"Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff." Aber als der Literaturprofessor David Lurie aus Kapstadt eine Affäire mit einer Studentin anfängt, gerät sein gleichförmiges Leben aus den Fugen. Die Beziehung wird bekannt, er wird in Schande entlassen. Lurie zieht zu seiner Tochter auf's Land und muß dort miterleben, wie sie von drei Männern, Farbige, brutal überfallen und vergewaltigt wird. Mit allen Mitteln des Gesetzes versucht er, diese Schande zu ahnden.
buecher-magazin.deDavid Lurie, Literaturprofessor aus Johannesburg, verführt eine Studentin. Es kommt heraus, er fliegt von der Uni. Er besucht seine Tochter Lucy in der Provinz, irgendwo auf einer Farm in Ostkap, hilft ihr bei der Landarbeit, unterstützt eine Bekannte in einer Tierklinik. Eines Tages brechen drei junge Schwarze in der Farm ein, schlagen ihn nieder, vergewaltigen Lucy. Der Nachbar, der Partner Petrus, ist nicht da. Warum? Lucy wird schwanger. Das gemeinsam Durchlittene führt zur Entfremdung von Tochter und Vater. Disgrace, Schande wie Ungnade.
Ein großartiger, quälender, ergreifender und verstörender Roman vom südafrikanischen Nobelpreisträger J. M. Coetzee. Ein Roman, der einen in der Tragödie des Menschlichen nicht mehr loslässt. Was auch Christian Brückner zu verdanken ist. Seine so beeindruckende Stimme zielt nicht auf Effekt, sondern auf die intellektuelle wie emotionale Durchdringung des zu Lesenden. Wie Brückner diese ambivalente Gestalt Lurie zum Leben erweckt, einem nahebringt, ohne anbiedernd zu wirken, ist überwältigend. Wie Brückner Petrus' fragwürdigen Charakter wiedergibt, ist außergewöhnlich. Seine Interpretation dieses grandiosen Romans ist Kunst. Große Kunst.
© BÜCHERmagazin, Michael Knoll (kn)
Ein großartiger, quälender, ergreifender und verstörender Roman vom südafrikanischen Nobelpreisträger J. M. Coetzee. Ein Roman, der einen in der Tragödie des Menschlichen nicht mehr loslässt. Was auch Christian Brückner zu verdanken ist. Seine so beeindruckende Stimme zielt nicht auf Effekt, sondern auf die intellektuelle wie emotionale Durchdringung des zu Lesenden. Wie Brückner diese ambivalente Gestalt Lurie zum Leben erweckt, einem nahebringt, ohne anbiedernd zu wirken, ist überwältigend. Wie Brückner Petrus' fragwürdigen Charakter wiedergibt, ist außergewöhnlich. Seine Interpretation dieses grandiosen Romans ist Kunst. Große Kunst.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Der Schock darüber, gehasst zu werden
Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht. "Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden", lautet der ironische Kommentar ihres so liberalen wie fürsorglichen Vaters, der den Kommentar deshalb für sich behält.
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
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Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht. "Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden", lautet der ironische Kommentar ihres so liberalen wie fürsorglichen Vaters, der den Kommentar deshalb für sich behält.
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
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»Die fortwirkende Erbschaft von Hass und Rachsucht, die das formelle Ende der Apartheid noch lange überdauern wird, beschwört J. M. Coetzee in lakonischer Sprache - und mit der Bannkraft von Weltliteratur.« (Der Spiegel)
Karg, kalt, meisterlich: Im letzten Jahr des ausgehenden Jahrhunderts ist Coetzee der Jahrhundertroman gelungen. Heinz Strunk Die Zeit 20141127