte auf seine Bombe. Die Rush-hour böte eine passende Gelegenheit.” Und später: „Die Behörden sind einer Meinung, der Anschlag ist unausweichlich.”
In England ist McEwans Roman vor den Anschlägen vom 7. Juli erschienen. Aber es wäre unsinnig, deshalb zu sagen, dass der Roman nun durch diese und die gestrigen Anschläge bestätigt worden sei. McEwan wollte kein Prophet sein. Er wollte nur erzählen, wie sich das Leben unter einer latenten Bedrohung verändert - und dass dieses Leben es wert ist, der Bedrohung die Stirn zu bieten. Denn dieses Leben ist, gerade in seinem Selbstgenuss, nicht dekadent, sondern human. Und zu seiner verteidigenswerten Freiheit gehört auch, dass man sich trotz der Weltpolitik auf ein Squashspiel konzentrieren darf. Dass nicht alles Politik ist. Schon gar nicht an einem Samstag.
Natürlich lohnt es sich auch, an einem Dienstag zu leben oder an einem Mittwoch. Aber der Samstag ist doch etwas Besonderes. Der an entspanntem Glück reichste Tag. Schon wenn man morgens aufwacht in der Großstadt, kann man hören, dass draußen Samstag ist. Und das ist ein gutes Gefühl. Ian McEwans Roman erzählt auf beglückende Art von diesem Samstagsgefühl.
Henry Perowne ist verheiratet: „Was für ein Glück, dass die Frau, die er liebt, auch seine Ehefrau ist.” Noch heute morgen hat er mit ihr geschlafen - und das ist für ihn nicht weniger euphorisierend als vor fünfundzwanzig Jahren. Er ist Neurochirurg: ein schöner, ein würdiger Beruf. Er hat einen Sohn, der Bluesgitarrist ist, und eine Tochter, die in Paris studiert und bald ihren ersten Gedichtband herausbringen wird. An diesem Abend wird sie zu Besuch nach London kommen, Henry ist schon voller Vorfreude. Er, der während seiner Operationen gerne Mozart-Trios laufen lässt, ist ein kluger, ein kultivierter Mann, auch wenn er mit Romanen nichts anfangen kann und sein ungebrochen naturwissenschaftlicher Positivismus vielleicht allzu sehr 19. Jahrhundert ist - das reibt ihm jedenfalls seine intellektuelle Tochter (Paris!) immer unter die Nase, und irgendwie sieht er es auch ein - und wenn auch nur, weil die Kritik von seiner Tochter kommt. Es ist ein urbanes, ein saturiertes, aber keineswegs abgestorbenes Leben, das die Perownes führen. Die Arbeit, die Genüsse, der Luxus, die Treue, die Feinfühligkeit, Nachdenklichkeit, die Weichheit und die Verantwortung - das ist alles in stimmiger Balance.
„Saturday” stellt manches auf den Kopf, was wir, in einer Ästhetik der Negativität sozialisierte Leser, gewöhnt sind: Ja, es gibt ein Mittelklasseglück. Ja, die Ehe kann ungeahnte Glücksmöglichkeiten haben. Ja, die Welt ist gar nicht so schlecht, wenn man nicht immer nur im Großen denkt, sondern den Blick aufs Kleine richtet (und nur im Kleinen vollzieht sich unser Leben). Und: Ja, Konsum ist keineswegs des Teufels, sondern ein Medium der Humanität.
Ian McEwan ist das seltene Kunststück gelungen, einen selbstzufriedenen Roman zu schreiben, der an seinem Wohlgefühl ästhetisch keinen Schaden nimmt. Natürlich weiß McEwan, dass dieses Wohlgefühl problematisch ist, ja geradezu provokant - und deswegen grinst dieses Buch den Leser manchmal auch mit einer geradezu polemischherausfordernden Unschuld an.
Henry Perowne ist ein guter Koch. Heute Abend will er ein Fisch-Stew kochen. Jetzt kauft er die Zutaten ein und brummt geradezu vor Freude über all die köstlichen Produkte, die der Fischhändler anbietet. Dabei denkt er: „Kommerzieller Wohlstand ist robust und wird niemals klein beigeben. Nicht der Rationalismus besiegt die religiösen Fanatiker, sondern der gewöhnliche Einkauf mit allem, was dazugehört - Jobs unter anderem, aber auch Frieden und erfüllbare Wünsche, Verheißungen, die in dieser Welt wahr werden und nicht erst in der nächsten. Lieber einkaufen als beten.”
Darf man so reden? Ist das nicht ein schrecklich simples Weltbild und sträflich naiv? Muss sich, wer den eigenen „way of life” so selbstherrlich verteidigt, noch wundern, wenn er Gegenreaktionen in Form von Bomben provoziert? Nun, „Saturday” ist gewiss kein Buch des kulturellen Dialogs, es ist aber auch kein Wahlkampfprogramm, sondern ein Roman. Und da ist dieser Satz „Lieber einkaufen als beten” ein Satz aus Henry Perownes Gedankenstrom beim Einkaufen, der jenseits jeder politischen Analyse die Konkretheit unseres Lebensgefühls und unserer Werte sehr wahrhaftig trifft. (Im Gespräch mit seiner Tochter würde Perowne so etwas nie sagen!)
Gleichwohl: „Saturday” ist ein ideologischer Roman - und gerade darin ist er herzerfrischend unverstellt. „Es ist wahrlich etwas Erhabenes um diese Auffassung vom Leben”, denkt Perowne, als er am Samstag das zweite Mal aufwacht. Er ist nur halb wach, noch mehr im Traum als wach, und der Satz legt sich über ihn wie eine wohlige Beschreibung seines eigenen Lebens. Dann wiederholt er ihn noch einmal, immer wacher werdend, und jetzt hat der Satz schon die Qualität einer Einsicht in das alltägliche Glück des Lebens, das keine Überhöhungen braucht, um gerechtfertigt zu sein, weder Opfertod noch Auserwählung. Und erst als Perwone den Satz ein drittes Mal wiederholt, jetzt ist er endlich ganz wach, geht ihm auf, dass er ein Zitat aus Charles Darwins „Über den Ursprung der Arten” ist. Da ist die eigene Zufriedenheit und Lebensweise ganz unschuldig zu evolutionstheoretischem Adel gekommen: „Es ist wahrlich etwas Erhabenes um diese Auffassung vom Leben.”
Glück - Monopol des Westens
Das Samstagsgefühl - monumentalisiert zu einer ganzen Weltanschauung. Das ist grandios, und in dieser grandiosen Verklärung der offenen Gesellschaft liegt auch eine ziemliche Provokation. Die Provokation ist dabei gar nicht der ostentative Gestus: Seht her, wie zufrieden wir mit unserem gottlosen way of life sind, sondern dass dieser way of life nicht als politisches System, gesellschaftliche Verfassung oder spezifische Weltanschauung daherkommt, sondern als Lebensvollzug selbst, als die - ontologisch gesprochen - naturgemäße Form, in der das Glück ins Sein tritt.
Der Fundamentalist argumentiert mit Wahrheitsansprüchen. Das ist dem modernen Relativisten nicht möglich. Was hat er dann den letzten Wahrheiten des Fundamentalismus entgegenzustellen? Nur den innerweltlichen Nachweis des größeren Glücks. In gewisser Weise hat Ian McEwan das Glück für die westliche Moderne monopolisiert. Das Samstagsgefühl ist so gesehen eine Kampfansage - das dargestellte Glück selbst ist die Provokation: Der universalistische Anspruch dieses Samstagsgefühls.
Dieses Buch ist kein Gottes-, es ist ein Glücksbeweis. Es ist dabei selbst das Glück, von dem es erzählt. Und zwar so, dass es alles individuelle Unglück und jede Traurigkeit und auch das Leid nicht ignoriert, sondern in sich aufnimmt. Nehmen Sie sich einen Samstag frei und lesen Sie diesen Roman auf einen Rutsch. Auch wenn Sie sich ärgern, Sie werden es genießen.
IJOMA MANGOLD
„Henry findet, dass Städte ein Erfolg sind, eine geniale Erfindung, ein organisches Meisterwerk - wie um Korallenriffe drängen sich Millionen um die Errungenschaften der Jahrhunderte”: Londoner Straßenzug
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»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern