"Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff." Aber als der Literaturprofessor David Lurie aus Kapstadt eine Affäire mit einer Studentin anfängt, gerät sein gleichförmiges Leben aus den Fugen. Die Beziehung wird bekannt, er wird in Schande entlassen. Lurie zieht zu seiner Tochter auf's Land und muß dort miterleben, wie sie von drei Männern, Farbige, brutal überfallen und vergewaltigt wird. Mit allen Mitteln des Gesetzes versucht er, diese Schande zu ahnden.
buecher-magazin.deDavid Lurie, Literaturprofessor aus Johannesburg, verführt eine Studentin. Es kommt heraus, er fliegt von der Uni. Er besucht seine Tochter Lucy in der Provinz, irgendwo auf einer Farm in Ostkap, hilft ihr bei der Landarbeit, unterstützt eine Bekannte in einer Tierklinik. Eines Tages brechen drei junge Schwarze in der Farm ein, schlagen ihn nieder, vergewaltigen Lucy. Der Nachbar, der Partner Petrus, ist nicht da. Warum? Lucy wird schwanger. Das gemeinsam Durchlittene führt zur Entfremdung von Tochter und Vater. Disgrace, Schande wie Ungnade.
Ein großartiger, quälender, ergreifender und verstörender Roman vom südafrikanischen Nobelpreisträger J. M. Coetzee. Ein Roman, der einen in der Tragödie des Menschlichen nicht mehr loslässt. Was auch Christian Brückner zu verdanken ist. Seine so beeindruckende Stimme zielt nicht auf Effekt, sondern auf die intellektuelle wie emotionale Durchdringung des zu Lesenden. Wie Brückner diese ambivalente Gestalt Lurie zum Leben erweckt, einem nahebringt, ohne anbiedernd zu wirken, ist überwältigend. Wie Brückner Petrus' fragwürdigen Charakter wiedergibt, ist außergewöhnlich. Seine Interpretation dieses grandiosen Romans ist Kunst. Große Kunst.
© BÜCHERmagazin, Michael Knoll (kn)
Ein großartiger, quälender, ergreifender und verstörender Roman vom südafrikanischen Nobelpreisträger J. M. Coetzee. Ein Roman, der einen in der Tragödie des Menschlichen nicht mehr loslässt. Was auch Christian Brückner zu verdanken ist. Seine so beeindruckende Stimme zielt nicht auf Effekt, sondern auf die intellektuelle wie emotionale Durchdringung des zu Lesenden. Wie Brückner diese ambivalente Gestalt Lurie zum Leben erweckt, einem nahebringt, ohne anbiedernd zu wirken, ist überwältigend. Wie Brückner Petrus' fragwürdigen Charakter wiedergibt, ist außergewöhnlich. Seine Interpretation dieses grandiosen Romans ist Kunst. Große Kunst.
© BÜCHERmagazin, Michael Knoll (kn)
Karg, kalt, meisterlich: Im letzten Jahr des ausgehenden Jahrhunderts ist Coetzee der Jahrhundertroman gelungen. Heinz Strunk Die Zeit 20141127
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2000Der alte Hund und das Mädchen
„Schande”: Der Südafrikaner J. M. Coetzee hat einen Roman von elementarer Wucht geschrieben
„Unsere Freundinnen und Frauen”, schrieb vor kurzem ein südafrikanischer Staatsbeamter in einer E-mail, „leben in der ständigen Gefahr, von einem aidsinfizierten Kaffer vergewaltigt zu werden. ” Die Botschaft ging versehentlich an den falschen Adressaten – nur deshalb wurde sie öffentlich. Präsident Mbeki zitierte den Satz jetzt am Ende einer wirtschaftspolitischen Grundsatzrede im Parlament, um vor dem noch immer grassierenden Rassismus zu warnen. Die Opposition aber hielt dagegen: Messe Mbeki einem durchgeknallten Extremisten nicht zu viel Bedeutung bei, wenn es gleichzeitig überall im Land friedliche Kooperationen zwischen den Hautfarben gebe?
Wer hat Recht? Ist Südafrika ein Land, wo der Rassismus zwar nicht mehr in der Verfassung, aber immer noch in den Köpfen regiert? Oder ist das Land ein aufstrebender, hoffnungsvoller junger Staat, der sich zehn Jahre nach der Apartheid und nach der Arbeit der Wahrheitskommission anschickt, seine Vergangenheit zu überwinden? Anders gesagt: Ist das südafrikanische Thema Nummer eins, die enorm hohe Kriminalitätsrate, als Resultat der Geschichte zu verstehen, oder handelt es sich schlicht um Verbrechen, für die die Täter allein verantwortlich sind?
Der 1940 geborene, südafrikanische Schriftsteller J. M. Coetzee, noch nie ein Pamphletist und trotzdem der hartnäckigste afrikanische Fragensteller an den verschlungenen Frontlinien des Postkolonialismus, hat einen Roman geschrieben, der sich genau zwischen solche Stühle setzt. Wie kann man in Südafrika zusammenleben, fragt er mit solcher Wucht, dass es einem auch im guten, alten Europa den Atem verschlägt.
„Schande”, im Original 1999 veröffentlicht und mit dem Booker-Prize ausgezeichnet, bei uns soeben erschienen, ist Coetzees bestes Buch, ein zwar schmales, aber doch monumentales und erschütterndes Werk, das ganz für sich steht. Ein Buch, das zeigt, was Literatur sein kann: eine Sprache, die mehr zu sagen vermag als alle anderen. Sie werden dieses Buch nicht vergessen, denn Sie werden hier etwas erfahren, das Sie vorher nicht erfahren haben!
Inhaltlich geht es um Missbrauch und Vergewaltigung. Der 52-jährige David Lurie, Literaturprofessor in Kapstadt (wie sein Erfinder), hat etwas Abstoßendes, Kaltes – ein Lurch. Richtig rege scheint nur der Sexualtrieb, den er regelmäßig bei einer exotischen Prostituierten abkühlt. Als sie ihn meidet, drängt er einer hübschen Studentin ein Verhältnis auf, sie lässt es geschehen, zeigt ihn dann aber an. Der Mann und das Mädchen, der Präsident und die Praktikantin, der Vater und die Tochter – das alte Thema, das seit einigen Jahren als sexueller Missbrauch neue Brisanz bekommen hat. Der Text zum Thema war David Mamets „Oleanna”. Coetzee lässt ihn von Anfang an weit hinter sich.
Vor dem universitären Untersuchungsausschuss verweigert Lurie nicht das Schuldbekenntnis, aber die Reue. Daraufhin wird er entlassen und muss ohne Bezüge weiterleben. Er zieht sich zu seiner lesbischen, unattraktiven Tochter Lucy zurück, die allein und von Ackerbau und Hundepension auf dem Land lebt. Ihr Nachbar ist Petrus, ein schwarzer Bauer. Er weiß seine gerade errungene Unabhängigkeit geschickt zu festigen.
Drei Schwarze vergewaltigen Lucy, während sie Lurie im Klo eingesperrt haben, sie fackeln ihm außerdem die Haare ab und erschießen die Hunde. Das Geschehen ist eine Umkehrung des ersten Teils, jetzt ist Luries Tochter das Opfer. Das Ergebnis ist aber ähnlich: Während er in Schande lebt, ist sie geschändet. Der Jüngste der drei, fast noch ein Kind, erweist sich als ein Verwandter von Petrus. Lucy lebt also in ständiger Gefahr. Trotzdem will sie nicht fortgehen und auch niemanden anklagen. Sie glaubt den persönlichen Hass der Täter gespürt zu haben, deshalb hält sie die Vergewaltigung für eine private Angelegenheit: „Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine”, sagt sie. „Und dieser Ort wäre?”, fragt Lurie. „Dieser Ort ist Südafrika. ” Sind staatliche Institutionen für Kategorien wie Sühne tatsächlich nicht zuständig?
Lucy geht noch weiter: Sie unterstellt sich Petrus’ Schutz, nachdem sich herausstellt, dass sie schwanger geworden ist. Wie Lurie lebt Lucy (wenn auch schuldlos) jetzt also offiziell „in Schande”. Und sie rechtfertigt das. Die Vergewaltigung sieht sie als „den Preis, den man zahlen muss, um bleiben zu dürfen”. Lucy ist also bereit, das Verbrechen an ihr als Ergebnis der Geschichte ihres Landes zu begreifen.
Sie schickt sich in ein Leben „ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde”. „Wie ein Hund”, sagt Lurie. Er kämpft gegen diese Haltung und entfremdet sich darüber immer mehr von seiner Tochter, wobei auch unausgesprochene, sexuelle Komponenten der Beziehung eine Rolle spielen.
Aber auch Lurie erniedrigt sich. Der Liebhaber schöner Frauen findet eine Aufgabe im Einschläfern und Entsorgen herrenloser Hunde – er geht ihr mit fast religiöser Hingabe nach – und beginnt ein Verhältnis zur extrem unattraktiven Tierheimmutter. Doch hier bei den Hunden, in den Armen einer Frau, die er nicht begehrt, findet Lurie erstmals so etwas wie eine Antwort.
Soweit das Geschehen. Die bebende Wucht von „Schande” vermittelt sich über den Inhalt allerdings nur bedingt, die – auch politische – Bedeutung des Buches liegt auf einer anderen Ebene. Coetzee entfaltet seine Geschichte in einem einfachen, harten Idiom, das ist nackte, höchst reduzierte Prosa. Vor allem durch diese Sprache wirkt das Buch über weite Teile wie ein realistischer Roman aus einem Guss, der mit seltener Intensität sein Thema behandelt.
In früheren Romanen dagegen hat Coetzee durch postmoderne Schreibverfahren auf ein Dilemma reagiert, auf das er sich als Schriftsteller durch den Staat „gepfählt” sah: „entweder ignoriert er dessen Obszönitäten, oder er reproduziert sie”. Ist das nur die alte Gegenüberstellung von l’art pour l’art und literature engagée? Nein, denn eine Gesellschaft, die jenseits des Kolonialismus sein will, muss auch dessen Formensprache hinter sich lassen, so Coetzees Überzeugung. Die Aufsplitterung in verschiedene Metafiktionen gab für ihn in dieser Situation einerseits der Literatur ihre Eigenständigkeit, andererseits setzte er sich so von der westlichen, am Paradigma des Realismus entlangschreibenden Literatur ab. Auf diesem Weg hat Coetzee die autoritäre Position des Autors – und damit auch dessen Definitionsmacht über die Wirklichkeit, die umgekehrt immer den Reflex erzeugt, die Literatur an der Wirklichkeit zu messen – aufgegeben und ist damit einer der wichtigsten postkolonialen Romanciers geworden.
Nun aber schreibt er eine geradlinige Geschichte mit auktorialem Erzähler. Vereinfachung ist damit allerdings nur scheinbar verbunden. Denn Coetzee schafft das Kunststück, eine Geschichte einfach zu erzählen, ohne gegenüber früheren Romanen den Bedeutungsraum einzugrenzen. Und das macht den Rang seines Buches aus.
Ein einfaches Beispiel: „Vorsicht, es ist heiß”, sagt beim Abendessen die Mutter des von Lurie verführten Mädchens zu ihm. Sie meint den Teller mit Eintopf. Coetzee fährt fort: „Das sind ihre einzigen Worte an ihn. ” Damit ist nicht nur die Beziehung Luries zu der Mutter, sondern auch zu dem Mädchen definiert, der ganze Bedeutungsraum von heiß und kalt, in dem Lurie agiert, ist angesprochen.
Fast alles, was geschieht, wird in diesem Buch so zu Bruchstücken eines gigantischen Dramas, in dem alles seinen Sinn hat, den wir aber nicht kennen. Coetzee zeigt uns durch die Namen der Figuren, durch Zitate, die bis zu „König Ödipus” zurückreichen, durch Luries Plan einer Oper, durch Verdichtungen, Doppelsinn, vielfältige Anspielungen und Bezüge als Mitspieler in einer Tragödie, die seit den ersten Menschheitstagen aufgeführt wird und bis heute dauert. David Lurie verbrennt sich nicht die Finger an dem Teller, aber sein Kopf geht in Flammen auf.
Coetzee erforscht Beziehungsgesetze, die weiter zurückreichen, als wir uns träumen lassen. Der Missbrauch, die Vergewaltigung, aber auch das Verhältnis von Vater und Tochter, sind für ihn nur Extremfälle, die deutlich machen, wie wir uns verhalten. Coetzee erforscht die Gesetze von Täter und Opfer mit einer Insistenz, die an Dostojewski erinnert (über den er einen Roman geschrieben hat).
Er führt dabei nur scheinbar überkommene Kategorien wie Scham, Reue, Schuld, Sühne und eben die „Schande”, die seinem Buch den Titel gegeben hat, in den Raum der politischen Diskussion zurück. Was schändet uns, wen schänden wir? Lucy ist der Überzeugung, dass eine säkulare Gerichtsbarkeit nicht für Reue zuständig sein kann. Will Coetzee aber gerade das erreichen? Will man aus „Schande” einen Zukunftsentwurf herauslesen, dann diesen: Nur wer sich auf die Ebene von Schande und Reue, Schuld und Sühne begibt, gibt dem Zusammenleben eine Chance. Wahrscheinlicher aber ist er der Meinung, dass wir für immer aus dem Paradies ausgeschlossen sind.
Hunde sind die heimlichen Helden des Buches. Lurie kommt nicht nur, wie seine Tochter, auf den Hund, er nähert sich den Hunden auch als deren Sterbehelfer an, fast wird er am Ende einer von ihnen. „Wie ein Hund”, fragt Lurie seine Tochter. „Ja”, sagt sie, „wie ein Hund. ” Zu Anfang hatte Lurie ihr von einem Golden Retriever erzählt, der immer dann geschlagen wurde, wenn er sexuell erregt war. „Das Schändliche an dem Schauspiel war, dass der Hund anfing, seine Natur zu hassen. An diesem Punkt wäre es besser gewesen, ihn zu erschießen. ” Die neue Welt erfordert den Tod der alten, könnte man das übersetzen. „Schande” ist ein Alterswerk, weise und souverän, aber auch voller Angst vor Einsamkeit und Sterben.
PETER MICHALZIK
J. M. COETZEE: Schande. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000. 288 S. , 38 Mark. (Erscheint am 21. 2. )
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
„Schande”: Der Südafrikaner J. M. Coetzee hat einen Roman von elementarer Wucht geschrieben
„Unsere Freundinnen und Frauen”, schrieb vor kurzem ein südafrikanischer Staatsbeamter in einer E-mail, „leben in der ständigen Gefahr, von einem aidsinfizierten Kaffer vergewaltigt zu werden. ” Die Botschaft ging versehentlich an den falschen Adressaten – nur deshalb wurde sie öffentlich. Präsident Mbeki zitierte den Satz jetzt am Ende einer wirtschaftspolitischen Grundsatzrede im Parlament, um vor dem noch immer grassierenden Rassismus zu warnen. Die Opposition aber hielt dagegen: Messe Mbeki einem durchgeknallten Extremisten nicht zu viel Bedeutung bei, wenn es gleichzeitig überall im Land friedliche Kooperationen zwischen den Hautfarben gebe?
Wer hat Recht? Ist Südafrika ein Land, wo der Rassismus zwar nicht mehr in der Verfassung, aber immer noch in den Köpfen regiert? Oder ist das Land ein aufstrebender, hoffnungsvoller junger Staat, der sich zehn Jahre nach der Apartheid und nach der Arbeit der Wahrheitskommission anschickt, seine Vergangenheit zu überwinden? Anders gesagt: Ist das südafrikanische Thema Nummer eins, die enorm hohe Kriminalitätsrate, als Resultat der Geschichte zu verstehen, oder handelt es sich schlicht um Verbrechen, für die die Täter allein verantwortlich sind?
Der 1940 geborene, südafrikanische Schriftsteller J. M. Coetzee, noch nie ein Pamphletist und trotzdem der hartnäckigste afrikanische Fragensteller an den verschlungenen Frontlinien des Postkolonialismus, hat einen Roman geschrieben, der sich genau zwischen solche Stühle setzt. Wie kann man in Südafrika zusammenleben, fragt er mit solcher Wucht, dass es einem auch im guten, alten Europa den Atem verschlägt.
„Schande”, im Original 1999 veröffentlicht und mit dem Booker-Prize ausgezeichnet, bei uns soeben erschienen, ist Coetzees bestes Buch, ein zwar schmales, aber doch monumentales und erschütterndes Werk, das ganz für sich steht. Ein Buch, das zeigt, was Literatur sein kann: eine Sprache, die mehr zu sagen vermag als alle anderen. Sie werden dieses Buch nicht vergessen, denn Sie werden hier etwas erfahren, das Sie vorher nicht erfahren haben!
Inhaltlich geht es um Missbrauch und Vergewaltigung. Der 52-jährige David Lurie, Literaturprofessor in Kapstadt (wie sein Erfinder), hat etwas Abstoßendes, Kaltes – ein Lurch. Richtig rege scheint nur der Sexualtrieb, den er regelmäßig bei einer exotischen Prostituierten abkühlt. Als sie ihn meidet, drängt er einer hübschen Studentin ein Verhältnis auf, sie lässt es geschehen, zeigt ihn dann aber an. Der Mann und das Mädchen, der Präsident und die Praktikantin, der Vater und die Tochter – das alte Thema, das seit einigen Jahren als sexueller Missbrauch neue Brisanz bekommen hat. Der Text zum Thema war David Mamets „Oleanna”. Coetzee lässt ihn von Anfang an weit hinter sich.
Vor dem universitären Untersuchungsausschuss verweigert Lurie nicht das Schuldbekenntnis, aber die Reue. Daraufhin wird er entlassen und muss ohne Bezüge weiterleben. Er zieht sich zu seiner lesbischen, unattraktiven Tochter Lucy zurück, die allein und von Ackerbau und Hundepension auf dem Land lebt. Ihr Nachbar ist Petrus, ein schwarzer Bauer. Er weiß seine gerade errungene Unabhängigkeit geschickt zu festigen.
Drei Schwarze vergewaltigen Lucy, während sie Lurie im Klo eingesperrt haben, sie fackeln ihm außerdem die Haare ab und erschießen die Hunde. Das Geschehen ist eine Umkehrung des ersten Teils, jetzt ist Luries Tochter das Opfer. Das Ergebnis ist aber ähnlich: Während er in Schande lebt, ist sie geschändet. Der Jüngste der drei, fast noch ein Kind, erweist sich als ein Verwandter von Petrus. Lucy lebt also in ständiger Gefahr. Trotzdem will sie nicht fortgehen und auch niemanden anklagen. Sie glaubt den persönlichen Hass der Täter gespürt zu haben, deshalb hält sie die Vergewaltigung für eine private Angelegenheit: „Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine”, sagt sie. „Und dieser Ort wäre?”, fragt Lurie. „Dieser Ort ist Südafrika. ” Sind staatliche Institutionen für Kategorien wie Sühne tatsächlich nicht zuständig?
Lucy geht noch weiter: Sie unterstellt sich Petrus’ Schutz, nachdem sich herausstellt, dass sie schwanger geworden ist. Wie Lurie lebt Lucy (wenn auch schuldlos) jetzt also offiziell „in Schande”. Und sie rechtfertigt das. Die Vergewaltigung sieht sie als „den Preis, den man zahlen muss, um bleiben zu dürfen”. Lucy ist also bereit, das Verbrechen an ihr als Ergebnis der Geschichte ihres Landes zu begreifen.
Sie schickt sich in ein Leben „ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde”. „Wie ein Hund”, sagt Lurie. Er kämpft gegen diese Haltung und entfremdet sich darüber immer mehr von seiner Tochter, wobei auch unausgesprochene, sexuelle Komponenten der Beziehung eine Rolle spielen.
Aber auch Lurie erniedrigt sich. Der Liebhaber schöner Frauen findet eine Aufgabe im Einschläfern und Entsorgen herrenloser Hunde – er geht ihr mit fast religiöser Hingabe nach – und beginnt ein Verhältnis zur extrem unattraktiven Tierheimmutter. Doch hier bei den Hunden, in den Armen einer Frau, die er nicht begehrt, findet Lurie erstmals so etwas wie eine Antwort.
Soweit das Geschehen. Die bebende Wucht von „Schande” vermittelt sich über den Inhalt allerdings nur bedingt, die – auch politische – Bedeutung des Buches liegt auf einer anderen Ebene. Coetzee entfaltet seine Geschichte in einem einfachen, harten Idiom, das ist nackte, höchst reduzierte Prosa. Vor allem durch diese Sprache wirkt das Buch über weite Teile wie ein realistischer Roman aus einem Guss, der mit seltener Intensität sein Thema behandelt.
In früheren Romanen dagegen hat Coetzee durch postmoderne Schreibverfahren auf ein Dilemma reagiert, auf das er sich als Schriftsteller durch den Staat „gepfählt” sah: „entweder ignoriert er dessen Obszönitäten, oder er reproduziert sie”. Ist das nur die alte Gegenüberstellung von l’art pour l’art und literature engagée? Nein, denn eine Gesellschaft, die jenseits des Kolonialismus sein will, muss auch dessen Formensprache hinter sich lassen, so Coetzees Überzeugung. Die Aufsplitterung in verschiedene Metafiktionen gab für ihn in dieser Situation einerseits der Literatur ihre Eigenständigkeit, andererseits setzte er sich so von der westlichen, am Paradigma des Realismus entlangschreibenden Literatur ab. Auf diesem Weg hat Coetzee die autoritäre Position des Autors – und damit auch dessen Definitionsmacht über die Wirklichkeit, die umgekehrt immer den Reflex erzeugt, die Literatur an der Wirklichkeit zu messen – aufgegeben und ist damit einer der wichtigsten postkolonialen Romanciers geworden.
Nun aber schreibt er eine geradlinige Geschichte mit auktorialem Erzähler. Vereinfachung ist damit allerdings nur scheinbar verbunden. Denn Coetzee schafft das Kunststück, eine Geschichte einfach zu erzählen, ohne gegenüber früheren Romanen den Bedeutungsraum einzugrenzen. Und das macht den Rang seines Buches aus.
Ein einfaches Beispiel: „Vorsicht, es ist heiß”, sagt beim Abendessen die Mutter des von Lurie verführten Mädchens zu ihm. Sie meint den Teller mit Eintopf. Coetzee fährt fort: „Das sind ihre einzigen Worte an ihn. ” Damit ist nicht nur die Beziehung Luries zu der Mutter, sondern auch zu dem Mädchen definiert, der ganze Bedeutungsraum von heiß und kalt, in dem Lurie agiert, ist angesprochen.
Fast alles, was geschieht, wird in diesem Buch so zu Bruchstücken eines gigantischen Dramas, in dem alles seinen Sinn hat, den wir aber nicht kennen. Coetzee zeigt uns durch die Namen der Figuren, durch Zitate, die bis zu „König Ödipus” zurückreichen, durch Luries Plan einer Oper, durch Verdichtungen, Doppelsinn, vielfältige Anspielungen und Bezüge als Mitspieler in einer Tragödie, die seit den ersten Menschheitstagen aufgeführt wird und bis heute dauert. David Lurie verbrennt sich nicht die Finger an dem Teller, aber sein Kopf geht in Flammen auf.
Coetzee erforscht Beziehungsgesetze, die weiter zurückreichen, als wir uns träumen lassen. Der Missbrauch, die Vergewaltigung, aber auch das Verhältnis von Vater und Tochter, sind für ihn nur Extremfälle, die deutlich machen, wie wir uns verhalten. Coetzee erforscht die Gesetze von Täter und Opfer mit einer Insistenz, die an Dostojewski erinnert (über den er einen Roman geschrieben hat).
Er führt dabei nur scheinbar überkommene Kategorien wie Scham, Reue, Schuld, Sühne und eben die „Schande”, die seinem Buch den Titel gegeben hat, in den Raum der politischen Diskussion zurück. Was schändet uns, wen schänden wir? Lucy ist der Überzeugung, dass eine säkulare Gerichtsbarkeit nicht für Reue zuständig sein kann. Will Coetzee aber gerade das erreichen? Will man aus „Schande” einen Zukunftsentwurf herauslesen, dann diesen: Nur wer sich auf die Ebene von Schande und Reue, Schuld und Sühne begibt, gibt dem Zusammenleben eine Chance. Wahrscheinlicher aber ist er der Meinung, dass wir für immer aus dem Paradies ausgeschlossen sind.
Hunde sind die heimlichen Helden des Buches. Lurie kommt nicht nur, wie seine Tochter, auf den Hund, er nähert sich den Hunden auch als deren Sterbehelfer an, fast wird er am Ende einer von ihnen. „Wie ein Hund”, fragt Lurie seine Tochter. „Ja”, sagt sie, „wie ein Hund. ” Zu Anfang hatte Lurie ihr von einem Golden Retriever erzählt, der immer dann geschlagen wurde, wenn er sexuell erregt war. „Das Schändliche an dem Schauspiel war, dass der Hund anfing, seine Natur zu hassen. An diesem Punkt wäre es besser gewesen, ihn zu erschießen. ” Die neue Welt erfordert den Tod der alten, könnte man das übersetzen. „Schande” ist ein Alterswerk, weise und souverän, aber auch voller Angst vor Einsamkeit und Sterben.
PETER MICHALZIK
J. M. COETZEE: Schande. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000. 288 S. , 38 Mark. (Erscheint am 21. 2. )
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Der Schock darüber, gehasst zu werden
Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht. "Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden", lautet der ironische Kommentar ihres so liberalen wie fürsorglichen Vaters, der den Kommentar deshalb für sich behält.
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht. "Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden", lautet der ironische Kommentar ihres so liberalen wie fürsorglichen Vaters, der den Kommentar deshalb für sich behält.
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
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»Die fortwirkende Erbschaft von Hass und Rachsucht, die das formelle Ende der Apartheid noch lange überdauern wird, beschwört J. M. Coetzee in lakonischer Sprache - und mit der Bannkraft von Weltliteratur.« (Der Spiegel)